Lukas 18, 1-8

Lukas 18, 1-8

Der Glaube atmet im Beten
„Betet, ohne nachzulassen“

Not mit dem Beten?

Mit einem Gleichnis wollte Jesus nahebringen, dass man allezeit beten
müsse und darin nicht nachlassen dürfe (Lk 18,1). Am Schluss
des Gleichnisses steht die Frage: „Aber wird der Menschensohn,
wenn er kommt, auf der Erde überhaupt noch Menschen finden, die
in Treue auf ihn warten?“ (Lk 18,8). Man könnte vermuten,
dass diese Frage uns heute gestellt ist. Ihre Aktualität ist nicht
zu übersehen.

Überall begegnet uns in den Kirchen die Klage über den mangelnden
Glauben in der heutigen Zeit, in unseren Familien, bei den Jugendlichen.
Schon die Abnahme der sonntäglichen Gottesdienstbesucher mache
doch offenkundig, wie sehr der Glaube – oberflächlich vermutet
– abgenommen habe.

Ist es da erstaunlich, dass von der Not mit dem Beten und mit der Gebetssprache
die Rede ist. Manche Zeichen sprechen dafür, dass Beten für
viele Zeitgenossen und Zeitgenossinnen verdächtig geworden ist.
Beten wird von manchen zwar noch geduldet, aber als belanglos empfunden.
Die heutige Gebetsnot mag viele Ursachen haben; oft hängt sie auch
mit Gebetsenttäuschungen und mit dem Gottesbild zusammen. Wie soll
und kann man zu Gott Du sagen, den man doch nicht kennt, im Alltag nicht
erfährt und der sich ein Leben lang nicht meldet… Oft sind
es angstmachende Gottesbilder, die das Beten vergiften, z.B. ein unerbittlicher
Richter-Gott, der alles hört und sieht und ohne Gnade ahndet. Bei
einer solchen Gottesvorstellung bleibt der Mensch bei noch so grossen
religiösen Anstrengungen zahlungsunfähiger Schuldner. Die
Nähe eines solchen „Gottes“ sucht man nicht.

Beten scheint auf keiner Welle der Hochkonjunktur zu reiten… oder
eventuell doch? Ist vor allzu voreiligen negativen Klischees Vorsicht
geboten? Ist nicht nach den schrecklichen Terroranschlägen am 11.
September das gemeinsame Beten oft noch die einzige Chance zur Kommunikation,
die letzte „Möglichkeit“ gewesen. Und kürzlich sagte
mir eine Gesprächspartnerin, dass sie bete, aber „wer ist
Gott“. Gibt es also sogar das Beten ohne das, was wir leicht „festen
Glauben“ nennen? – Einerseits scheinen viele herkömmliche
Stimmen des Gebetes zu verstummen und viele traditionelle Formen abgeerntet
zu sein; anderseits gewinnen wir den Eindruck, dass heute nach anderen
Gebetsformen und -formeln sowie nach existentieller Gebetssprache gesucht
wird. Vielleicht bereitet die Frage nach dem Wie des Betens eine viel
grössere Schwierigkeit als die Frage nach dem Ob des Betens.

Lukas: der Evangelist des Gebetes

Von Lukas wird gesagt, dass er einen besonderen Schwerpunkt auf die
Diakonie, auf die soziale Seite der Reich-Gottes-Botschaft legt und
in diesem Sinn „Evangelist des Alltags“ genannt werden kann
(H.J. Venetz). – Andere wiederum erklären Lukas zum „Evangelisten
des Gebets“ (W. Ott). Liegt hier ein Widerspruch vor? Das würde
aber bedeuten, Gott und Mensch zu trennen, Gottesliebe und Menschenliebe
gegeneinander auszuspielen. Offensichtlich würde man aber Lukas
nicht gerecht, wenn man sowohl im Lukasevangelium wie in der Apostelgeschichte
das Interesse am Gebet im allgemeinen und am Beten Jesu im besonderen
übersehen wollte.

Die Worte Beten und Gebet kommen in keinem Evangelium so oft vor wie
bei Lukas. Zwei Tempel- und Gebetsszenen, am Anfang die Erscheinung
des Engels bei einer Tempelliturgie (Lk 1,5-25) und am Ende der Lobpreis
der Jünger im Tempel nach der Himmelfahrt Jesu (Lk 24,52f) rahmen
das Lukasevangelium ein. Vier Hymnen, die als fester Bestandteil in
die kirchliche Liturgie eingegangen sind, entstammen allesamt den beiden
ersten Kapiteln des dritten Evangeliums; es handelt sich dabei um das
Magnificat (Lk 1,46-55), das Benedictus (Lk 1,68-79), das Gloria in
excelsis (Lk 2,14) und das Nunc dimittis (Lk 2,29-32). Aussagen über
die Gebetspraxis in den Gemeinden wie auch über das Gebet einzelner
finden sich in der Apostelgeschichte (L. Feldkämper).

In diesem gesamten Horizont sind nun die Gebetsermahnungen zu sehen,
die wir im Lukasevangelium finden: das Gleichnis von dem um Mitternacht
gebetenen Freund (Lk 11,5-8), vom Pharisäer und Zöllner (Lk
18,9-14) und das Gleichnis vom Richter und der Witwe – verbunden mit
der Aufforderung zu ständigem Gebet (Lk 18,1-8).

Wem vertrauen: unserer Gebetsleistung oder Gott?

Der Evangelist spricht diese Worte und das Gleichnis in eine Situation
der Gemeinde, die Mühe damit hat, dass sich die Wiederkunft Jesu
Christi und damit die Erfüllung der Verheissungen verzögern
und die in ihrem Eifer zu erlahmen droht. Es gab Verfolgungen und Drangsal
sowie die Versuchung zum Abfall. Auf den Lippen brennt dann die Frage:
Wie lange noch? Das Gleichnis vom gottlosen Richter zeigt Gott als Autorität,
die auf Bitten reagiert. Daher brauchen die Glaubenden nicht an Gott
und seiner Hilfe zu zweifeln, wenn sie inständig „Tag und
Nacht zu ihm schreien“ (Lk 18,7). Gott wird ihnen zu ihrem Recht
verhelfen, sie „rechtfertigen“ und zwar ohne zu zögern.
Doch sollte der Menschensohn bei seinem Kommen die Gemeinden betend
und glaubend, d.h. ihm vertrauend und ihren Glauben bezeugend vorfinden.
Der springende Punkt des Gleichnisses ist nicht zuerst die Beharrlichkeit
des Bittens, d.h. die Leistung des Menschen, sondern die Gewissheit
der Erhörung, das Vertrauen in die Verheissung, d.h. die Vor-Leistung
Gottes.

Ist das Leben nicht ohnehin von Vor-Leistungen oder oft von deren Fehlen
geprägt und gestaltet? Empfangen wir das Leben nicht durch die
„stellvertretenden“ Vorleistungen der Eltern, der Familie,
der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates, der anderen Kulturen
und Länder, der Pfarreien und der Kirche… und letztlich von
Gott? „Betet ohne Unterlass“ meint somit keine ununterbrochene
Setzung von Gebetsakten, die erschöpfen und ermüden. Vielmehr
geht es um eine Beharrlichkeit als Wachsamkeit und Aufmerksamkeit im
Beten, worin der Mensch sich selber findet und sich öffnet und
befreit auf die Mitwelt und die Umwelt hin – aber im Vertrauen darauf,
dass er nicht selber Gott spielen und sein muss, sondern dass die rettende
Tat Gottes kommt. Das Kommen Gottes ist der Gebetshorizont, nicht die
erwartete Erfüllung unserer Bittgebete. Gott ist kein Lückenbüsser,
der ständig auf wunderbare Weise in den Gang dieser Welt und unserer
Welt- und Lebensgeschichte eingreift. Im Zentrum steht der Glaube als
Vertrauen in Gottes rettende Ankunft im Leben der Menschen.

Im Blick auf das konkrete Leben

Gott ist somit kein wundersamer Automat, der alle Probleme dieser
Welt und unseres Lebens auf wunderbare Weise löst. Er erfüllt
nicht alle unsere Wünsche; er nimmt uns nicht unsere Verantwortung
und Entscheidungen für die Innenarchitektur der Welt ab.

Wie ist aber zu verstehen, wenn uns im heutigen Evangeliumstext die
Worte zugesprochen werden: „Wird Gott nicht erst recht seinen Erwählten
zu ihrem Recht verhelfen, wenn sie Tag und Nacht zu ihm schreien? Wird
er sie etwa lange warten lassen?“ (Lk 18,7). Wird hier nicht mehr
versprochen, als gehalten werden kann? Tatsache ist und bleibt, dass
unendlich viele Menschen aus tiefstem Elend, in Not und Verzweiflung
zu Gott geschrien haben und sein Antlitz suchen. Wer könnte nicht
aus eigener Erfahrung davon berichten? Aber ebenso ist Tatsache, dass
Gott scheinbar nicht im erwarteten Sinn Erhörung gewährte.
Es ist somit ein Umdenken gefordert.

Wir werden selber mit dem Leid in der Welt und mit den begrenzten eigenen
Möglichkeiten, auch mit dem Scheitern „zurecht“ kommen
müssen. Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes in Friede, Gerechtigkeit
und Liebe ist unsere eigene Aufgabe geworden. Die Frage ist dabei, ob
wir bei unserem Suchen und Handeln, in unserem Engagement in guten und
in bösen Tagen mit dem Kommen Gottes rechnen, ob wir darauf vertrauen,
dass – bei allem Widerspruch der Realitäten „Gott uns Recht
verschaffen wird“. Dies offenbart sich dort und kann sich nur dann
zeigen, wenn wir mit uns, mit unserem Leben und den Realitäten
des Lebens rechnen. Verstehen wir in diesem Horizont des Vertrauens
und der Hoffnung, dass die Geschichte Ort, wenn auch verhüllender
Ort des Kommens Gottes ist, seiner Nähe und seiner schon immer
zuvorgekommenen Liebe – gegen den Verdacht seiner entrückten Ferne
und gegen den Verdacht der unerbittlichen Macht der Realitäten?
Die „Unverschämtheit“ einer solchen Zuversicht und eines
solch grossen Vertrauens bedarf der Ausdauer, des stets neuen Aufbruchs
und der hartnäckigen Treue, um das Kommen Gottes – gegen den Augenschein
der alltäglichen Realitäten – zu bitten und darin nicht nachzulassen.
Diese Treue ist geradezu ein „Test“, ein Zeichen für
den Glauben.

Beten ohne Unterlass?

Hat somit das bettelnde und flehende Bitt-Gebet keinen Sinn mehr? Es
kommt darauf an, was darunter verstanden wird.

Für viele Menschen ist das Bittgebet sozusagen die Urform des
Betens. Von Fürbitten und Bittgebeten ist die Liturgie geradezu
üppig voll. Die Kirche, vor allem in der orthodoxen und katholischen
Tradition, hat den sog. „weltlichen“ Sorgen der Menschen Rechnung
getragen mit ihren Bittgebeten bei Hunger und Kriegsgefahr, bei Unwetter
und Seuchen, bei Erdbeben und Katastrophen, bei Krankheiten und Nöten
aller Art. Daraus sind Fürbitten, Prozessionen, Bittgänge,
Wettersegen, Votivmessen, Litaneien und Andachten usw. entstanden.

Aber gerade mit diesem Verständnis von Bitten haben viele Menschen
auch Mühe bekommen. Und doch hat sich Jesus selber als Bittender
verstanden. Bei ihm können wir auch lernen, worauf es ankommt.

„Jesus bittet mit der ganzen Innigkeit, deren ein Sohn seinem
Vater gegenüber fähig ist. Mit bittenden Händen empfängt
er sich, seine Sendung, sein Leben, seinen Willen, seine Stunde aus
der Hand des Vaters. Es gibt nichts, worüber er sozusagen autonom
verfügen würde. Alles, was er ist, hat und tut, erbittet er
in höchst freiwilligem Gehorsam von seinem Vater. Solches Bitten
öffnet und hält offen für den je grösseren Gott
und Vater. In ihm kommt der Mensch zu sich selbst und vor Gott. Kaum
irgendwo ist der Mensch so sehr er selber wie im Bitten“ (Ch. Schütz,
Gebet, in: ders., Hrsg., Praktisches Lexikon der Spiritualität,
Freiburg 1992, 442). Auch Jesus rang in von Todesangst gezeichneter
Not mit Gott: „Abba, Vater, dir ist alles möglich. Nimm diesen
Kelch von mir“ (Mk 14,36). Aber Gott kam nicht. Er schwieg. Er
griff nicht ein. Jesu wurde nichts an bitterster Erfahrung und Gottverlassenheit
geschenkt. Jesus ringt indessen um den Willen Gottes und lässt
sich total auf Gott ein: „Aber nicht, was ich will, sondern was
du willst, soll geschehen“ (Mk 14,36).

Damit ist das Entscheidende angedeutet. Der bedrängte und drangsalierte
Mensch nimmt seine Situation zum Anlass, seine Not und damit sich selbst
mit Gott in Beziehung zu setzen. Gott ist dann nicht Mittel zum Zweck,
sondern Gegenüber, mit dem ich rechne und auf den Vertrauen gesetzt
wird. Insofern ist auch das Bittgebet Ausdruck der grossen und uns von
Gott erfüllten Hoffnung und Liebe und dadurch Gebet in der Tiefe
des Wortes.

Prof. Dr. Leo Karrer
Departement für Praktische Theologische Fakultät
Universität Freiburg i. Ue.
Miséricorde
CH – 1700 Fribourg
E-Mail: Leo.Karrer@unifr.ch

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