Exodus 32, 7-14

Exodus 32, 7-14

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Rogate (5. Sonntag
nach Ostern), 5. Mai 2002
Predigt über 2. Mose 32, 7-14, verfaßt von Charlotte Hoenen


Liebe Gemeinde!

Im Gebet mit Gott zu reden – das ist ein großer Reichtum. An Gott
als Gegenüber wenden sich Menschen im Glauben mit ihren äußeren
und inneren Verletzungen, mit ihrer Erschütterung und Trauer, in
Betroffenheit und Ratlosigkeit. Klage und Schreien finden im Gebet Worte,
sie werden zu Signalen für die anderen. Zugleich sollen sie dazu
dienen, das innere Gleichgewicht wieder zu finden und Hilfe von Gott zu
erhoffen.

Wir stehen nach der vergangenen Woche heute unter dem Eindruck der Bluttat
des Jugendlichen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vom 26. April, dem Tag
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wieder, wie in letzter Zeit so
oft, haben viele Menschen Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet
sich in Gottesdiensten zum Beten versammelt – Gläubige und Nicht-Gläubige,
aber Fragende und Suchende. Antworten, vor allem schnelle oder einfache
Antworten, sind nicht zu bekommen, aber: Wenn wir nicht beten können,
weil die eigene Kraft verschüttet ist, merken wir die große
Leere in uns und um uns. Vielleicht wird sogar auch derjenige, dem Gott
bisher unbekannt geblieben ist, sich in der Not auf die Suche nach diesem
rätselvollen Gott begeben und ein Zeichen der Hilfe von ihm erwarten.
Besonders seit der Wendezeit 1989 gibt es Erfahrungen von dem, was Gebete
bewirken können. Die „Revolution der Kerzen“ hat einen
großen Anteil an der friedlichen Veränderung der Verhältnisse,
am Sieg über die Anwendung von Macht und Gewalt. Beispiele dafür
gibt es auch weltweit, wie bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika,
aber noch nicht überall, wo sie nötig wären, wie in den
Konfliktherden des Nahen Ostens und Asiens.
Klage und Fürbitte vor Gott – sie fordern Zeit, Anspannung und Kraft
– ja intensivste innere Arbeit.

Ist die Not vorbei – dann bricht oft das Gespräch mit Gott ab. Eine
junge Mutter erzählte mir im Rückblick auf die Erfahrungen bei
der Geburt ihres Kindes: „Während der Wehen habe ich gerufen:
Lieber Gott, hilf mir! Als das Kind geboren war, alles überstanden
war und das Kind in meinen Armen lag, bin ich nicht einmal auf die Idee
gekommen, Gott zu danken.“ Ist das dunkle Tal durchschritten und
die Not vergessen, ist keine Zeit mehr für das Gespräch mit
Gott. Aber was wären das für Gespräche ohne die Mitteilung
von Freude und Dank, Gott gegenüber in der Sprache des Lobens und
der Anbetung. Die jüdisch-christliche Tradition hat in ihren Psalmen,
Liedern und Gebeten sowohl der Klage wie dem Lob gegenüber Gott immer
wieder Sprache geben können.

Der Predigttext ist für diesen Sonntag vorgeschlagen, weil er von
einer unglaublichen Kraft des Betens erzählt. Er steht 2. Mose 32
im Zusammenhang des Auszugs Israels aus Ägypten.
Mose war von Gott beauftragt, das Volk aus der Sklaverei in Ägypten
in die Freiheit zu führen, in ein noch unbekanntes Land. Auf der
unwegsamen Wüstenwanderung, auf der die Ziele immer weiter weg zu
rücken schienen, musste Mose in Konflikte geraten und angefragt werden:
Auf der einen Seite der Auftrag Gottes, den er zu vermitteln hatte – auf
der anderen Hunger und Durst des Volkes, Murren und Protest. Nicht nur
einmal wird vom Gebetskampf des Mose um die Gewißheit berichtet:
Um der Freiheit willen lohnen sich Verzicht und Strapazen. Der unsichtbare
Gott ist mit uns und führt uns ans Ziel in das verheißene Land.

In die Auszugsgeschichte Israels ist die „Sinaitradition“ eingebettet:
der Bundesschluss Gottes mit seinem Volk und der Übergabe der zehn
Worte, nach denen das Leben geregelt werden soll. Um die Gebote Gottes
in Empfang zu nehmen, muss sich der Vermittler Mose von seinem Volk trennen,
muss er allein auf den Berg, der ihn verbirgt, weil er Gott begegnet.
Die Zeit seiner Abwesenheit wurde lang. Für das Volk am Fuß
des Berges war die Leitfigur, der Ansprechpartner und der Verantwortliche
verschwunden. Ob er überhaupt noch am Leben war? Diese Unsicherheit
wurde unerträglich. Wie kann man sie überwinden? „Wir machen
uns Gott sichtbar. Wir können das selbst“, so sprachen sie.
Da wurde aus den mitgeführten Schätzen schnell ein Bild gemacht,
ein sichtbarer Gott, den man nun anbeten und feiern konnte. Aaron, der
Vertreter der priesterlichen Macht und des religiösen Kultes, hatte
dem nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil: er wurde zum Handlanger des
Volkes, der zu Opfer und Freudenfest aufruft: „Wir haben es geschafft,
wir haben Gott selbst gemacht. An dem, was wir sehen, können wir
uns wieder ausrichten!“

Während das Volk unten in der Ebene feiert, redet Gott in der Höhe
mit Mose.
Damit setzt der folgende Predigttext 2. Mose 32, 7-14 ein:
„V. 7: Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein
Volk, das du aus Ägypten geführt hast, hat schändlich gehandelt.
V.8: Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe.
Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben`s angebetet und ihm
geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland
geführt hat.
V. 9: Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges
Volk ist.
V. 10: Und nun laß mich, dass mein Zorn über sie entbrenne
und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen.
V. 11: Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott, und sprach: Ach, Herr,
warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer
Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast?
V. 12: Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück
herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte
sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und laß
dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst.
V. 13: Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei
dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen
mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen
habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für
ewig.
V. 14: Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“

(1) Anlass des Betens: Gottes Entschlüsse
Da steht also Mose allein vor Gott, verlassen von seinem Volk, das er
führen sollte. Er steht dem Gott gegenüber, der vor Zorn brennt,
weil dieses Volk sich von Gott abwandte, weil es ihn, Mose, nur eine kurze
Zeit nicht sah, deshalb verging es sich gegen das Bilderverbot. Keine
Macht der Welt konnte es von seinem Vorhaben abbringen, hartnäckig
ist das Volk geworden, halsstarrig – sagt Gott. Mit steifem Nacken starren
sie auf das selbstgemachte Bild, das sie für Gott halten und von
dem sie ausgerechnet Orientierung in der Wüste erwarten. Gottes Beschluss
ist unausweichlich: Mit diesem Volk ist es aus, Ende, Schluss! Dieses
Volk ist nicht mehr Gottes Volk, darum wird es vom Erdboden vertilgt.
Doch Gottes Geschichte soll damit nicht zu Ende sein, mit Mose soll ein
neuer Anfang gemacht werden. Gott bietet Mose an: Ich will dich zum großen
Volk machen! Eine besondere Ehre, eine Anerkennung und Auszeichnung für
Mose! Es klingt wie eine Versuchung, die Versuchung zur Macht, zur Berühmtheit,
zum „Eingehen in die Geschichte“. Doch Mose lässt sich
sogar von Gott nicht verführen! Er lehnt ab, geht mit keinem Wort
darauf ein. Er hat anderes im Sinn: Der Entschluss Gottes mit seinem Volk
darf auf keinen Fall Wirklichkeit werden. – Stellen wir uns heute einen
Augenblick vor, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre ohne dieses
Volk Gottes? –

(2) Die Kraft des Betens: Gott umstimmen!
Mose gibt sich nicht vor Gott geschlagen, sondern lässt sich darauf
ein, mit ihm zu ringen: Das wäre nicht das erste Mal: damals war
es Jakob, der seine körperlichen Kräfte einsetzte und so einer
der Väter des Volkes wurde: „Israel – der mit Gott gekämpft
hat“ (1. Mose 32, 29). Für Mose geht es um die Kraft der Worte,
die ihre Kraft gerade aus dem Vertrauen auf Gott selbst schöpfen!
Das Vertrauen setzt nicht auf den erbarmungslosen Zorn, sondern auf gnädige
Zuwendung, die Böses zum Guten wenden kann. Beten ist offensichtlich
das Streiten mit Gott – um Gottes Geltung, darum müssen wir Menschen
auch mit Gott selbst ringen.

Es sind zwei Argumente, die Mose vorbringt: Was sollen die anderen Völker,
vor allem die Ägypter sagen, wenn Gott das eigene Volk umbringt,
das er zuvor mit höchstem Einsatz befreit hat? Würde er sich
damit nicht selbst unglaubwürdig machen, seine Ehre vor den Völkern
aufs Spiel setzen? Durch die geglückte Flucht aus der Sklaverei hat
der Gott Israels sich Ansehen bei den Ägyptern erworben. Wenn dieses
Glück für Israel in Unglück gekehrt würde, wäre
nicht jeder Glaube, jede Einsicht in das Wirken Gottes verloren? Der Unglaube
würde verstärkt, der sich bei jedem Unglück bis zur Gegenwart
immer wieder ausspricht: „An einen Gott, der das zulässt, kann
ich nicht glauben“. Dennoch ist das Argument nicht stark: Sollte
Gott wirklich eine Rechtfertigung auf Grund des Bösen nötig
haben? Bringt nicht das eigene Verschulden der Menschen sie selbst ins
Unglück, missbrauchen sie nicht ihre Freiheit, indem sie sich nicht
an Gottes Gebot halten?

Es muss noch ein weiteres Argument dazutreten: Gott muss bei seinem eigenen
Wort und Willen behaftet werden: Deshalb erinnert Mose Gott an die früher
gegebenen Verheißungen: an Israels Väter Abraham, Isaak und
Israel. Sie sollen doch ein großes Volk werden. Sie sollen ein Land
erben, das ihnen bis in Ewigkeit gehören soll.

Weil Mose sich an Gottes eigene Verheißung hält und auf sein
Wort verlässt, kann er für sein Volk bitten, vor Gott beten
um seine Rettung, sein Weiterleben. Nicht allein die bisher gemachten
Erfahrungen sind Ausgangspunkt für seine Fürbitte, da gäbe
es ja auch genug negative Erfahrungen, in denen Gott anders gehandelt
hat, als Mose es wollte. Nein, Mose verlässt sich auf die ganz einseitige
Zusage der Lebensverheißungen Gottes. Dieses Vertrauen, dieser Glaube
stimmt Gott um! Gott lässt sich durch das Gebet des Menschen Mose
zur Umkehr bewegen vom Zorn zur Gnade. Gott gereut etwas, er revidiert
seinen ersten Entschluss! So menschlich nahe rückt uns Gott, dessen
Handeln uns oft unbegreiflich erscheint, und er macht uns vor, was uns
als Schwäche ausgelegt wird: Um des Lebens und der Wahrheit willen
auch von gefaßten Entschlüssen zurückzutreten. Das Volk
Israel erhielt die Chance zum Weiterleben. Menschen erhalten die Chance,
Gottes Angebot zum Leben zu suchen und so die Gegenwart des unsichtbaren
Gottes wahrzunehmen.

(3) Der Sinn des Betens: Mit Gott ringen und die Welt verändern
Im Blick auf diese Geschichte ist es für uns ermutigend: Es lohnt
sich, mit Gott zu ringen. Ein einzelner hat durch seine Fürbitte
das Leben seines ganzen Volkes gerettet. Auch wir können alles, was
uns beschwert vor Gott bringen für uns, für andere und für
unser Volk und unsere Welt im Vertrauen auf sein lebenschaffendes Wort.
Nicht jede Bitte und Fürbitte werden erhört. Das besagt unsere
Erfahrung. „Ich habe so gebetet, aber es hat nichts genützt!“
Aber nicht unsere vergangenen positiven oder negativen Erfahrungen sind
Ausgangspunkt für unser Beten, sondern Gott selbst.

Was ist das für ein Gott, der sich von Menschen beeinflussen läßt?
Er ist nicht unbeweglich und starr, kein unbekanntes Es oder das unabwendbare
Schicksal. Das Beispiel des Mose zeigt, dass er ein lebendiger Gott ist,
der mit jedem Menschen in einer lebendigen Beziehung steht, der das sucht
und will. So wie Menschen sich durch das Bitten anderer bewegen lassen,
etwas zu tun oder nicht zu tun, so ist es auch bei Gott. Trotz festgelegter
Vorgaben für menschliches Leben läßt er sich durch Bitten
und Fürbitten bewegen, das Leben über das Zerstörerische
siegen zu lassen. Da Gott Heil und Leben für uns will und das durch
Jesus Christus in die Tat umgesetzt hat, können wir ihn daran erinnern.
Das Schwierige für uns ist allerdings, dass wir dieses Tun Gottes
nicht an der Geschichte ablesen können, nicht in unserem Handeln
vorfinden. Gegenüber dem ersten Argument von Mose müssen wir
erkennen, dass wir uns den Weg zum Leben oft selbst verbauen – mit unseren
egoistischen Wünschen, mit unseren Machtstrukturen, die wir erhalten
wollen.

Ich kehre an den Anfang zurück. Der Einwand gegen das Beten, im
gewöhnlichen Alltag gäbe es keine Zeit, entspricht zwar der
hektischen Realität unseres Alltags. Dagegen steht aber: Unser Reden
mit Gott ist an keine Zeit und keinen Ort gebunden. Es gibt viele Gelegenheiten
des Wartens – im Stau, an der Kasse im Supermarkt und wenn der Körper
sagt: jetzt mach mal Pause. Da gibt es Zeit zum Nach-Denken vor Gott über
Ereignisse und Erlebnisse und die Gedanken in Worte zu fassen an Gottes
Adresse.

„Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat.
Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat“ – so
sagte es Jochen Klepper in dem Mittagslied „Der Tag ist seiner Höhe
nah“ (EG 457, 11).

Erst recht können Menschen, die wie ich im Ruhestand leben und nicht
mehr in den Arbeitsprozess eingespannt sind, die wichtige Arbeit der Fürbitte
für andere Menschen übernehmen. Hier ist Zeit, auch über
Monate hin beharrlich Anliegen vorzubringen und durchzuhalten in der Hoffnung,
dass das Beten seine erstaunliche Kraft und Wirkung entfalten kann. Dieses
Ringen mit Gott ist eine Bereicherung des Lebens, an dem wir teilhaben
können, auch wenn wir uns ohne Arbeitsstelle vom Klima der Gesellschaft
her im „Aus“ befinden.

Dann können sich Klage und Fürbitte sogar in Dank und Lob verwandeln
für die erfahrene Veränderung und Hilfe und die Freude über
Gott zum Ausdruck bringen, dass er sich als gegenwärtig und lebendig
erweist. Als Betende können wir auch heute einstimmen in die Worte
des Sängers aus dem 16. Jahrhundert: „Wenn wir dich haben, kann
uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod; du hast´s in
Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not. Drum
wir dich ehren, dein Lob vermehren mit hellem Schalle, freuen uns alle
zu dieser Stunde. Halleluja. Wir jubilieren und triumphieren, lieben und
loben dein Macht dort droben mit Herz und Munde. Halleluja. (EG 398, 2).

Amen.

Charlotte Hoenen, Superintendentin i.R.
Am Hasengarten 14a, 06120 Lieskau

 

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