Exodus 34, 29-35

Exodus 34, 29-35

Gott beruft Narzissten nicht | Letzter So. n. Epiphanias | Ex 34, 29-35 | von Dörte Gebhard |

Lesung: Ex 3, 1-14 Die Berufung des Mose

Gnade sei mit euch, von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde

Bildrechte: Rudolf Gebhard Privat

Mose ist in und mit der biblischen Überlieferung übergross geworden, viel grösser, als ein Mensch von sich aus werden kann.

Michelangelo schuf seinen Mose ebenso übergross. 2.35 m ist diese Skulptur in Rom, in der Kirche St. Pietro in Vincoli, hoch. Man fühlt sich, steht man unmittelbar davor, schon vor dem sitzenden Mose klein und unbedeutend. Schon die blosse Vorstellung, dieser furchteinflössende Kraftprotz könnte gleich aufstehen und dazu noch die Gesetzestafeln in die Höhe halten, «erschlägt» einen.

Aber Mose sitzt zum Glück seit einigen Jahrhunderten still und wird auch heute und morgen dort bleiben. Der Mann streicht sich seit etwas mehr als 500 Jahren den langen Bart, schaut stirnrunzelnd in die Weite und hat die Gesetzestafeln dabei. Die zwei akkuraten Steinplatten hat er ziemlich lässig unter seinen starken Arm geklemmt.

Bart und Blick lenken die Augen zuerst hinauf zu seinen Hörnern. Diese Hörner auf dem Kopf sind nicht teuflisch, sondern ein kleiner Übersetzungsfehler in der lateinischen Bibel. Statt von einem strahlenden Gesicht las man dort fälschlich von Gehörntheit. Aber steht man einem solchen Giganten gegenüber, kommt es auf die Hörner auch nicht mehr an.

Mose ist in der biblischen Überlieferung übergross geworden. Aber welch ein Charakter steckt dahinter? Welch ein Mensch wird gezeigt? Das ist trotz aller Überhöhungen immer noch gut zu erkennen.

I

Mose ist einer, der auf keinen Fall gross rauskommen will. Niemals hätte er sich um diese Stelle beworben. Aber «Anführer, weg aus Ägypten» war auch nirgends ausgeschrieben. Gott wählt, Gott ruft ihn direkt.

Seine Berufung versucht Mose mit allen Mitteln zu verhindern, die einem Menschen nur zu Verfügung stehen. Er ist stur, Gott muss ihn mehrmals auffordern, ehe er seinen Auftrag annimmt.

Wir haben es in der Lesung gehört, wie Mose daraufhin zu Gott sprach:

Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten? (Ex 3, 11)

Weisst Du eigentlich, Gott, wen Du vor Dir hast? Nur eines von deinen Geschöpfen, mit seinen begrenzten Möglichkeiten, mit seinem Versagen.

Aber auch Gott bleibt stur. Mose ist mit seinen Einwänden noch lange nicht fertig. Mir ist das sympathisch.

Mose antwortete und sprach: Siehe, sie werden mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern werden sagen: Der HERR ist dir nicht erschienen. (Ex 4, 1)

Mose ist vollkommen realistisch und von gesunder Skepsis durchdrungen. Sie werden mir nicht glauben, heisst so viel wie: Käme so einer zu mir, würde ich dem auch nicht glauben. Niemals! Dass einem Gott erschienen sei, kann jeder behaupten. Damals schon und heute noch.

Aber Gott bleibt stur; ich sagte es schon.

Mose aber sprach zu dem HERRN: Ach, mein Herr, ich bin von jeher nicht beredt gewesen, auch jetzt nicht, seitdem du mit deinem Knecht redest; denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. (Ex 4, 10)

Gott erlaubt es Mose zwar nicht, an seiner Schöpfung irgendwie herumzunörgeln, aber er widerspricht Mose auch nicht, als der von seinem nicht vorhandenen Redetalent anfängt. Offenbar weiss Gott, was Mose meint und hat es eben wieder gehört.

Aber Gott bleibt stur; ich sagte es schon.

Nach dem dritten Einwand gehen Mose doch allmählich die Argumente aus. Was bleibt ihm übrig? Er wird drei Verse und drei Minuten später frech:

Mose aber sprach: Ach, mein Herr, sende, wen du senden willst.

Mach doch, was du willst, aber lass mich in Ruhe.

Aber Gott bleibt stur; ich sagte es schon. Mose wird doch berufen und Aaron als Sprachrohr an seine Seite gestellt. (Ex 4, 14ff)

II

Mose ist zweitens einer, der wirklich Grosses, der Gott nicht einmal von weitem sehen kann.

Gott gebietet ihm, vor dem brennenden Dornbusch die Schuhe auszuziehen. Ob er das gemacht hat? Wer weiss! Aber Mose tut etwas anderes: Er verhüllte sein Angesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. (Ex 3, 6)

Später überlegt er es sich anders und will es doch: Gott von Angesicht zu Angesicht ansehen. Aber er muss in eine Felsspalte stehen und Gott geht hinter ihm vorbei. Du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. (Ex 33, 23)

III

Was Mose für ein besonderer Anführer ist, wird aber drittens noch deutlicher, wenn man ihn mit «grossen» Männern vergangener und gegenwärtiger Zeiten vergleicht.

Ludwig XIV., der Sonnenkönig, hat zu seinem Verständnis von Führung zweierlei festgestellt, das überliefert wurde: «Lassen Sie sich niemals von einem anderen beherrschen, ganz besonders nicht von einer Frau.» Und: «Ich bin der Staat.» Zu erklären oder hinzuzufügen ist nichts.

Kaiser Wilhelm II. war ganz auf dieser Linie und kannte auch die eine Ursache aller Probleme: «Meine Untertanen sollten einfach tun, was ich ihnen sage, aber meine Untertanen wollen selber denken, und daraus entstehen alle Schwierigkeiten.»

Nun haben wir diese beiden Herrschaften schon eine Weile hinter uns, aber die aktuellen Zeitgenossen sind nicht besser.

Silvio Berlusconi, der nun doch nicht mehr kandidierte für das Staatspräsidentenamt in Italien, sagte einst: «Mit mir kann sich keiner vergleichen, nicht in Europa und nicht in der Welt.»

Diese sehr spezielle Form von Selbstbewusstsein betrifft bei weitem nicht nur Politiker, sondern auch Künstler und Literaten. Es sind durchaus begabte Menschen, das muss betont werden.

Salvadore Dalí war mehr als nur ein wenig von selbst überzeugt, als er sagte: «Ich bin der einzige Künstler, den die Natur kopiert.» Und: «Jeden Morgen, wenn ich erwache, erlebe ich die allergrößte Freude: nämlich die, Salvadore Dalí zu sein!»

In der Seele verwandt war ihm Oscar Wilde: «Mein Leben ist das wahre Kunstwerk und die Literatur, die ich verfasst habe, nur ein Hauch meines Talents.»[1]

Jetzt höre ich auf mit solchen Zitaten! Die Liste ist sehr leicht zu verlängern. Auf sie gehören Putin und Erdogan, Ronaldo und – damit auch eine Frau genannt ist – Coco Chanel, Steve Jobs und Josef Blatter, manche Namen mag ich nicht nennen … Aber im Verhältnis zur Weltbevölkerung sind es dann doch sehr wenige so ausgeprägte Narzissten wie die zitierten.

Narzissten nennt man Menschen mit unbeschränkter Selbstliebe und Selbstbewunderung, die sich für wesentlich wichtiger, wertvoller und bedeutender halten als sie es in Wirklichkeit sind. Die sich selbst für toller halten als andere. Narzissmus kann krankhaft und behandlungsbedürftig werden; allerdings haben die wenigsten unter ihnen «Krankheitseinsicht», wie es bei den Psychologen heisst.

Mose, das wurde schon bei seiner Berufung deutlich, ist in jeder Hinsicht das Gegenteil. Bei vielen passenden Gelegenheiten wird neu davon erzählt.

Ich lese dazu den Predigttext aus dem Buch Exodus im 34. Kapitel: 

29 Als Mose vom Berg Sinai herabstieg – und Mose hatte die beiden Tafeln des Zeugnisses in der Hand, als er vom Berg herabstieg -, da wusste Mose nicht, dass die Haut seines Gesichts strahlend geworden war, während er mit ihm redete. 30 Aaron aber und alle Israeliten erblickten Mose, und sieh, die Haut seines Gesichts strahlte. Da fürchteten sie sich davor, ihm nahe zu kommen.

 31 Mose aber rief sie herbei, und Aaron und alle Fürsten in der Gemeinde wandten sich ihm wieder zu, und Mose redete zu ihnen. 

32 Danach traten alle Israeliten heran, und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm auf dem Berg Sinai geredet hatte. 33 Dann hörte Mose auf, mit ihnen zu reden, und legte eine Hülle über sein Gesicht. 34 Wenn nun Mose hineinging vor den Herrn, um mit ihm zu reden, legte er die Hülle ab, bis er wieder heraustrat. Dann trat er heraus und redete zu den Israeliten, was ihm befohlen war. 35 Und die Israeliten sahen das Gesicht des Mose, wie die Haut von Moses Gesicht strahlte, und Mose legte die Hülle über sein Gesicht, bis er wieder hineinging, um mit ihm zu reden.

Immer, wenn die gesellschaftspolitische Lage nach einem selbstbewussten Typen zu schreien scheint, wird nach Gottes Willen vom Gegenteil erzählt – bis ins Detail.

Mose bemerkt zuerst gar nicht, dass sein Gesicht strahlend geworden war. Ein Narzisst hätte wahrscheinlich von sich behauptet, dass sein Gesicht strahlt, ohne dass es auch nur ansatzweise der Fall gewesen wäre.

Mose ist feinfühlig, spürt das Zurückweichen der Israeliten, merkt, wie sie zurückzucken bei seinem Kommen.

Mose entscheidet sodann alltagspraktisch, er hinterfragt das Leuchten nicht, sondern verhüllt darauf sein Gesicht ohne Murren. Wir können seit zwei Jahren endlich mitreden: Sich das Gesicht zu verhüllen ist eine echte Tat, alles andere als selbstverständlich.

Er verhüllt sein Gesicht … mit einer «Decke», so hatte Luther übersetzt. In der Zürcher Bibel heisst es «Hülle».

Michelangelo stellt sich auch keine kleine, luftige OP-Maske oder etwas im Format einer FFP2-Maske vor, sondern ziemlich viel Stoff. Mose hat seine «Hülle» über dem rechten Knie, als er nach den Israeliten schaut.

Mir ist aufgefallen, wie ungeschickt Mose zuerst noch mit seiner Schutzhülle ist. Er redet erst ohne zu den Israeliten und setzt sie danach auf. Erst später gewöhnt er sich an, sie bei Gott abzusetzen und bei den Leuten aufzusetzen. Er möchte niemanden blenden, denn es ist nicht sein Glanz, sondern jener Gottes. Früher, bei seiner Berufung, war es übrigens umgekehrt. Er lebte unverhüllt unter den Menschen und bedeckte sein Angesicht bei seiner Begegnung mit Gott.

Das wirft ein grelles, blendendes Licht auf unsere Zeiten. Haben wir nicht Sehnsucht nach solchen Anführern wie Mose? Nehmen nicht Egozentriker und Selbstinszenierer aller Art bedrohlich überhand? Es wurde sogar schon mit vielen Gründen vermutet, wir müssten jetzt überhaupt im Zeitalter des Narzissmus leben.

Narzissten drängen tendenziell eher in Führungspositionen als solche wie Mose, aber erfolgreicher als Normalsterbliche sind sie nicht. Das hat eine Analyse von 4100 Führungspersönlichkeiten gezeigt.[2]

Nur ca. 1% einer jeweiligen Bevölkerung leidet unter einer narzisstischen Störung, soweit man das wirklich genau ermitteln kann. Nur ‘gefühlt’ mögen es – schon immer – viel mehr gewesen sein.

Gott braucht Menschen, die vorausgehen, aber er beruft grundsätzlich keine Narzissten. Sie taugen offensichtlich nicht zum Vorangehen in schwierigen Zeiten und Gegenden wie Wüsten. Auch die späteren Propheten sind nie narzisstisch. Das gilt auch für das Neue Testament, z.B. ist Paulus kein Narzisst.

Gott ist stur; ich sagte es schon.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 —

Predigt am 30. 1. 2022 über Ex 34, 29-35 „Gott beruft Narzissten nicht“ in der Reformierten Kirche in Schöftland/Schweiz um 9.30 Uhr

Pfarrerin Dörte Gebhard

 Bildnachweis: Privatfoto Rudolf Gebhard

[1] Quelle aller Zitate berühmter Narzissten: https://umgang-mit-narzissten.de/beruehmte-narzissten/#Bio1, abgerufen am 24. 1. 2022.

[2] Quelle: Prof. Dr. Torsten Biemann, Lehrstuhl für Personalmanagement und Führung an der Uni Mannheim, in:  https://www.haufe.de/personal/hr-management/pq-state-of-the-art-narzissmus-und-fuehrung_80_514874.html, abgerufen am 24. 1. 2022.

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