Ezechiel 37,1-14

Ezechiel 37,1-14

Der zweite Tag | Karsamstag | 16.4.2022| Ezechiel (36,22) 37, 1-14 | Jochen Riepe |

I

‚Bei sich selbst sein‘: Es gibt einen launischen, satten Eigensinn, der nur um sich kreist, und andere wissen nie so richtig, woran sie sind. Es gibt aber auch eine Selbsttreue, eine Wahrhaftigkeit, die entgegenkommt und teilhaben läßt. Gott, liebe Gemeinde, ist sich treu. ‚Siehe, ich will Odem in euch bringen, daß ihr wieder lebendig werdet. Um meines heiligen Namens willen‘.

II

Karsamstag. Jesus ist tot. Die Uhren sind angehalten, die Spiegel verhangen. Ein Lied, das die Stimme bricht: ‘O Traurigkeit, o Herzeleid‘. Ein Tag mit einem bleichen Gesicht, der so gar nicht passen will zum wiederkommenden Licht und den Frühlingsgefühlen, die wir Corona-Müden und von Kriegsbildern und Versorgungsängsten Geplagten gerade jetzt ersehnen.

Die Glocken schweigen. Zwischenzeit. Der zweite Tag. ‚Der vielleicht unheimlichste Feiertag‘, meint der Philosoph (A. Grau). Wer den heilsgeschichtlichen Kalender und seine Automatik auch nur einen Augenblick vergisst, kann ihm begegnen und seinem Sog folgen: diesem, ja, taumelnden Gefühl, den Boden zu verlieren, aus der Zeit zu fallen  – aber wohin? ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ rief der Gekreuzigte und blieb ohne Antwort.

III

Ich muß euch das zumuten: Als wolle er uns noch tiefer herabziehen, führt der Text aus dem Hesekiel-Buch eine surreale Szene vor Augen, einen ungreifbaren Zwischenort, einen ‚Un-Ort‘. Unterwelt. Von Gottes Geist ‚entrückt‘, steht der Prophet aus Israels Zeit des Exils auf einem ‚weiten Feld; das lag voller Totengebeine‘. Reste, namenlose Reste einst lebendiger Körper. Ein eindringliches, fast obszönes Bild für das zerschlagene Volk an den ‚Wassern Babels‘. Lauter Leichname, die nicht bestattet wurden.

Man mag nicht mitgehen, aber der Prophet muß ‚überall hindurch‘. Er muß diese Wüste der verstreut liegenden Gebeine durchschreiten, sich an Leib und Seele ‚verunreinigen‘ (44,25), zitternd und in Furcht, diese Bilder nie wieder loszuwerden. Schließlich wird er mit der Frage konfrontiert: ‚Du, Menschenkind, meinst du wohl, daß diese Gebeine wieder lebendig werden?‘ Was soll er antworten? Geht ins Beinhaus von Verdun, geht nach Butscha und findet Worte! Werden die Knochen zusammenrücken, Fleisch, Sehnen und Haut bekommen, die Menschen sich erheben und die Uhren wieder angestellt? Werden die Schädel denken, sprechen, singen und im Spiegel sich ihres Antlitzes vergewissern?

IV

Du weißt es‘, gibt der Prophet die Frage zurück und benennt die Ratlosigkeit, die uns Menschen angesichts des Letzten umtreibt. ‚Sind wohl noch Überreste da?‘ fragte die alte Frau tief erschreckt, als sie sich entschieden hatte, ihre letzte Ruhe auf der Grabstätte der Eltern zu finden. Aber es ist, als hörte Gott gar nicht die Sorgen, die uns bewegen. Eben dieses unwissende ‚Menschenkind‘ wird beauftragt, den verdorrten Gebeinen sein Wort zuzusprechen: ‚Siehe, ich will Odem in euch bringen, daß ihr wieder lebendig werdet‘ -, ‚damit ihr erkennt, daß ich der Herr bin‘.

Wie einst der Prophet selbst anlässlich seiner Beauftragung, zu den ‚harten Köpfen‘ und ‚verstockten Herzen‘ Israels zu sprechen, vom Geist ‚auf die Füße gestellt‘ (2,3.4) wurde, so sollen auch die toten Knochen vom Odem Gottes belebt werden. Nicht wahr, da geht es um mehr und anderes als um einen eigensinnigen Erweis der Macht des Höchsten – ‚daß er nun mal endlich zeige, was er kann‘. Hier geht es gleichsam um das Innere Gottes, seinen ‚Wahrheitserweis‘ (W. Zimmerli), um seine Ehre, Wahrhaftigkeit und Treue als Bündnispartner Israels, ja, um ein ‚Auf-Stehen‘ Gottes um seiner selbst willen (36,32). Ist das nicht sein lebendiger Name: ‚Ich werde sein, der ich sein werde‘?

V

Karsamstag. Jesus ist tot. Gottverlassen. Auf Golgatha, der Schädelstätte, gekreuzigt. Schweigen. Der unheimlichste Feiertag im Festkalender. Wir überspringen ihn, sehnen dem Frühling entgegen und bereiten das Osterfest vor, um gut gerüstet am dritten Tag ‚aufzustehen‘. Darf man das Geheimnis des zweiten Tages benennen, bedenken? Es ist doch vermessen, in Gottes Inneres sehen und darüber spekulieren zu wollen. Wird er dem ‚lieben Sohn‘, den die Menschen in rasender Wut verurteilten und vernichteten, antworten und die Geschichte mit den Menschen neu begründen? Wird er in der Zeit von uns Menschen bleiben, oder stehen die Uhren für alle Zeit und wir bleiben uns selbst überlassen?

Ja, der zweite Tag, das ist die Erinnerung an jenen ‚atemberaubenden Augenblick‘ (H.G. Geyer), in dem das Selbst Gottes durch Gott selbst zur Frage wird. Ob er zu seiner Schöpfung in Treue zu seiner Verheißung steht oder den Rückzug wählt. In die Namenlosigkeit. Eine endgültige ‚Abkehr‘(Ps 27,9), die die Menschheit zurücklässt, Reste, Restbestände, blass und bleich, ein Trümmerfeld von haltlosen Wesen, eigensinnig auftrumpfend oder hoffnungslos ermüdet. Nach Gott schreiend die einen, ihn niemals gekannt habend die anderen.

VI

Fragen über Fragen. Ich sagte es: Jeder, der etwas von solchen Untiefen mit sich herumschleppt, ahnt die furchtbare Offenheit, dieses Dazwischen: ein Feld, ‚das lag voller Totengebeine‘. Daß es angesichts einer vertanen Geschichte, einer ‚verdunkelten Vergangenheit‘ (R. Rothmann), Zukunft, Hoffnung, Lebensfreude, eben: Frühling, geben kann, ist alles andere als selbstverständlich.

Ezechiel, wiewohl ein Entrückter, so doch ein klar Sehender, wird beim Durchschreiten des Gräberfeldes, seinem ‚Gang zu den Toten‘ (H.U. v. Balthasar), seiner ‚Höllenfahrt‘, mit den Stimmen und Stimmungen seiner Hörer in Babel immer wieder konfrontiert: Sie wollten nicht mehr ‚aufstehen‘. ‚Seht nicht in den Spiegel, ihr könntet es nicht ertragen‘. Das Land war ihnen genommen, Jerusalem zerstört, Gottes Name entheiligt … wie sollte es in diesen Trümmern, den zerbrochenen Familien, der Resignation, der Müdigkeit, des verletzten Stolzes und der Rechthaberei, wieder ‚lebendiges Wasser‘ (Joh 7,38; Ez 47,2), Häuser und Gärten, ein ‚Wohnen im Lande‘ (37,25) geben? Woran sollte Gott anknüpfen in den festgefahrenen Verhältnissen? Die Kinder klagen an (18,2): ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden‘, lautet das bitter-selbstgerechte, selbstgefällige Sprichwort, das unter den Jungen in Babel umherlief. Das sie entlasten sollte und in Einem beschwerte und hinderte, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und das Leben zu ergreifen.

Lieber Gott, wo ist der Ausgang und sei es der Notausgang? Wie kommt man da wieder heraus?

VII

Mancher von euch mag jetzt denken: ‚Es ist genug, Prediger! Laß uns vom Gräberfeld zurückkehren und einen ‚Weg heraus‘, ja in unsere Zeit, finden und aus der Krise lernen‘. Aber sind wir es nicht schon? Das ist doch Besondere von Gottes Propheten, daß sie, von seinem Geist aufgerichtet und entrückt, in ein Dazwischen geraten und gerade aus dieser Perspektive hellsichtig und klar sagen, ‚was Sache ist‘(M. Luther). Ja, aus dieser Perspektive heraus – erschreckend genug – dürfen sie sozusagen in Gottes Herz sehen und finden eine oft genug verstörende Sprache, die ausdrückt, was für Gott selbst auf dem Spiel steht.

Das ist die Zumutung des zweiten Tages, diese Verstörung auszuhalten und – mit den Worten des Ezechiel – um den Geist des Anfangs zu bitten: Gott möge zu uns herabsteigen, den Menschen mit seinem Geist ‚behauchen‘ (Gen 2,7) und den Liegenden ‚bei seiner Hand ergreifen‘(Mt 9, 25 )? ‚Für immer verbündet‘ – mag das nicht nur fromme Formel sein. Gott bleibt bei den Menschen, und er gibt sein Liebstes dahin, den ‚einzigen Sohn‘, daß dieser Partner auch bündnisfähig wird: ‚Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben …‘(36,26). Nicht wahr, das ist tröstlich, aber auch für uns verbittert-stolze Menschen ‚beschämend‘(36,32). Unter dem geht gar nichts mehr.

VIII

Was meinst du wohl, Menschenkind, daß diese Gebeine wieder lebendig werden‘? Wie kann einer darauf antworten? ‚Du weißt es‘, sagt das Menschenkind, und der Prediger ergänzt etwas forsch oder vermessen: ‚Gott, du kennst dich doch selbst am besten‘.

Ja, das kann nur Gott wissen. Ostern feiern wir, weil wir darauf vertrauen: Gott kennt sich selbst so gut, er ist so bei sich selbst, daß sein ‚geliebter Sohn‘, von den Menschen verfolgt, gehasst und geschlagen, von seinem Schöpferatem erfüllt – lebt und lebendig macht. In ihm, diesem einen, ist Gott sich selbst treu und ruft eine eigensinnige, satte, gewaltsame und müde Menschheit zum dritten Tag.

 

(Gebet nach der Predigt:) Herr, unser Gott, führe uns auf den Weg zum Leben. Wir bitten um das schöpferische Wort, mit dem du am Anfang den Menschen riefst. Wir bitten um deinen Atem, den Erweis deiner Treue: Erwecke den Christus aus dem Grabe und laß uns teilhaben an seinem Geist. Überwinde Angst, Müdigkeit und Verdruß. Mach ein Ende der Gewalt und schenke aller Kreatur den Ostertag.

Lieder: ‚O Traurigkeit, o Herzeleid‘ (eg 80); ‚Korn, das in die Erde‘ (eg 98); ‚Du, Herr, gabst uns dein festes Wort‘ (eg 570 ); ‚Kommt aus dem Sumpf heraus‘ (Mein Liederbuch 2 Nr. 220) ; Delta Rhythm Boys, ‚Dry bones‘ (Spiritual)  https://www.youtube.com/watch?v=mVoPG9HtYF8

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Lit.: H.U. von Balthasar, Theologie der drei Tage, 1990 / H.G. Geyer, Anfänge zum Begriff der Versöhnung, EvTheol 38 /3 (1978), S. 250/ M. Konkel, Bund und Neuschöpfung Anmerkungen zur Komposition von Ez 36-38, in: Chr. Dohmen, Chr. Frevel (Hgg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, 2007, S. 123ff / R. Rothmann, Sterben im Frühling (2015), 2016 (TB)

https://www.nordstadtblogger.de/wo-die-geister-sind-panoramen-von-verdun-ausstellung-im-hoesch-museum/*

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