Ezechiel 37,1-14

Ezechiel 37,1-14

„Ihr werdet leben!“ | Karsamstag | 16.4.2022 | Ez. 37,1-14 | Dr. Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Wie Sie es von mir schon kennen, steht am Anfang der Versuch einer Übersetzung, die so genau wie möglich versucht wurde:[i]

1aα  „Und es war auf mir die Hand Jahwes / des Herrn.

aβ  Da führte er mich im Geist Jahwes / des Herrn hinaus

aγ   und ließ mich inmitten der Ebene nieder.

b    Sie aber war voller (menschlicher) Knochen.

2a    Und er ließ mich um sie herumgehen.

bα  Und siehe: Sie waren sehr viele auf der Oberfläche der Ebene.

bβ  Und siehe: Sie waren sehr verdorrt.

3aα  Und er sprach zu mir:

aβ  »Menschensohn: Können leben diese Knochen?«

bα  Ich aber sprach:

bβ  »Adonaj / mein Herr Jahwe: Du weißt es!«

4aα  Und er sagte zu mir (, Menschensohn):

aβ  »Prophezeie über diese Knochen!

bα  Und sage zu ihnen:

bβ ‚Ihr verdorrten Knochen, hört das Wort Jahwes / den Herrn:

5a    So spricht Adonaj / mein Herr Jahwe zu diesen Knochen:

b    Siehe ich lasse kommen in euch den Geist, und ihr werdet leben!

6aα1 Ich gebe euch Sehnen, und ich überziehe euch [mit] Fleisch,

aα2 und ich überspanne euch mit Haut.

aβ  Und ich gebe in euch den (/ meinen) Geist, und ihr werdet leben!

b    Und ihr werdet erkennen, dass ich Jahwe / der Herr bin!‘«

7a    Ich prophezeite, wie er mir befohlen hatte.

b1  Und es geschah <Stimme> wie ich prophezeite: Und siehe, ein Beben.

b2  Und es rückten zusammen: ein Knochen zu dem ihm entsprechenden Knochen.

8a1  Und ich sah, und siehe auf sie (kamen) Sehnen, und Fleisch überzog (sie).

a2  Und sie wurden obenüber überspannt mit Haut.

b    Aber der Geist war noch nicht in ihnen.

9aα  Er aber sprach zu mir.

aβ  »Prophezeie zu dem Geist!

bα  Prophezeie, Menschensohn und sage zu dem Geist:

‚So spricht Adonaj / mein Herr Jahwe:

Von den vier Windrichtungen komme der Geist!‘

bβ  Hauche diese Ermordeten an, dass sie leben.«

10a    Und ich prophezeite, wie mir befohlen war.

bα  Und es kam in sie der Geist, und sie lebten.

bβ  Und sie stellten sich auf ihre Füße:

bγ  Ein sehr, sehr großes Heer / eine sehr, sehr große Menschenmenge.

11a    Und er sagte zu mir, Menschensohn:

»Diese Knochen – sie sind das gesamte Haus Israel!

b    Siehe, sie waren Sagende: ‚Verdorrt waren unsere Knochen, und zugrunde gegangen unsere

Hoffnung, und aufgerieben wir.‘

12aα  Darum prophezeie und sage ihnen:

aβ  ‚So spricht Adonaj / mein Herr Jahwe:

aγ   Ich bin öffnend eure Gräber, und ich ziehe euch aus euren Gräbern, mein Volk.

b    Und ich lasse euch kommen in das Land Israel.

13a    Und ihr werdet erkennen, dass ich Jahwe / der Herr bin.

b    Bei meinem Öffnen eurer Gräber und bei meinem Herausziehen von euch aus euren

Gräbern, mein Volk.

14aα  Und ich werde geben meinen Geist in euch, und ihr werdet leben.

aβ  Und ich werde euch zurückgeben auf euren Boden.

b    Und ihr werdet erkennen, dass ich Jahwe / der Herr es bin, der es redet,

und ich es tue – Raunung Jahwes / des Herrn‘.«“

Diese so ferne und überhaupt nicht nachvollziehbare Erzählung, diese Vision in der Bibel hat bei mir Erinnerungen an lange vergangene Erlebnisse lebendig werden lassen: Unsere kleine Gruppe des sogenannten „Lehrkurses“ – vier Teilnehmer aus der DDR, zwei Teilnehmer aus der Schweiz – war am 8. September 1989 im Osten Syriens auf der Fahrt den Euphrat entlang nach Mari. Bei dieser Fahrt wurde auch ein kurzer Besichtigungsstopp in den Ruinen der Stadt Dura Europos gemacht. Im 2. Jahrhundert nach Christus kann das Römische Reich – man stelle sich das vor (!) – diese Stadt einnehmen und zu einem Bestandteil seines syrischen Limes machen. Aber schon Mitte des 3. Jahrhunderts nach Christus wird die Stadt wieder von den Parthern, von den Persern, erobert und ist seither verlassen. Aus der römischen Zeit konnten zwei hochinteressante Ruinenstätten entdeckt werden, die unter zum Schutz aufgefülltem Schutt erhalten geblieben waren: An der südwestlichen Stadtmauer in einiger Entfernung vom Haupttor zwei Wohnhäuser, beide umgebaut zu Versammlungsstätten von Religionsgemeinschaften, zuletzt aber zugeschüttet, um die direkt danebenstehende Stadtmauer zu stabilisieren. Wenn man das Stadttor durchquert hatte und nach links, also nach Nordwesten, ging, fand man einen Wohnkomplex, in dem eine Synagoge eingebaut gewesen war, und wenn man nach rechts, also nach Südosten, etwa gleichweit vom Stadttor entfernt ging, fand man einen Wohnkomplex, der zu einer christlichen Hauskirche umgebaut gewesen war.[ii]

Dieser Befund ist für mich von tiefer Symbolik: Ganz am Rand der Stadt, gleich hinter der Stadtmauer, auf derselben Straße – dadurch ihre tiefe Verwandtschaft anzeigend –: Synagoge und Kirche. Aber im Zentrum der Stadt, in der Mitte der Gesellschaft: der Artemis-Tempel, daneben die Tempel für von Palmyra her eingeführte Gottheiten: der Tempel der Atargatis und der Tempel für Götter, die zum Kreis des „Himmelsherrn“ gehörten. Die beiden Hauszentren sind vor allem dadurch aufgefallen, dass Fresken entdeckt werden konnten! In der Hauskirche ein Raum mit biblischen Szenen; in der Synagoge eine vollständige Ausmalung des Synagogenraums:

Zum Beispiel die Kindheit des Mose, der Durchzug der Israeliten durch das Meer, die Salbung des David, der Tempel von Jerusalem, das Bild des Jesaja und auch: Ezechiel im Tal der Gebeine! Dieses Fresko verbindet eine ganze Reihe von Szenen und stellt Ezechiel auf unserem Ausschnitt dreimal dar. Zum Beispiel: Gott setzt Ezechiel in dieses Tal, wobei die Tatsache, dass die Köpfe und Gliedmaßen schon Fleisch und Haut haben, voraussetzt, dass das Wunder schon im Geschehen sei. Die Hände, die von oben in das Bild hineingreifen, müssen als Hände des wirkenden Jahwes / des Herrn gedeutet werden![iii]

Am 21. September 1989 waren wir dann im Museum in Damaskus und konnten dort die Rekonstruktion des Synagogenraums bestaunen – alle Malereien hervorragend restauriert. Vor Ort war diese großartige Kunst vielleicht nur für zehn Jahre erhalten gewesen! Und in ihr dann auch diese Szene vom Totenfeld, aus dem die Knochen wiederbelebt werden!

Da werden wir der grundlegenden Bedeutung, des eigentlichen Sinnes dieser Szene bewusst: Jede jüdische Gemeinschaft lebt im Bewusstsein, genauer: in der Glaubensahnung, dass Gott ihr immer wieder Zukunft schenken wird. Durch vielfältige Bedrohungen und Gefährdungen hindurch und aus ihnen heraus: Am 9. Oktober 2019 war ich nach Halle zu einer alttestamentlichen Beratung mit Kolleginnen und Kollegen gefahren. Ich kam erst einige Stunden später an, weil mein Zug von Erlangen auf einem Umweg über Eisenach (!) geführt worden war. Aber während unserer Beratung musste uns unsere Hallenser Kollegin informieren, dass die Straßen gesperrt seien, Züge nicht mehr führen, alles abgesperrt sei: Weil ein Attentäter versucht hatte, in die Synagoge einzudringen und die Gemeinde zum Fest „Jom Kippur“, zum Fest „Versöhnungstag“[iv] angreifen wollte. Aber die Tür des Synagogen-Gebäudes hatte gehalten![v]

Abends konnte ich mit in ein Friedensgebet in der Marktkirche gehen und am nächsten Morgen recht früh wieder nach Erlangen zurückfahren. Aber der Attentäter hatte doch zwei Unbeteiligte ermordet und zwei andere Unbeteiligte verletzt! Da waren Bewahrung und Zerstörung am selben Tag eingetreten. Ist es nicht so, dass diese Szene im Ezechiel-Buch uns immer wieder in solche Spannungen zwingt?

Aber nun: Wie kann ich diese Szene als Christ predigen? Welche Botschaft hat diese Szene für unsere weltweite Gemeinschaft der christlich Glaubenden? Denn der entscheidende Ansatzpunkt dieser Szene – das Wiedererstehen des Volkes Gottes, des Volkes Israel (!) – gilt für uns als Christinnen und Christen, für uns als die Gemeinschaft der vielkonfessionellen, der internationalen Kirche so doch nicht!? Das ist ihr Inhalt für unsere jüdischen Freunde!

Zwei Wege bieten sich mir an:

Zuerst die Frage, ob und wenn ja, wie diese Szene von den Autoren unseres Neuen Testaments aufgenommen wurde. Grundlegend ist hierbei festzuhalten: Die Hebräische Bibel ist nur für uns Christinnen und Christen „Altes Testament“. Denn dazu bedarf es unserer Entscheidung, Christin oder Christ sein zu wollen!

Und dann die Frage, welchem Moment in unserem Kirchenjahr wir diese Szene zuordnen!

Zur ersten Frage: Ich schaue immer im Register meiner Ausgabe des griechischen Neuen Testaments nach.[vi] Dort werden Anspielungen benannt und natürlich die wörtlichen Zitate.

In seinem Bericht über das Kreuzigungsgeschehen Jesu Christi gibt der Evangelist Matthäus wichtige Hinweise – darunter, dass sich in dem Moment, in dem Jesus gestorben war, viele Gräber auftaten und viele Entschlafene aufstanden (Matthäus 27,52). Was also in der Szene in Ezechiel 37,12-13 erwartet wird, das bricht als „Begleitmusik“ des Sterbens Jesu an. Da beginnt schon neues Leben!

Und: Etwa zur selben Zeit wie Matthäus hatte der Seher Johannes sein großes Werk der Offenbarung verfasst. In ihm berichtet er von einer verstörenden Schau, in der zwei Zeugen erschreckende Nachrichten verkünden und dann von einem Untier aus dem Abgrund getötet werden. Aber letztlich „fährt in sie [in diese beiden Zeugen] der Geist des Lebens von Gott, und sie stellten sich auf ihre Füße“ (Offenbarung 11,11). Dabei hatte der Seher Johannes bewusst auf die Aussagen in Ezechiel 37,5 und 10 zurückgegriffen: „Und es kam in sie der Geist, und sie lebten“!

Beide Hoffnungsbilder umgreifen unsere Existenz als Christen: Ganz am Anfang, als das Opfer Jesu Christi gerade geleistet worden war. Und unter dem endgültigen Horizont, wenn die unvorstellbare Erfüllung beginnen wird: „Nun gehört die Herrschaft über die Welt unserm Herrn und seinem Christus, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Offenbarung 11,15b).

Zur zweiten Frage: Aber die Frauen und Männer, die für die Predigttext-Entscheidungen verantwortlich sind, haben unsere Szene dem Karsonnabend / dem Karsamstag zugeordnet. Also weder als Gegengeschichte zum Sterben Jesu, noch als Beginn des endgültigen Werdens des Lebens unter der Macht des Auferstandenen – dann nicht „nur“ für die Glaubenden, sondern in der für alle erfahrbaren Wirklichkeit realisiert!

Was kann ich für das „Dazwischen“ predigen? Ich kann die Szene bei Ezechiel nur als riesigen Horizont über unseren „kleinen“ Wendungen verstehen: Wenn wir sehr krank waren, uns aber geholfen werden konnte und wir in unser alltägliches Leben zurückgekehrt waren, werden wir natürlich in dem Leben bleiben, das in den Tod gehen wird. Aber schon diese Rückkehr in unser alltägliches Leben können wir als eine großartige Erfahrung der Bewahrung und „Neuschöpfung“ durch Gott verstehen! Deshalb feiern manche den Tag ihrer Genesung aus schwerer Krankheit als ihren „neuen Geburtstag“! Damit haben sie begriffen, dass Gott „in sie den Geist gab und sie lebten und sie sich auf ihre Füße stellten“ (Ezechiel 37,10).

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

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Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

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[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, dort Forschungsstudent und Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

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[i]   Die Symbole bedeuten: In (  )  stehen Zusätze der Septuaginta oder in Handschriften. Der Begriff in [  ] stellt eine Erläuterung dar. Der Begriff in <  > kann gestrichen werden. Formulierungen nach / geben Varianten des Verstehens und Formulierungen in (/   ) geben in Handschriften oder in der Septuaginta belegte Varianten.

[ii]   Ich verweise nur auf: Johannes Odenthal: Syrien. Hochkulturen zwischen Mittelmeer und Arabischer Wüste – 5000 Jahre Geschichte im Spannungsfeld von Orient und Okzident, Köln 41988, S. 288-293.

[iii]   Ich beziehe mich auf einen Aufsatz, den ich im Internet gefunden habe: Petra Sevrugian: Kurt Weizmann und Herbert L. Kessler, The Frescoes of the Dura Synagogue and Christian Art, S. 702. Das Bild habe ich auch im Internet gefunden: https://www.google.com/search?q=Synagoge+Dura+Europos+Bild+Ezechiel+37… (Zugriff am 6.2.2022).

[iv]   Zum Fest יום כפור oder יום כפורים vgl. nur Levitikus / 3. Mose 16.

[v]   Vgl. nur: https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Halle_(Saale)_2019 (Zugriff am 7.2.2022).

[vi]   Nestle – Aland: Novum Testamentum Graece, begründet von Eberhard und Erwin Nestle, hg. von Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, 28. revidierte Auflage, Stuttgart 2012.

 

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