Lukas 23,32-49

Lukas 23,32-49

Der traumatisierte Gott | Karfreitag | 15.04.2022 | Lk 23,32-49 | Ulrich Pohl |

Sie sahen das alles, die Frauen, die da unter dem Kreuz standen. Sie sahen das alles. 

Einmal im Jahr sollen auch wir es sehen. Wir sollen hinschauen, wie die Frauen unter dem Kreuz. Einmal im Jahr sollen wir es uns ganz nahekommen lassen, was wir sonst mit einer gewissen Routine in Worte fassen: Jesus Christus gekreuzigt, gestorben und begraben. Was damals auf Golgatha geschehen ist, wir sollen es mit erleiden, wir sollen unserem Herrn Jesus nachfolgen, mit Haut und Haar dabei sein, es an uns selber fühlen: Gekreuzigt, gestorben und begraben.

Gerade in diesem Jahr kommt es uns besonders nah: Wie qualvoll das gewesen sein muss, dort am Kreuz zu sterben. Wie verzweifelt und wie verloren sich der gefühlt haben muss, der diesen Tod erlitten hat. Denn in diesem Jahr vermischt sich das Bild vom Kreuz mit anderen Bildern. Mit Bildern, da können wir nichts mehr routiniert in Worte fassen; die können wir kaum ertragen. Es sind die Bilder von dem, was 2000 Kilometer weiter östlich von uns geschieht. Das hört sich weit weg an, aber in den letzten Tagen kommt es uns bestürzend nah! Kameraaufnahmen von Menschen, die in den Straßen liegen, als wäre das, was sie einmal waren und was sie sind, nichts! Nichts wert, nicht von Bedeutung. Wir haben es mitempfunden, das Entsetzen derer, die vor ihren Häusern stehen und fassungslos auf das zeigen, was sie sehen; und die sagen müssen, der da liegt, den kannte ich, und die dort liegen, die habe ich täglich gegrüßt, genau hier an dieser Stelle. Und die, die das verbrochen haben, ihre Gesichter habe ich auch gesehen. 

Wird so etwas bald auch in unseren Straßen geschehen?! Rollt da ein Krieg auf uns zu, der nirgends halt macht? 

„Sie waren da und sahen das alles.“ Die Angst und das Entsetzen der Frauen unter dem Kreuz, der Schrecken, er kommt uns in diesem Jahr besonders nah.

Nein, ein Schutzraum ist unser Glaube wahrlich nicht! Ein so genannter Safe Space, in dem sich die Opfer der Gewalt zunächst einmal geborgen fühlen dürfen, nachdem sie dem Entsetzlichen haben entrinnen können. In einem solchen Safe Space verbietet es sich, dass man Dinge wie eine Kreuzigung zeigt. So etwas wirft traumatisierte Menschen zurück in den Schrecken, vor dem sie sich gerade in Sicherheit gebracht haben. Für manche von ihnen ist es dann so, sie stehen von einem Moment auf den anderen wieder mittendrin in dem, was ihnen angetan wurde. 

Das Evangelium nimmt darauf merkwürdigerweise keinerlei Rücksicht. Obwohl ja auch die Menschen damals oft in höchstem Maße traumatisiert waren. Offenbar will die christliche Botschaft die, an die sie sich richtet, auf eine andere Weise widerstandsfähig machen. Sie mutet uns nicht weniger zu, als dass wir uns dem Leben aussetzen, wie es ist. Es ist mitunter wunderschön, aber genauso eben auch schrecklich. Und es ist nicht ausgemacht, überwiegt am Ende der Schmerz oder die Lust? Vieles spricht dafür, mit dem Tod wird die Bilanz negativ. Dem müssen wir standhalten und einmal im Jahr entführt uns unser Glaube nach Golgatha, dorthin, wo alles, was uns in unseren schrecklichsten Träumen verfolgt, seinen Ort hat: Der Mensch, den wir lieben und der uns liebt, wird zu Tode gequält. 

Das ist traumatisierend, erst recht, wenn man es an sich heranläßt, wenn man versucht, es mitzufühlen. 

Es war traumatisierend für den, der es erleiden musste. Es war traumatisierend für die, die es in der ersten Stunde mitangesehen haben, dort, unter dem Kreuz. „Sie waren da und sahen das alles.“ Traumatisierend war es aber auch für den, der sich zum Vater dessen erklärt hatte, der da am Kreuz gestorben ist. Jesus ist der Sohn Gottes! Wenn wir das wörtlich nehmen, muss es auch für Gott schlimm gewesen sein. Er hat zugesehen, wie seinem Sohn so etwas widerfährt. Dabei hätte er etwas ändern können! Er hätte als einziger eingreifen können, er hätte seinen Sohn retten und vom Kreuz herab holen können. Wie sehr muss ihn das innerlich zerrissen haben: Etwas tun können und stattdessen tatenlos zusehen. 

Was ist das für ein Gott? Was bedeutet das, was da geschehen ist und was Gott hat geschehen lassen? Haben wir es am Ende tatsächlich mit einem traumatisierten Gott zu tun? Mit einem Gott, der nicht damit fertiggeworden ist, was sich am Karfreitag abgespielt hat? Ist das, was danach kam, in der Geschichte der Menschheit, das Ergebnis einer transzendenten postraumatischen Störung: Ein ratloser Gott, erschüttert, und überfordert damit, auch nur das Schlimmste zu verhindern: Die fortschreitende Kultivierung unmenschlicher Grausamkeiten, Pogrome, Völkermorde, die Erfindung maßlos vernichtender Waffen, vor deren Einsatz uns heute auch wieder graut? Steht das alles unter einem Trauma? Unter dem schrecklichen Trauma dessen, was damals auf Golgatha mit Gott passiert ist? Braucht Gott unser Verständnis dafür, dass er soviel schuldig geblieben ist? Braucht er unser Mitleid? Unsere Vergebung gar? 

Darf man so überhaupt von Gott sprechen? Darf man solche Dinge fragen, die alles auf den Kopf stellen? Und wenn man so von Gott spricht, was ist dann das Ergebnis? 

Wer ist dann eigentlich noch da, der uns hilft? Wo ist die Macht, die uns beistehen könnte? Wo ist ein Gott, der uns schützen könnte? Der uns schützt vor denen, die die Vernichtung ganzer Völker mit leichter Hand in Gang setzen. Wer hilft uns gegen die, die über Leichen gehen, und sich dabei erhaben fühlen? Wer hilft uns gegen die Menschenschlächter, ihre Folterknechte und Erfüllungsgehilfen? Wer hilft uns in alldem, wenn auf der anderen Seite nur ein hilfloser Gott steht, selbst erschüttert von dem, was seine Geschöpfe einander antun? Soll da wirklich nur ein Gott sein, der unser Mitleid braucht? Wir brauchen etwas anderes! Wir brauchen den Glauben an einen, der alles kann, alles weiß, alles vermag. Wer hilft uns sonst?!

Wer hilft uns sonst?
Wir stehen ratlos da. Unsere Gedanken sind leer.

Wir stehen hilflos unter dem Kreuz.

Aber gut, da gehören wir an diesem Tag auch hin: 
Karfreitag, Leidenstag, Sterbetag, Golgathatag.
Wir stehen da wie die Frauen, von denen uns der Evangelist Lukas erzählt. Sie wollten wegschauen, aber sie konnten es nicht. „Sie sahen das alles“, und sie konnten kaum einen klaren Gedanken fassen. Immerhin, ihnen sind wir nah, wenn auch wir leer und ratlos unter dem Kreuz stehen. 

Ihnen sind wir nah, und damit sind wir auch Jesus nah. 
Auch uns selbst können wir nahe bleiben. Denn es ist furchtbar schwer, dem einen Sinn abzugewinnen, was an Leiden in der Welt ist, und dem, was an Leiden am Kreuz geschieht. Wir wollen nicht so tun, als hätten wir da eine kluge Erklärung. Wir haben nichts. Wir vermögen nichts. Wir können nichts. Wir können nichts anderes tun, als da bleiben und aushalten. Das war damals schwer, und das ist heute schwer, aber das heißt wohl, auf der Seite Gottes zu bleiben. Denn Gott hat auch ausgehalten. Er hat sich sozusagen dazugestellt, zu denen, die unter dem Kreuz standen. Wenn wir da ebenfalls stehen, sind wir Teil seiner Gemeinschaft, und er ist Teil unserer Gemeinschaft. Und genauso sollte es sein. 

Hilft uns das?
Es wird uns helfen. Es wird uns helfen, wenn das Leben irgendwann einmal auch uns ans Kreuz nagelt. Wenn die Krankheit kommt, gegen die man nichts tun kann, weil sie den Körper von innen zerfrißt. Es wird uns helfen, wenn uns irgendwann das Vergessen überkommt; und nach und nach versinkt, was wir waren und was wir sind. Es wird uns helfen, wenn wir einen Menschen loslassen müssen, aber wir können es nicht. Es wird uns helfen, wenn uns mitten im Leben das Starrwerden der Seele befällt, und nichts kann mehr schön sein. Es wird uns helfen, wenn der Tod kommt, so oder so, wie auch immer er kommt. Es wird uns helfen, wenn uns das Leben ans Kreuz nagelt, und wir spüren jeden einzelnen Schlag. Dann ist einer dabei, der geht nicht weg. Dann steht einer unter unserem Kreuz. Dann ist einer da, und er weiß wie das ist und wie sich der Schmerz anfühlt. Wir werden seine Nähe spüren. Wir werden empfinden, wie uns das tröstet: Er ist einfach bei uns. Und schließlich, wir können dann zu ihm sprechen. Er hört uns zu. Wir können dann zu ihm beten. Beten, er möge uns sein Geheimnis schauen lassen. Aus aller Verzweiflung und aller Leere wächst etwas Neues. Und er, der hier nicht mehr tun konnte als dabei zu bleiben, wird uns dort in Empfang nehmen, in seiner Welt, in der alles noch einmal beginnt. Darauf hoffen wir, darum beten wir. Begreifen können wir es nicht. Wir können nur vertrauen.

Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss/Alsdorf, 
E-Mail: Ulrich.Pohl@EKiR.de

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