Lukas 23,32-49

Lukas 23,32-49

Actus Tragicus| Karfreitag | 15.04.2022 | Lk 23, 32-49 | Verena Salvisberg |

Liebe Gemeinde

Ein Mädchen, dreizehnjährig wohl, am Radioapparat seiner Eltern. Unten die Drehknöpfe zum Einstellen der Lautstärke und des Senders. Die Einstellung immer gleich. Das Gerät wird eingeschaltet um halb eins, die Familie beim Mittagessen. Psst, die Nachrichten!

Oben kann eine Klappe geöffnet werden. Da ist der Plattenspieler. Das Mädchen ist gut instruiert, Sorgfalt ist gefragt. Die Platten nur am Rand berühren. Die Nadel sanft auf dem schmalen Rand aufsetzen. In der Regel werden hier Kasperliplatten gehört, vier, fünf Platten, immer wieder. Auf der Vorderseite eine Geschichte, hinten eine. Sorge tragen. Trotzdem: die Geschwister ergötzen sich am Abspielen der Platte im doppelten Tempo.

Ein Mädchen am Plattenspieler. Da sind noch drei, vier Platten von der Mutter. Eine kleine Nachtmusik. Weihnachtsoratorium. Actus Tragicus.

Seit kurzem Lateinunterricht. Actus Tragicus. Tragischer Akt. Trauerstück. Das Mädchen legt die Platte auf, immer wieder. Fasziniert von der Musik. Blockflöten, Streicher, Gesang.

«Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» «Ach Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen.»

Das Mädchen legt die Platte auf. Immer wieder. Schön ist das. Aber noch viel mehr. Da ist eine Ahnung von Tiefe. Von Wichtigkeit. Sterben müssen. Leben ist mehr als schlafen, Schule, essen, arbeiten. Was ist Leben? Was ist mein Leben? Meine Aufgabe? Berufung, darum geht es, auch wenn das Mädchen dieses Wort nicht kennt. «Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben». Gut möglich, dass hier die Musik auf erste Anflüge von pubertärer Melancholie trifft. 

Actus Tragicus, ein Trauerstück, die Kantate von Johann Sebastian Bach, wohl geschrieben für eine Trauerfeier. Traurig ist es nicht, das Mädchen, eher berührt und bewegt und irgendwie getröstet.

«Heute, heute wirst du mit mir im Paradies sein.», singt der Bass in der Kantate. Ein Zitat aus der Kreuzigungsgeschichte nach Lukas. Hören Sie noch einmal, was sich gemäss dem Evangelisten am Kreuz abspielt: 39Einer aber von den Verbrechern, die am Kreuz hingen, verhöhnte ihn und sagte: Bist du nicht der Gesalbte? Rette dich und uns!

40Da fuhr ihn der andere an und hielt ihm entgegen: Fürchtest du Gott nicht einmal jetzt, da du vom gleichen Urteil betroffen bist? 41Wir allerdings sind es zu Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42Und er sagte: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. 43Und er sagte zu ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23,39-42).

Mit Jesus werden zwei Verbrecher gekreuzigt, rechts und links. Davon berichten alle Evangelien. 

Es ist das Bild, das wir alle vor Augen haben. Eingebrannt im kollektiven Gedächtnis. Die drei Kreuze auf dem Hügel. In der Mitte Jesus. Die Totale.

Lukas als einziger zoomt heran und erzählt die eben gehörte intime Szene am Kreuz. Das Gespräch der drei Todgeweihten.

Natürlich werden da wichtige theologische Fragen verhandelt. Die wichtigste wohl: Wer ist dieser Mensch? Wer ist Jesus? König der Juden steht auf der Inschrift über dem Kreuz. Hilflos kommt mir dieser Spott vor. Der eine Nachbar am Kreuz stimmt ein in den Spott der Oberen. Er lästert: Wenn du der bist, dann hilf dir doch selbst. Und uns. Da ist diese Bitterkeit über das verkorkste, verspielte Leben. Die abgrundtiefe Verzweiflung. Aber nicht mal am Ende kann er sich das eingestehen. Es bleibt die Aggression.

Der andere mischt sich ein. Er weist den ersten zurecht. Mehr als was er jetzt erleidet, hat er von Menschen nicht zu befürchten. Die Furcht vor Gott aber, die ist noch da. Er hat sich Gedanken gemacht. Ist in sich gegangen. Vielleicht gerade angesichts des bevorstehenden Todes. Auch er hat das Leben verspielt. Ändern kann auch er nichts mehr. Da ist eine Ehrfurcht angesichts des Todes. Für das, was er getan hat, muss er sich verantworten.

Alle drei hängen am Kreuz, aber da ist ein grosser Unterschied. Darauf weist er hin: Wir zwei büssen zu Recht für das, was wir getan haben. Dieser aber hat nichts getan.

Mit dieser Aussage wird er mit Pilatus und Herodes Antipas zum dritten Zeugen für die Schuldlosigkeit Jesu in der lukanischen Passionserzählung.

Wer ist dieser Jesus?

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, hat er eben noch gebetet.

Von dem einen, dem Spötter, kommt nichts mehr. Der andere wendet sich an Jesus: Denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Dein Reich. Eigentlich auch ein Bekenntnis zu Jesus, dem König, aber nicht höhnisch, sondern ernst gemeint. Zum König gehört das Reich. Und er bekommt eine Antwort: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Es geht in dieser Szene wie in der ganzen Passionsgeschichte um die Frage: Wer ist dieser Mensch? Wer ist dieser Jesus? Und es geht um Sünde und Einsicht. Um Umkehr und Verstockung. Um die Frage nach Verantwortung und Rechenschaft. Was kommt nach dem Tod? Nichts? Die ewige Verdammnis? Reich Gottes? Ja, wichtige theologische Fragen werden in diesem Gespräch verhandelt.

Aber ist es nicht auch einfach ein Gespräch zwischen drei Todgeweihten? Es geht immer noch um alles, bis zuletzt. Verloren sein. Gerettet sein. Was war und was sein wird. Die Intimität des Lebens. Das Gespräch, das auch in diesem Moment nicht abbricht. 

«Heute, heute wirst du mit mir im Paradies sein.», singt der Bass in der Kantate.

Etwas später setzt der Alt ein:

Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Wille

Getrost ist mir mein Herz und Sinn sanft und stille…

Auch in der Kantate verwebt sich die Arie «Heute, heute wirst du mit mir im Paradies sein.» mit einem Choral Luthers, die Zusage Jesu mit der Antwort des Menschen. Auch hier das Gespräch. 

Mit Fried und Freud fahr ich dahin. Nunc dimittis. Der Lobgesang des Simeon, den er anstimmt am Ende seines Lebens. Nachdem er sein ganzes Leben lang auf den Erlöser gewartet hat, kommen Josef und Maria mit dem Kind in den Tempel. Simeon darf das Kind auf den Arm nehmen.

Nun, lässt du deinen Diener in Frieden gehen, singt er.

34 Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – 35 und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden (Lk 2,34f).

Gewiss erinnern sich die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums, hier, beim Bericht über den Tod Jesu an diese Prophezeiung am Anfang seines Lebens.

Simeon? Jetzt sind wir plötzlich bei Weihnachten angelangt. Und an Weihnachten haben wir ja auch gesungen: Heut schliesst er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis (RG 395.5).

Was also jetzt? Karfreitag oder Weihnachten?

Hier wie da ist eine Grenze aufgebrochen. Eine Tür geöffnet. Der Vorhang zum Allerheiligsten im Tempel gerissen. 

Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Heut schliesst er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis

Nun lässt du deinen Diener gehen…

Letztlich geht es wohl um dieses «heute» oder «nun».

Beim Mädchen mit der Schallplatte. Ergriffen von der klaren Ansage der Sterblichkeit allen Lebens. Das spürt: Es kommt darauf an im Leben. Was du bist. Was du machst. Auch wenn es begrenzt ist. Und das getröstet ist durch die Zusage Jesu, der das Todesschicksal des Menschen geteilt hat: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Da ist eine leise Ahnung von diesem «heute», nicht erst nach dem Tod.

Es geht wohl um dieses «heute». Im Gespräch, das nie aufhört. Bis zur letzten Stunde. Bach hat es vorgemacht. Luther auch und viele, viele andere auch. Das Gespräch mit sich selbst, mit andern Menschen und mit Christus. Das Wissen um die Endlichkeit und um die Kostbarkeit des Lebens wird in diesem Gespräch entdeckt.

Und es geht um den Trost unseres Bruders am Kreuz.

Deshalb bitte ich heute an Karfreitag, unter dem Kreuz: Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!

Amen

Pfrn. Verena Salvisberg

Roggwil

verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.

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