Lukas 23,32-49

Lukas 23,32-49

In der Zuschauerrolle | Karfreitag | 15.04.2022 | Lk 23,32-49 | Sabine Handrick |

Liebe Gemeinde

Wenn ich morgens aufwache und mir den Schlaf aus den Augen reibe, sehe ich sie vor mir – die Bilder der zerbombten Städte, die Menschen, denen das Grauen ins Gesicht geschrieben ist, die verstörten Blicke der Kinder. Und ich versuche mir vorzustellen, was diese Kinderaugen sehen mussten:

– brennende Häuser, Ruinen, Panzer, Granaten und Soldaten, Leichen auf der Strasse

– die Dunkelheit des Kellers, wo sie ausharrten – wochenlang; anfangs noch ein wenig Handylicht, Kerzen und doch dann nichts mehr

– die Kälte, die in die Knochen kroch trotz der drei Pullover übereinander; das Feuer im Hof, ein improvisierter Kochplatz, der Durst, als das rationierte Wasser zur Neige ging

– ein paar Decken und Matratzen als Lager, wo sie sich aneinander drängten während der endlosen Stunden in der Nacht

– die Angst, wenn die Sirenen aufheulten, die ohrenbetäubende Wucht der Einschläge, die Schreie, die Angst, das Entsetzen, der Schmerz der Verwundeten 

– und Grossmutters Schweigen… Sie antwortete einfach nicht mehr. 

Liebe Gemeinde, wir alle sehen diese Menschen, die aus der Hölle der belagerten ukrainischen Städte fliehen, millionenfach.

Die Nachricht vom Krieg hat uns kalt erwischt und aus dem warmen Bett der Sicherheit gerissen. «Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.» (A. Baerbock) Noch immer reiben wir uns die Augen und können es kaum fassen, trotz der Momentaufnahmen des Krieges, die uns seit Ende Februar fast in Echtzeit erreichen. 

Wir verfolgen online oder im Fernsehen Sondersendungen, Nachrichten, live-Schaltungen zu Reporterinnen vor Ort. Wir lesen twitter-posts, sehen Videos und Drohnenaufnahmen mit all den Zerstörungen. Wir hören die eindrücklichen Reden von Wolodymyr Selenskyj. 

Wir schauen zu.

Ja. Eine Welle der Solidarität geht durch Europa. Ich sehe die Bemühungen von politischer Seite und die Arbeit der Freiwilligen und Helfenden. Das ist das Mindeste, was wir tun können: Verhandeln, Gespräche führen, Geld auftreiben, den Geflohenen Nahrung und Obdach geben, Material schicken, Hilfskonvois organisieren… 

Aber wir schauen auch zu. 

Für die Menschen in der Ukraine gibt es kein Aufwachen aus diesem Alptraum. Sie kämpfen ums Überleben, für Menschenrechte und demokratische Werte, für ihre Heimat und unsere Freiheit.

Wir diskutieren, wie weit unsere Unterstützung gehen darf. Sanktionen verhängen und Konten der Oligarchen sperren ja – aber wenn’s um den Gashahn geht, an dem die Wirtschaft hängt, wird’s schwierig. 

Ich kann mich dem Argument nicht entziehen, dass die westeuropäischen Gasmilliarden Putins Krieg finanzieren. 

Ich spüre, wie die Schamröte aufsteigt und sich in mir das bittere Gefühl der Hilflosigkeit ausbreitet. Wir schauen zu.

Liebe Gemeinde, am Schluss der Passionsgeschichte entdecke ich eine kleine Geste, in der ich mich wiederfinde (Lk23,48). Da heisst es: „Eine große Menge Schaulustiger war gekommen und sah alles, was dort geschah. Da schlugen sie sich auf die Brust und kehrten in die Stadt zurück.“         

Kennt ihr das «sich auf die Brust schlagen»? Bei uns im reformierten Umfeld mag es selten geworden sein, aber in anderen kirchlichen Traditionen gehört ein liturgisches Schuldbekenntnis zum Gottesdienst. Man spricht ein Gebet und schlägt sich leicht auf die Brust und bittet «Gott sei mir Sünder gnädig.» (Mea culpa)

Diejenigen, die der Kreuzigung zuschauten, waren betroffen und zutiefst berührt. Was sie miterlebten, liess sie nicht unbeteiligt bleiben. In ihnen regten sich Entsetzen, Scham, Trauer, Schuldgefühle, Reue. 

Im Morgengrauen jenes Freitags sah das alles noch ganz anders aus. In Scharen zogen die Schaulustigen auf den Schädel-Hügel am Stadtrand. Bereits ganz früh waren sie mit Aussicht auf Gruseleffekt und Nervenkitzel aufgebrochen. Wie so oft hatte diese öffentliche Hinrichtung ein grosses Publikum. 

Meinen Lieben, schüttelt ihr innerlich gerade den Kopf und denkt: «Wie kann man nur…?!» 

Dann fragt euch, warum sich bei uns Staus nach einem Unfall bilden und Gaffer Rettungswege blockieren! Dann fragt euch, warum Horror und Crime so beliebt sind, warum in Spielen und Filmen Gewalt oftmals so attraktiv in Szene gesetzt wird… 

Die römischen Besatzer liessen die Kreuzigungen ganz bewusst vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden. Sie zielten auf den Abschreckungseffekt. Denn entlaufenen Sklaven und politischen Aufrührern drohte die Todesstrafe … und was für eine! Die qualvolle Hinrichtung am Kreuz folterte die Verurteilten langsam zu Tode. ‚Seht her, ihr Sklaven – so ergeht es euch, wenn ihr aufbegehrt. Seht her, ihr Leute von Jerusalem. Lasst euch nicht einfallen, für eure Freiheit zu kämpfen.‘

Seht her ihr Völker, die ihr euch von Moskaus Imperium unabhängig machen wollt, euch droht Krieg und Tod. So funktioniert Grossmachtideologie bis heute. Abschreckung, Erpressung, Gewalt, Terror, Krieg – das sind die Methoden.

„Das Volk stand dabei und schaute zu.“ erzählt der Evangelist (Lk.23,35) und meint: Das geht euch alle an. Schau hin und du wirst kein neutraler Zuschauer bleiben. Hier geht es um dich selbst und um eine Kreuzigung, in die du verwickelt bist. Der Evangelist provoziert uns, Stellung zu beziehen.

Also, betrachten wir, was passierte! Das erste Wort, das der gekreuzigte Jesus sagte, beantwortete die Gewalt, die ihm angetan wurde, eben nicht mit einem Machterweis, wie ihn die Spötter forderten. Er reagierte nicht mit Hass und Vergeltung, nicht mit Bitterkeit oder einem Ruf nach Rache, dass ‚in der Hölle schmoren‘ sollen, die dafür verantwortlich sind…

Nein, Jesus betete: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Vergebung ist der Weg Jesu. 

„… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ 

Das hatte er gelehrt, so lebte er und so starb er – mit der Bitte um Vergebung für seine Feinde.  

Doch an jenen, die mit dem Tod ihre Geschäfte machten, ging der zarte Hauch dieser Bitte um Vergebung unbemerkt vorbei. Sie folgten ja nur ihren Befehlen. Beim Schachern um Jesu Habseligkeiten hatten sie längst keinen Blick mehr für die Verurteilten.

Lukas beschreibt die anderen beiden Gekreuzigten neben Jesus. 

Auf der einen Seite war jemand, der ebenfalls nicht verstand, was geschah. 

Der wiederholte nur, was alle sagten. »Bist du nicht der Christus? Dann rette doch dich und uns!«  

Jesus reagierte darauf gar nicht mehr.

Doch beim anderen Mitgekreuzigten haben wir ein Beispiel dafür, dass Umkehr tatsächlich bis zum letzten Atemzug möglich ist. 

Er gab seinem Leidensgenossen die passende Antwort: »Fürchtest du noch nicht einmal Gott?“ 

Denn er hatte die Tragweite der Worte Jesu begriffen und bat nun um die Fürbitte für sich selber: „Jesus bete auch für mich, wenn du sogar für diese Henkerknechte um Vergebung bittest, dann auch für mich. – Denke an mich, wenn Du in dein Reich kommst.“ 

Und aus diesem kleinen Funken seiner Hoffnung erwuchs ein grosse, ungeahnte Aussicht.

„Amen, das sage ich dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ versprach ihm Jesus. –

Mitten in dieser elenden Stunde des Sterbens leuchtete Zukunft auf … In Todesangst und Schmerz liess Jesus ihn den Himmel ahnen… heute noch… nicht erst am dritten Tage, sondern heute noch!

Liebe Gemeinde, „Seh ich dein Kreuz, den Klugen dieser Erden ein Ärgernis und eine Torheit werden, so sei‘s doch mir, trotz allen frechen Spottes, die Weisheit Gottes.“ (RG 449,7) Klingt in euch diese Liedstrophe noch nach, die wir gesungen haben? 

Beim Blick aufs Kreuz stelle mir Jesus Christus und seine weit geöffneten Arme vor. –

Und ich frage wieder: Bleibst du ein Zuschauer oder macht dich das Kreuz zu einem Beteiligten?

Erkennst du in Jesu Leidensbereitschaft, in seiner hingebenden Liebe den Weg der Vergebung, den Weg des Vertrauens, den du gehen kannst? 

Meine Lieben: Wagen wir es dem Nazarener gleichzutun, und uns Gott in die Arme zu werfen? 

Auf Gott zu verlassen, im Leben und im Sterben? 

Es sind existentielle Fragen, die sich all denen stellen, die den Blick nicht abwenden, sondern hinschauen. 

Am Ende, ganz am Ende schrie Jesus laut, erzählt Lukas. Ein Gebet, das alle hörten, ja hören mussten! O Gott! Vater, erweise dich stärker und mächtiger als der Tod! So dunkel jener Todestag auch war, so sehr strahlte dieses Gebet. Schreiend, betend liess Jesus sich fallen – in Gottes Hände: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Mit diesem Psalmvers (Ps. 31,6) auf den Lippen starb Jesus.

Lukas beschreibt die Veränderung, die danach einsetzte: Einer der abgestumpften Henkersknechte begriff endlich, dass sie einen Unschuldigen gekreuzigt hatten. 

Auch die Menschenmenge ging an jenem Karfreitag verwandelt heim. Sie konnten sich nicht wie sonst achselzuckend umdrehen und zum Tagesgeschäft übergehen. Die Macht ahnend, die vom Tod dieses Gerechten ausgehen würde, schlugen sie sich auf die Brust. 

„Ich seh und ich empfinde, den Fluch der Sünde.“ (RG 449,3)

…und erlöse uns von dem Bösen, das beten wir immer wieder, liebe Gemeinde.

In diesen Tagen und Wochen hat das Böse ein Gesicht bekommen.  

Und das Problem, wie damit umgehen, ist von bestürzender Aktualität.

Dietrich Bonhoeffer gibt eine durchaus provozierende Antwort auf die Frage: 

«Wie überwinden wir das Böse? 

Indem wir es vergeben ohne Ende. 

Wie geschieht das? 

Indem wir den Feind sehen als den, der er in Wahrheit ist, 

als den, für den Christus starb, den Christus liebt.»1

Christus starb für uns – dass glauben wir, liebe Mitchristinnen und Mitchristen. 

Aber er starb auch für die Feinde des Glaubens, die Feinde Gottes und die Feinde des Lebens.

Sehen wir den Kampf Jesu, den er für uns und für alle kämpfte in seiner ganzen Dimension?

Er zeigt uns einen Gott, der nicht apathisch/unberührt oder uns fernsteuernd in himmlischen Sphären sitzt. Unser Gott bleibt kein Zuschauer, sondern geht genau dahin, wo es weh tut. 

Schaut hin: Mitten im Leiden ist der Gerechte zu finden an der Seite der Sterbenden, der Unschuldigen, der Rechtlosen. 

Und noch einmal Bonhoeffer: „Jesus hat Frieden geschaffen mit all unseren Feinden am Kreuz. Diesen Frieden laßt uns bezeugen vor jedermann.“ 2

Amen 

Und der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, 

bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen

Pfarrerin Sabine Handrick

Jahrgang 1965, seit 2010 Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde Düdingen, Kanton Fribourg

pfarramt@refdue.ch

Quellen: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/48-wie-ueberwinden-wir-das-boese/

1 Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937-1940, DBW Band 15, S. 469f

2  a.a.O, S. 467

Liedvorschläge:

Jesus remember me, Taizé-Gesang

In manus tuas pater, Taizé-Gesang

Herr stärke mich, dein Leiden zu bedenken, RG: 449,1-3,6-7

Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, RG: 206,1-3

Du kannst nicht tiefer fallen, RG: 698

Sonne der Gerechtigkeit, RG: 795

Hoffen wider alle Hoffnung, rise up, 22

de_DEDeutsch