Festtags-Wort? Freiheits-Rede!

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Festtags-Wort? Freiheits-Rede!

Predigt zum Reformationssonntag 31.10.2021 | Gal. 5, 1-6 | Thomas Schlag |

Liebe Gemeinde,

was könnte man sich zu diesem Reformationsfest mehr wünschen als einen tiefsinnigen und wortgewaltigen Text aus der Feder bzw. dem angespitzten Schilfrohr des diktierenden Apostels Paulus. Und so sollen seine Festtags-Worte hier sogleich zu Gehör gebracht werden:

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Steht also fest und lasst euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft einspannen. 2 Seht, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. 3 Ich bezeuge nochmals jedem Menschen, der sich beschneiden lässt, dass er verpflichtet ist, alles, was das Gesetz verlangt, zu tun. 4 Ihr, die ihr im Gesetz Gerechtigkeit finden wollt, habt euch von Christus losgesagt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen! 5 Denn im Geist und aus Glauben warten wir auf die Erfüllung unserer Hoffnung: die Gerechtigkeit. 6 In Christus Jesus gilt ja weder Beschnittensein noch Unbeschnittensein, sondern allein der Glaube, der sich durch die Liebe als wirksam erweist.

Nun, stellen wir uns für einen Moment und über die Zeiten hinweg vor, dass Paulus selbst heute seine Worte vortragen würden. Und imaginieren wir, dass nicht die Galater, sondern wir selbst die unmittelbaren Adressaten wären: Träfe der Apostel dann eigentlich „mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit“[1] den heutigen reformatorischen Festanlass? Gelänge es ihm, auch uns, wie seinerzeit die Galater, als „eine Gemeinschaft von Pneumatikern“ anzusprechen und so als „Adressaten des gesetzesfreien Christusevangeliums“ zurückzugewinnen.[2] Oder gelingt der Sprung über die Zeiten hinweg doch nicht und bleibt alle Übersetzungsleistung angesichts der Tatsache der höchst fremden kulturellen Erbschaft prinzipiell fragwürdig?[3]

Reden zu einem bestimmten Festanlass sind ja ohnehin eine gefährliche Angelegenheit: Oftmals sind sie ohnehin zu lange. Manche Festredner bringen die Dinge nicht auf den Punkt und kommen nicht auf den Punkt. Auch wenn Anfang und Schluss noch einigermaßen gelungen sein können, bemühen sich Redende und Hörende oftmals durch den berühmt-berüchtigten „Mittelteil“. In anderen Fällen strotzt die Rede vor schrägen Metaphern, die gebogen werden, bis sie brechen. Oder im wieder anderen Fall wird mit unverhohlener Kennergeste das neueste Kalenderblatt-Gedicht eingespielt. Im schlimmsten Fall kommt es zu leicht anzüglich-peinlichen Anspielungen, die den Organisatoren die Schweißperlen auf die Stirn treiben.

Nun ist auf der anderen Seite natürlich festzuhalten, dass die öffentliche Rede zum entsprechenden Anlass ein hohes Kulturgut ist. Man möchte sich ja kaum vorstellen, dass eine feiernde Gesellschaft ganz ohne Wortbegleitung auskommt. Und so bleiben gelungene Reden noch lange über den eigentlichen Anlass hinaus in bester Erinnerung. Das ist oftmals just dann der Fall, wenn diejenigen, deren „Sache “ das öffentliche Reden nicht ist, die oftmals viel prägnanteren, spontanen und wirklich zu Herzen gehenden Worte finden als dies der wohlfeil-gedrechselten Tischrede des akademisch Gebildeten zu gelingen vermag.

Und wie ist das nun also mit dem apostolischen Grußwort, in den heutigen Tag hineingesprochen? Zu lange und schon gar nicht auf den Punkt? Oder dann doch prägnant, von Herzen und somit von nachhaltiger, erinnerungswürdiger Bedeutung?

Diese Frage ist alles andere als belanglos. Denn gerade am heutigen Festtag ist damit zu rechnen, dass Kirche eine etwas weitere Öffentlichkeit herstellt als zu den gewöhnlichen Zeiten des Jahres. Vielleicht findet der eine oder die andere den Weg in die Kirche, weil heute Besonderes geboten wird. Dass das Erinnerungsdatum des reformatorischen Neubeginns in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt, gibt dem Anlass sein besonders glanzvolles und stimmiges Erscheinungsbild. Landauf, landab finden heute am Reformationstag „besondere Gottesdienste“ statt. In musikalischer Höchstform, mit intensiver Gestaltungsfreude und – so steht überall zu hoffen – mit entsprechender Gemeindebeteiligung. Der öffentliche Protestantismus zeigt sich heute von seiner besten Seite: kulturprägend, gesellschaftsrelevant, anschaulich, und hoffentlich auch wortmächtig. Und fraglos sind damit die vielen Gottesdienste und Gemeinden am heutigen Tag besonders eindrücklich und stark miteinander verbunden und vernetzt.

Und nun also dieser elementar herausfordernde Text des Paulus, den manche Ausleger wohl ganz zu Recht in den Horizont eines „Entweder-Oder“ stellen: Knechtschaft und Sklaverei unter dem Gesetz oder Freiheit aus dem Evangelium – so lauten dann die Alternativen.[4] Und tatsächlich findet sich in diesen wenigen Versen wie in einem Extrakt die gesamte paulinische Gottes-, Menschen- und Weltdeutung wieder. Aber ist das heute noch nach innen in die eigene Gemeindewirklichkeit und auch nach außen in den weiteren öffentlichen Lebenshorizont vermittelbar oder ist wie im oben angedeuteten Beispiel eher mit Peinlichkeiten zu rechnen? Tatsächlich stehen die paulinischen Worte nicht wenig sperrig in der Festtagslandschaft und bedürfen im wahrsten Sinn des Wortes der plausiblen Aufschlüsselung:

Natürlich wäre es jetzt wesentlich, die damaligen historisch-theologischen Hintergründe des Briefs an die Galater ins Spiel zu bringen – gerade dort, wo es um die Frage des Gesetzesgehorsams geht. Tatsächlich erschließt sich auch in diesem Fall der „Mittelteil“ dieses Textes uns heutigen Hörenden nur noch schwer. Und es bedarf schon gehöriger theologischer Kenntnis, um die paulinischen Ausführungen zum Beschnittensein nicht nur und schon gar nicht primär als medizinische Anweisung zu verstehen.

Luther selbst bringt in seiner Vorrede zum Galaterkommentar in wunderbar elementarer Weise Genese und Geltung des Briefes auf den Punkt: „Die Galater waren durch S. Paulum zu dem rechten Christenglauben / und ins Euangelium von dem Gesetz gebracht. Aber nach seinem Abschied kamen die falschen Apostel / die der rechten Apostel Jünger waren / und wandten die Galater wider umb / das sie gleubten / Sie müsten durch des Gesetzes werck selig werden / Vnd theten sunde / wo sie nicht des Gesetzes werck hielten / Wie Act. xv. auch etliche zu Jerusalem hohe Leute furgaben.“. In der Tat geht es um einen formidablen „Entweder-Oder“-Streit. Aber lässt sich das angesichts aktueller politischer, gesellschaftlicher und religiöser Polarisierungen so zum neuerlichen Thema machen oder ist damit nicht sogleich der auf Versöhnung gestimmte Festtag in seinen Grundfesten gefährdet?

Um hier zumindest Entlastendes einzuwerfen: Entscheidend an der Argumentation in Kap. 5 – und es ist in der Tat eine höchst engangierte Argumentation – sind V1 und V5-6 als Anfang und Ende. Der Einschub in V 2-4 ist ein damals kontextuell höchst notwendiges Innehalten angesichts theologischer Unsicherheit, das aber vom Anfang lebt und auf das Ende zuführt. In der antiken Rhetorik braucht es sozusagen die Betonung des Gegenteils und die Abgrenzung, damit die Hauptidee umso klarer strahlen kann.

Wie „rettet“ man also den im Anfang und im Schluss steckenden Kern dieser Botschaft in die Gegenwart hinein – ohne zum einen das Wesentliche zu verpassen und ohne sich zum anderen in theologischen Abstraktheiten zu verlieren? Dieser Herausforderung ist schon deshalb nicht leicht zu begegnen, weil spätestens mit Vers 5 zentrale und essentielle Aspekte angesprochen sind, durch die die reformatorische Theologie ihr Grundprogramm entwickeln und immer wieder auf neue Weise prüfen konnte: „Denn im Geist und aus Glauben warten wir auf die Erfüllung unserer Hoffnung: die Gerechtigkeit“. Kein Wunder, dass Luther formuliert: „Dies Epistel an die Galater ist mein Epistel, der ich mich vertraut habe, meine Käthe von Bora.“

Damit steht jetzt die Relevanz dieser Freiheits-Rede für die heutigen und gegenwärtigen Festtags-Zeiten unübersehbar vor Augen: Tatsächlich deutet Paulus die Bekehrung der Galater, ihre „Hinwendung zum Christus-Glaube“, als ein Befreiungsgeschehen.[5] Und interessant ist dabei, dass durchaus politische Analogien mit im Spiel sind. Ja noch mehr: tatsächlich lässt sich hier so etwas wie ein spezifisch christliches Verständnis von Autonomie finden: „Christliche Autonomie ist … für Paulus nicht Gesetzlosigkeit, sondern Freiheit von Heteronomie sowie das Recht und die Pflicht gleichermaßen, nach dem ‚Gesetz Christi‘ zu leben.“[6]

Freiheit ist damit im Vergleich mit neuzeitlich-politischen Vorstellungen immer rückgebunden an die geschenkte Freiheit von Gott her. Die Freiheit, die Paulus im Sinn und Herz hat, kommt nicht aus uns selbst – wir müssen zu ihr befreit werden. In theologischem Sinn gilt: Keine Befreiung ohne vorhergehende Freiheitszusage. Das ist insofern theologisch konsequent, als natürlich auch der Glaube selbst nicht ohne seine grundlegende Passivität gedacht werden kann. Der Wille des Menschen muss also stets – wie Luther anschaulich formuliert – „durch den Heiligen Geist verändert und liebkosend angesäuselt“ werden.[7]

Diese öffentlich protestantische Freiheits-Rede gilt es am heutigen Festtag ins Bewusstsein zu bringen. Und dass sich damit zugleich eine höchst kreative utopische Idee verbindet, kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die Gestaltwerdung Christi im Menschen (vgl. Gal 4,19) „bezeichnet kein Programm, sondern die Notwendigkeit des Aufbruchs in noch nicht verwirklichte Zukunft.“[8]

Wem käme also an diesem Reformationssonntag der Freiheitsruf nicht leicht über die Lippen? Nun scheint sich einmal die Zunge schwerelos zu lösen, denn hier darf man unbedingte Zustimmung erwarten. Vollmächtig darf es schon sein – gerade wenn es um die Freiheit geht. All die theologischen und existenziellen Grossbegriffe des Paulus geben eine eindeutige Richtung vor: „Im Geist“… „aus Glauben“ … „die Erfüllung“ … „unserer Hoffnung“ … „die Gerechtigkeit“. Und dem setzt dann der nächste Vers mit seinem Verweis auf „die Liebe“ die Krone auf. Ein Text also voller theologischer Essenz und gleichzeitiger existenzieller Bedeutsamkeit. Paulus mag abstrakt klingen, er bringt die Dinge gleichwohl fundamental auf den Punkt – und doch bleibt dem heutigen Hörer die Aufgabe des eigenen Durchbuchstabierens deshalb nicht erspart. Zur Freiheitszusage gehört auch die Zumutung, den eigenen Freiheitsgeist im Zusammenspiel mit anderen freien Geistern zum Vorschein zu bringen.

Dass eine solche biblisch grundierte Freiheits-Rede so wirkmächtig wie folgenreich ist, mag man an den Zeilen der Autorin und Aktivistin Marianne Williamson bestätigt finden (die man übrigens später fälschlicherweiser Nelson Mandela zuschrieb): „Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind. Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich mächtig sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, die uns am meisten ängstigt. Wir fragen uns: ‚Wer soll ich sein – brillant, großartig, talentiert und fabelhaft?‘ Tatsächlich: Wer bist Du, dass Du das nicht sein solltest? Wenn du dich klein machst, ist der Welt nicht gedient. Es hat nichts Erleuchtetes, sich so klein zu machen, dass sich andere in deiner Nähe nicht unsicher fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit, die in uns ist, zu manifestieren. Sie ist nicht nur in uns, sie ist in jedem. Wenn wir unser eigenes Licht leuchten lassen, geben wir anderen unbewusst die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von Angst befreit sind, befreit unsere Gegenwart automatisch auch andere.“[9]

Sei es jener biblische, sei es dieser poetische Text: Beide verweisen darauf, dass die Konsequenzen solcher Freiheits-Rede im Einzelfall des eigenen Lebens noch keineswegs abschließend oder alternativlos geklärt sind. Die Tiefendimension des paulinischen Agape-Verständnisses zeigt sich in einer schönen Übersetzungsdifferenz des Schlusssatzes V.6 zwischen Luther-Bibel: „der Glaube, der durch die Liebe tätig wird“ und Zürcher Bibel: „allein der Glaube, der sich durch die Liebe als wirksam erweist.“ Zwischen Tätig-werden und Wirksamkeits-Erweisung liegt mehr als nur ein Übersetzungsunterschied: Es eröffnet sich vielmehr ein ganzes Feld unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten dessen, wie man sich den Zusammenhang von Glaube und Liebe im besten Fall vorstellen kann. Manches wird sich an uns und mit uns ereignen, zu anderem werden wir uns durchringen und aufschwingen müssen. Das jeweils Notwendige mit aller gewissenhaften Vernunft prüfen zu dürfen und prüfen zu können – und dabei die Komplexitäten des Lebens nicht überspielen zu müssen – ist ebenfalls wesentlicher Teil dieser göttlichen Freiheitsgabe.

Eine solche je individuell gegebene Deutungsvielfalt steht der öffentlichen protestantischen und hoffentlich immer wahrhaftigen Freiheits-Rede im Jahr 2021 jedenfalls bestens zu Gesicht. Dies trifft erst recht dann zu, wenn von dieser Freiheit gesagt ist, dass es diese „nicht etwa erst zu gewinnen, sondern nur noch zu wahren und nun auch zu leben gi1t.“[10]

Zweifellos sind auch Paulus‘ Worte von dieser Art befreiter und befreiender, gesellschaftssensibler und utopisch ausgerichteter Wirksamkeit. Und so könnte man sich für den heutigen Reformationssonntag wohl tatsächlich keinen besseren Redner und keine aufschlussreicheren Worte als die an die Galater vorstellen. Amen.

Prof. Dr. Thomas Schlag ist der Herausgeber der Göttinger Predigten im Internet. Er ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Universität Zürich. Zudem ist er Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) und Direktor des Universitären Forschungsschwerpunkts „Digital Religion(s). Communication, Interaction and Transformation in the Digital Society“.

[1] Hans-Joachim Eckstein, Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes. Eine Auslegung des Galaterbriefes. Göttingen 2017, 155.

[2] Vgl. Susanne Schewe, Die Galater zurückgewinnen. Paulinische Strategien in Galater 5 und 6, Göttingen 2005.

[3] Vgl. Paul Ricoeur, Vom Übersetzen. Herausforderung und Glück des Übersetzens, Berlin 2016.

[4] Vgl. Hans-Joachim Eckstein, Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes. Eine Auslegung des Galaterbriefes. Göttingen 2017, 155ff.

[5] Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Göttingen, 3. überarbeitete Aufl. 2021, 375.

[6] Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Göttingen, 3. überarbeitete Aufl. 2021, 377.

[7] So in De servo arbitrio, WA 18, 634, 37f., zit. bei Christiane Tietz, Der Glaube – sein Charakter, seine Nachbar- und Gegenbegriffe aus systematisch-theologischer Perspektive, in: Friedrich W. Horn (Hg.), Glaube, Tübingen 2018, 153.

[8] Ernst Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen, 3. Aufl. 1993, 59.

[9] Im Original: „Our deepest fear is not that we are inadequate. Our deepest fear is that we are powerful beyond measure. It is our light, not our darkness, that most frightens us. We ask ourselves, ‚Who am I to be – brilliant, gorgeous, talented, and fabulous?‘ Actually, who are you not to be? Your playing small doesn’t serve the world. There is nothing enlightened about shrinking so small that others won’t feel insecure around you. We were born to make manifest the glory that is within us. It’s not just in us, it’s in everyone. As we let our own light shine, we unconsciously give others permission to do the same. As we are liberated from fear, our presence automatically liberates others.“

[10] So Gerhard Ebeling, zit. in: Peter von der Osten-Sacken, Der Brief an die Gemeinden in

Galatien, Stuttgart 2019, 241.

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