Gal. 5,25-6,10

Gal. 5,25-6,10

Nach-gemacht | 15. n. Trinitatis, 25. Sept. 2022 | Gal. 5,25-6,10 | Eberhard Busch |

Nicht wahr, das ist ein wunderlicher Ausdruck, der in der Mitte unseres Predigttextes vorkommt: „das Gesetz Christi“. „Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Hat Christus tatsächlich ein Gesetz verfasst? Jawohl, und offenbar hat er das Recht dazu. Es ist ein Gesetz, das unbedingt gültig ist. Ein Gesetz, das verbindlich ist zuerst für alle, die diesem Einen Folge leisten. Er kann das, er darf das, solch ein Gesetz aufstellen. Er ist nicht bloß der liebe Heiland, so als wäre er ein Kuscheltier, das man je nach Lust und Laune hervorholen und dann wieder in die Ecke stellen kann. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben, wenn wir nicht begreifen, dass er, der liebe Heiland, auch unser Gebieter ist, der, der uns zumutet, was wir zu tun haben.

Dabei mutet er uns nicht etwas zu, wovor er selber sich drückt. Er handelt nicht so wie manche Regenten, die den Leuten Vorschriften machen, die für sie selbst aber unverbindlich sind. Vorschriften, dass das gemeine Volk den Gürtel enger schnallen soll, während sie selbst genießen. Vielmehr, das Gesetz Christi ist das, woran er sich selbstgehalten hat. Ja, er hat sein Gebot so vorgetragen, dass zunächst er das getan hat, was es verlangt. Man muss noch stärker sagen: er hat sein Gebot so kund getan, dass er es zunächst ganz allein erfüllt hat. Das hat er getan für uns, und so, wie es keiner von uns ihm nachmachen kann.

Worum geht es? Darum, was in dem alten Choral angestimmt wird: „O Lamm Gottes unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet. … All Sünd hast du getragen, sonst müssten wir verzagen. Erbarm dich unser, o Jesu.“ Oder so in dem noch älteren Lied: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt. Gib uns deinen Frieden.“ Hören wir! – „all Sünd“, „die Sünde der Welt“! Die Last ist ganz unerträglich, die ihm da zu tragen aufgebürdet ist. Unheimlich lästig, was ihm da zugemutet und zugestoßen wird. Das hat ihm den Atem geraubt. Das hat ihn erdrückt: die Last der Anderen. Welche Last – das fürchterlich Verkehrte, dazu der Unfug der Lüge, mit der man sich darüber hinwegtäuscht. Nicht nur der und jener tut das, auch bei mir ist das der Fall.

Doch, wir dürfen aufatmen, all diese Last hat Er getragen, ertragen, weggetragen. Das hat er getan, damit sie uns nicht bedrückt, damit sie uns nicht am Ende gar erdrückt. Das hat er vollbracht, damit auf alle Fälle diese Last uns nicht hindert, uns aufzurichten. Sie muss, sie darf uns nicht länger belasten. Was Christus getragen hat, das müssen wir nicht noch einmal tragen. Er hat es abgetan. Die Bitte ist erhört: Wir müssen nicht verzagen. Er gibt uns seinen Frieden. Wo das Gesetz Christi gilt, da darf man mit dem verbreiteten Spruch des früheren Schweizer Bundesrats Adolf Ogi sagen:  „Freude herrscht“. Anders mutet uns Christus sein Gesetz nicht zu als so, dass er uns vor allen Dingen tief aufatmen lässt. Sein Gesetz und unsere Freiheit – das sind keine Gegensätze. Man kann das Eine nicht ohne das Andere haben. Wir werden nicht frei sein außer im Rahmen seines Gebietens. Und wir werden ihm nicht folgen außer in der guten Luft der Freiheit.

Nachdem er uns entlastet hat, wissen wir, was wir auf unsren nun freien Schultern anzufangen haben.  Denn so lautet das Gesetz Christi für uns: „Einer trage des Anderen Last“.  Oder dasselbe in einer neuen Übersetzung: „Helft einander, eure Lasten zu tragen“. Was es heißt, der Anderen Last zu tragen, das hat Er uns vor-gemacht, in seiner Weise. Und das hat er gemacht, damit wir es ihm nach-machen, in unsrer Weise.

Was ist die Last, die uns auferlegt ist? Das, was uns schwer fällt, das, womit wir uns nicht abfinden können und doch abfinden müssen, Unabwendbares, Verlust eines Partners, Altwerden, unheilbare Krankheit. Manchmal kann uns auch etwas scheinbar Leichtes ganz schwer sein. Das alles ist mühsam zu tragen. Es gibt wohl auch Lasten, die man abschütteln darf. Doch es gibt Lasten, die getragen sein müssen. In einem Volkslied heißt es: „Jeder hat auf seinem Gleise / etwas, was ihm Kummer macht“.

Jeder! wohlgemerkt: auch mein Nächster. Er geht uns etwas an. Mein Mitmensch. Mein Mitchrist. Und vielleicht gerade die, die mir Kummer machen. Oder die, an die wir am wenigsten denken. Unter der schönen Außenhaut sieht mancher oft anders aus, als es scheint. Haben wir uns schon einmal klar gemacht, die Anderen könnten nicht bloß ein sonny boy oder eine sonny girl sein? Oder denn, die uns Lästigen möchten uns etwas Anderes sein als nur Schwerenöter? Sie werden, vielleicht im Verborgenen, Lastenträger sein, solche, die seufzen, solche, denen es zu schaffen macht, dass sie im Grunde schrecklich allein sind, dass sie niemanden haben, der ihnen die Hand reicht – eine Hand in der Not, mit der sie sich nicht abfinden können und doch abfinden müssen.

„Helft einander!“, ist uns gesagt. Das ist gewiss leichter gesagt als getan. Der Andere, die Andere – o wie können uns diese Mitmenschen, diese Mitchristen auf die Nerven gehen, uns lästig sein, uns aus dem Gleichgewicht bringen. Es heißt in der Bibel: „Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen“ (Ps 133,1). Schön, aber wie oft ist solche Eintracht gestört durch Zwietracht! Seit den ersten Menschen, seit Kain und Abel. Immer wieder gibt es unter Geschwistern Rivalität, ja, Geschwisterstreit. Das kommt in den besten Familien vor. Man hilft nicht einander. Man stört einander. Bis aus dem Miteinander ein übles Gegeneinander wird.

Und es gibt unter uns ein nicht weniger schreckliches Nebeneinander. Man denkt da: Was gehen mich die Anderen an! Und wo man so denkt, da handelt man auch derart: Eigentlich sind die mir schnuppe! Einander sollen wir helfen, Lasten zu tragen? Nein, ich habe von Anderen auch nichts bekommen. „Macht euren Dreck alleene“, wie der sächsische König bei seiner Abdankung einst sagte. Ich ziehe mich auf mich selbst zurück und schaue nur noch für mich. Und so wird man ein Einzelgänger und zuletzt gar ein kleiner oder großer Egoist. Ohne Andere!

Was da auf der ganzen Linie ausbleibt, ist, dass wir uns um unsere Nächsten kümmern, die doch unsere Geschwister sind. Was ausbleibt, ist dies, was der Apostel uns ins Gewissen schreibt: „Helft einander, eure Lasten zu tragen.“ Ohne Vergebung, ohne Versöhnung funktioniert das nicht – nicht, ohne dass uns ein Licht von oben leuchtet. Es ist das Licht jenes einen großen Lastenträgers. Er hat sich belastet mit Sündern. In dieser seiner Verbindung ausgerechnet mit uns wird die Verbindung untereinander geboren. Täuschen wir uns nicht!, es ist die Verbindung von solchen, die einander viel zu vergeben haben. Dass Christus uns unser Versagen vergibt, das flößt uns Kraft und Mut ein, derart Lasten zu tragen, dass wir unsren Mitmenschen Fehltritte nicht nach-tragen.

Wenn wir das wagen, erkennen wir in x-beliebigen Andren unsre Nächsten, unsre Verwandten. So kommen wir heraus aus unserem Gegeneinander und Nebeneinander. So entsteht ein hilfreiches Miteinander, so entsteht Gemeinschaft. Sie beruht auf Teilnahme. Und auf Teilgabe. Wir dürfen uns einander zumuten. Alleinsein ist ein Missstand. Das ist nicht im Sinne Jesu. Es heißt im Lied: „Er das Haupt, wir seine Glieder./ Er das Licht und wir der Schein./ Er, der Meister, und wir Geschwister, / er ist unser, wir sind sein.“ Wo Er das Haupt wird, wird uns der Weg zu unsrem Nächsten eröffnet.

Oder dünkt es uns zu schwer, sich auch noch mit den Mühen Anderer abzugeben? Während der Verfolgung durch die Jungtürken 1915 suchte eine junge Armenierin ein Kind zu retten, das sie auf den Armen trug.  Als ein Helfer sie fragte, ob das nicht zu schwer für sie sei, antwortete sie: „Ich trage keine Last, ich trage meinen Bruder.“ Davon können wir lernen. Die Lastenträger, die Anstrengenden sind unsere Geschwister. Es wäre ein Verlust für uns, sie im Stich zu lassen.

Wir können vielleicht nichts Großes tun, aber wir können das Unsrige tun. Das traut Jesus uns zu. Wir können aufrichten, statt zu richten. Wir können einander entlasten, statt einander zu belasten. Nicht jeder wird dabei eine Ärztin oder ein Pfleger sein, so willkommen sie sind. „Diene ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“, heißt es in der Bibel (1Petr 4,10). Lassen wir uns etwas einfallen, wie wir unter uns dafür sorgen möchten, das Leben zu erleichtern! Es ist dabei nützlich, wenn wir versuchen, uns in die Situation der Anderen hinein zu denken. Dann verstehen wir, wie es der Reformator Calvin sagte: „Wie kein Glied unsres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das nicht zugleich auf alle anderen übertragen wird, so können wir es auch nicht ertragen, dass ein Bruder, eine Schwester von einem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst durchlitten.“

Hören wir, was der Apostel an anderer Stelle sagt (Eph. 4,29f): „Redet nicht schlecht von einander, sondern habt ein gutes Wort für jeden, der es braucht. Was ihr sagt, soll hilfreich und ermutigend sein, eine Wohltat für alle. Schreit einander nicht an, redet nicht schlecht über andere und vermeidet jede Feindseligkeit. Seid vielmehr freundlich und barmherzig und vergebt einander, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ Dazu passt, was Martin Luther in der Erklärung der zehn Gebote sagt: Wir sollen unsren Nächsten „entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“ Sind diese Worte zu groß für uns? Lassen wir sie zu uns reden!


Eberhard Busch

ebusch@gwdg.de

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