Galater 5,25-6,10

Galater 5,25-6,10

Schon wieder?| 15. So nach Trinitatis | 25.9.2022 | Gal 5,25-6,10 | Nadja Papis |

Nicht schon wieder! Das hatten wir doch alles schon mal!

Nach dem Bericht aus Galatien seufzt Paulus auf, ja, vielleicht ist es sogar ein gequältes Stöhnen oder ein genervtes Kopfschütteln.

Muss das jetzt sein? Ausgerechnet jetzt?

Er hätte auch sonst genug zu tun, es läuft gerade alles schief, ein einziges Chaos. Und jetzt das noch. Fangen die wieder an mit der Beschneidungsgeschichte!

Warum kapieren die das denn nicht?

Die Situation ist nämlich die: Die von Paulus gegründeten Gemeinden in Galatien wurden von anderen Aposteln aufgesucht und die haben für mächtig Unruhe gesorgt, schlechte Stimmung verbreitet gegen Paulus und die Leute verunsichert. Paulus sei ja nicht mal ein richtiger Apostel und was er verkünde, völlig daneben. Immer wieder kam im Urchristentum die Frage auf, ob Christen und Christinnen die jüdischen Gesetze einhalten müssen, auch wenn sie ursprünglich nichtjüdisch gewesen sind. Muss ein nichtjüdischer Mann, der Christ wird, sich beschneiden lassen? Eine Frage, die heute keine Rolle mehr spielt – und gemäss Paulus schon seit dem Kreuz keine Rolle mehr spielen müsste. Daran entzündeten sich grundsätzliche Diskussionen über das Gesetz, christliche Freiheit und christliche Lebensweise.

Müde reibt Paulus sich über das Kinn. Also gut, dann eben… Er setzt sich hin und gibt seinem Schreiber einen Brief in Auftrag. Hinreisen nach Galatien kann er im Moment nicht, zu dringend sind die Aufgaben an seinem Aufenthaltsort und eigentlich überall. Aber schreiben kann er ihnen, einen Rundbrief zum Vorlesen. Er hat ja schon Übung darin: ein bisschen Beziehungspflege, ein bisschen Legitimation seiner Verkündigung und dann der Kern seiner Botschaft – die Freiheit vom Gesetz und das christliche Leben in dieser Freiheit – gut zusammengefasst. Sie kennen die Botschaft ja eigentlich schon, aber irgendwie hat sie nicht lange angehalten oder ist doch nicht ganz durchgedrungen. Vielleicht dieses Mal… Also, wo waren wir? Beziehungspflege, Legitimation und dann der Kern, gut.

Und dann kommt der heutige Predigttext als sogenannte Schlussparänese, also Mahnungen und Anweisungen für das Leben kompakt in einem Block zusammengestellt. Hören wir Gal 5,25-6,10:

Wenn wir im Geist leben, wollen wir uns auch am Geist ausrichten. Lasst uns nicht eitlem Ruhm nachjagen, einander nicht reizen, einander nicht beneiden.

Liebe Brüder und Schwestern: Auch wenn jemand bei einem Fehltritt ertappt wird, so sollt ihr, die ihr vom Geist bestimmt seid, den Betreffenden im Geist der Sanftmut zurechtbringen – doch gib acht, dass nicht auch du in Versuchung gerätst!

Tragt einer des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Denn wer meint, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, der betrügt sich.

Jeder prüfe sein eigenes Werk! Dann wird er nur im Blick auf sich selbst Grund haben, sich zu rühmen – und nicht im Blick auf die anderen, denn jeder wird seine Bürde zu tragen haben. Wer aber im Wort unterrichtet wird, lasse den, der ihn unterrichtet, an allen Gütern teilhaben.

Täuscht euch nicht: Gott lässt sich nicht verhöhnen! Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Wer auf sein Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten. Wer auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Im Tun des Guten wollen wir nicht müde werden, dann zu gegebener Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten. Darum lasst uns, solange wir noch Gelegenheit haben, allen Menschen Gutes tun, am meisten aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind.

Beim ersten Lesen fielen mir Sätze auf, die wie Spruchweisheiten tönen:

Es trage einer der anderen Last…

Jeder wird seine Bürde zu tragen haben…

Was der Mensch sät, wird er auch ernten…

Ja, diese Sätze unterschreibe ich gern, hänge sie vielleicht an den Kühlschrank oder male sie mit Handlettering als Wortbild. Ich denk noch einen Moment daran, fühle mich wohl und bestärkt und vergesse sie dann bald wieder. Sie betten mich in ein weiches Gefühl ein, eine Bestätigung, aber wirklich bewegen tun sie nichts.

Die Auseinandersetzung mit dem Text und vor allem auch mit der Situation hat mich aber bewegt, sehr bewegt. Da steckt viel Herausforderung drin. Ich nehme Sie gerne mit auf meine Entdeckungsreise.

Das griechische Wort, welches auffallend oft in diesen Versen vorkommt, bedeutet «einander» (griech. allelon). Es beginnt schon etwas vorher, in Gal 5,13: Zur Freiheit seid Ihr berufen worden, aber gebt acht: Dass Freiheit nicht zu einem Vorwand für die Selbstsucht wird, sondern dient einander in Liebe.

Einander – einer der anderen, eine dem anderen – dieses Wort drückt für mich Gleichwertigkeit aus, Gegenseitigkeit, Gemeinschaft.

Kürzlich erhielt ich einen dringenden Anruf, ich solle mich um Frau X kümmern, sie sei ganz allein. Als ich mich bei ihr meldete, war sie äusserst erstaunt: Sie sei alles andere als allein, sie habe doch ihre Nachbarn. Ja, in unserer Gemeinde funktioniert die Nachbarschaftshilfe wunderbar. Die Menschen sorgen füreinander, nicht nur äusserlich durch das Füttern der Haustiere oder das Giessen im Garten, sondern auch in den inneren Krisen und Nöten. So habe ich schon oft erlebt, dass Nachbarn bei einem Todesfall ungefragt Essen vorbeibringen. Oder Dienste übernehmen, welche die verstorbene Person immer leistete. «Das hat sie ja auch für mich gemacht, damals, als ich es brauchte», ist die Begründung.

Einander – gegenseitig, gleichwertig, in Gemeinschaft.

Paulus kehrt alles um – nein, er würde zornig aufschreien – nicht Paulus, sondern Christus, dort am Kreuz. Nach dem Kreuz kann es keine Hierarchie mehr geben, keine herausragende Stellung, ein Besser, schöner, wichtiger. Vertikale Autorität ist vorbei. Alle sind auf einer Höhe, Gott, sich selbst und einander verpflichtet.

Es ist eine faszinierende Vision davon, was Identität unter der Bedingung von Erlösung heisst. Keine Schubladisierungen mehr, keine Abwertungen, keine Versklavungen, keine Selbstsucht, keine Unterdrückung: Freiheit für alle! Freiheit, mich selbst zu sein und dich anzuerkennen. Freiheit, mich in den Dienst zu stellen, ohne entwürdigt zu werden. Freiheit, mich einzubringen, ohne etwas Besonderes sein zu müssen. Und dabei ist diese Freiheit nicht grenzenlos: Die Liebe gibt den Rahmen und bildet das Zentrum, die Liebe mit den drei Polen des Liebesgebotes: Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe. Mehr braucht es nicht. Wer in diesen drei Polen liebt und lebt, ist frei. Und muss nichts Besonderes sein, sondern einfach sich selbst. Denn: Wer meint, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, betrügt sich selber. Das ist dicke Post. Heute ist ja jeder ein Star. Schon den Kindern wird vermittelt: Du bist etwas ganz Besonderes! Wenn nicht für die Welt, dann wenigstens in der Familie oder als Freundin. Und auch heute vergleichen wir uns immer noch gerne, beneiden einander und suchen im Blick auf andere den eigenen Ruhm. Wir sind alle gleich gut, aber… Mein Kind ist früher gelaufen. Unsere Kirchgemeinde ist eben schon sehr lebendig. Ich hatte viel mehr Klicks bei meinen Online-Gottesdiensten. Täuscht euch nicht: Gott lässt sich nicht verhöhnen! Schaut auf das, was ihr sät, das werdet ihr auch ernten.

Es ist eine Herausforderung, diese Umkehrung, diese neue Form des Miteinander, welche die Liebe ins Zentrum stellt. Menschen auf Augenhöhe, alle, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Alter, Aussehen. Tönt ziemlich modern, oder nicht?

Einander – gegenseitig, gleichwertig, in Gemeinschaft.

Paulus ist realistisch. An diesem Massstab des Miteinander sollen wir uns ausrichten. Wir werden ihn aber nicht immer erreichen. Passt auf! Passt immer wieder auf, dass aus dem «Einander» kein «für mich allein» wird und auch kein «immer zuerst die anderen», dass sich kein Ungleichgewicht einschleicht, dass ihr auf Augenhöhe bleibt. Nicht dass dann doch wieder die einen mehr zu sagen haben als die anderen.

Nichts anderes ist ja in Galatien passiert. Da kamen welche, die für sich eine grössere Autorität in Anspruch nahmen, es besser wussten und überzeugten. Zurück zum Alten und alle rennen hinterher. Es ist so viel einfacher, als diese innere Veränderung auf sich zu nehmen, als an der Kultur zu arbeiten und tiefsitzende Überzeugungen zu durchbrechen. Es tut auch weh oder verunsichert, das Gewohnte loszulassen, besonders wenn es scheinbar zum Nachteil für mich ist. Für Paulus hat das Kreuz, die Erlösungstat Christi, die Voraussetzung für dieses freie, gleichwertige Miteinander geschaffen. Diese Erlösungstat war so skandalös, dass wir aus unsere Komfortzone geschleudert wurden. Es ist gar nicht möglich, sich nicht zu verändern, angesichts des Kreuzestodes.

Und trotzdem… In der Geschichte der christlichen Kirche gab es so viel «schon wieder». Schon wieder wurden Autoritäten aufgestellt, schon wieder Hierarchien errichtet und schon wieder Menschen entwürdigend herabgesetzt. Wir arbeiten dran und wollen nicht müde werden im Tun des Guten.

Und ich bin überzeugt: Gott gibt die Hoffnung nicht auf mit uns Menschen! Darum lasst uns, solange wir noch Gelegenheit haben, allen Menschen Gutes tun, am meisten aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind. Amen


Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch


Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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