Galater 4, 4-7

Galater 4, 4-7

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1.

Weihnachtstag, 25. Dezember 2001

Predigt über Galater 4, 4-7, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost


„Da aber die Zeit erfüllt ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren
von einem Weib und unter das Gesetz getan, auf dass er die, so unter dem
Gesetz waren, erlöste, dass wir die Kindschaft empfingen.

Weil ihr denn Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in

eure Herzen, der schreit: Abba, lieber Vater! Also ist nun hier kein Knecht

mehr, sondern eitel Kinder; sind’s aber Kinder, so sind’s auch Erben Gottes

durch Christus.“

Liebe Gemeinde,
Morgen, Kinder, wird’s was geben! So sang man in meiner Kinderzeit an
den Tagen vor dem 24. 12., um die Spannung auf die Bescherung am Heiligen
Abend, die frohe Erwartung auf die Geschenke zugleich zu mildern und zu
verstärken, – bis die Zeit des Wartens erfüllt wäre:

Morgen, Kinder, wird’s was geben,
morgen werden wir uns freun,
welch ein Jubel, welch ein Leben,
wird in unserm Hause sein!
Einmal werden wir noch wach,
heissa dann ist Weihnachtstag.

Ein Kinderlied, ein Kindergeburtstagslied – und so kindlich-fröhlich
geht es auch weiter:

Wie wird dann die Stube glänzen
von der großen Lichterzahl!
Schöner als bei frohen Tänzen
ein geputzter Kronensaal.
Wißt ihr noch, wie vor’ges Jahr
es am heil’gen Abend war?

Diese zweite Strophe erinnert an das Fest im vergangenen Jahr mit seiner
bunten Fröhlichkeit, nicht etwa an Christi Geburt, nein, von Stall
und Krippe ist weit und breit nichts zu sehen; ein Kindergeburtstag mit
Geschenken, Spielzeug und Lichtern wird gefeiert, – in diesem Lied.

Wißt ihr noch mein Räderpferdchen,
Malchens nette Schäferin,
Jettchens Küche mit dem Herdchen
und dem blankgeputzten Zinn?
Heinrichs bunter Harlekin
mit der gelben Violin?

Man spürt wie die Kinder mit pädagogisch geeignetem Spielzeug
in ihre sozialen Rollen in einem tugendhaften Bürgerhaus eingewiesen
werden, in die Landwirtschaft und das Transportwesen, in Küche und
Haushalt, und auch in die Hausmusik.

Es treten aber auch die Weihnachtsmärkte auf unseren Straßen
und Plätzen vor Augen, und sie gehören tatsächlich in die
Festkultur, von der dieses Lied singt; denn es ist zwar schon zweihundert
Jahre alt, genau aus dem Jahr 1795, aber es ist damit ein Zeugnis der
bürgerlichen Aufklärung, die auch in den Festtagsbräuchen
bei uns ihren großen Einfluß weiterhin ausübt, mit Tannenbäumen
und Knusperhäuschen, mit Adventskränzen und Räuchermännchen,-
und den Kerzenpyramiden, ein Familienfest mit Teepunsch und Christstollen
… Die gebildeten und einigermaßen begüterten Menschen jener
Zeit feierten Weihnachten als Geburtstag, als ein Kindergeburtstagsfest,
so ähnlich wie heute. Und sie meinten wie viele Menschen heute, mit
diesen Feierlichkeiten die Worte des Paulus auszulegen und Jesus als den
von Gott gesandten und „von einem Weibe geborenen“ Sohn Gottes
zu feiern; sie feierten Christi Geburtstag, wie man einen Kindergeburtstag
feiert. Das war nicht zu allen Zeiten so, sondern erst seit der Blüte
der bürgerlichen Kultur, und es findet sich auch heute überall
dort, wo die Kultur des mitteleuropäischen Bürgertums lebendig
ist:

Wißt ihr noch den großen Wagen
und die schöne Jagd von Blei?
Unsre Kleiderchen zum Tragen
und die viele Näscherei?
Meinen fleiß‘ gen Sägemann
mit der Kugel unten dran?

In dieser vierten Strophe spiegeln sich die Wünsche der Großen
im Spielzeug der Kinder: Die Jagd, die Mode, die Mobilität. Was wäre
unser Weihnachtsfest ohne diese Zutaten? Weihnachtsschmuck und Geschenke
prägen unsere Weihnachtsfeiern, und vor allem die fröhlichen
Überraschungen, die Wichteleien und Naschereien, wie sie das Fest
seit jener frühromantischen Erlebnisgesellschaft der Wende zum 19.
Jahrhundert bis heute begleiten.

Weihnachten, ein Kindergeburtstag, so kann man es durchaus sehen, singen
und sagen; so singt es dieses alte, so singen es noch viel ältere
Lieder, – und Paulus scheint in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien
diesen Gedanken zu unterstützen: Gott ist Mensch geworden, ein Gott
ist auf die Erde gekommen und hat den Menschen seine Huld zugewandt.

Aber zwischen Paulus und den aufgeklärt-romantischen Bürgern
der Neuzeit liegen doch Welten – und deshalb passt das Kinderweihnacht-Geburtslied
nur zum Einstieg in eine Predigt über Christus, den Sohn Gottes –
und seine Geburt.. Denn auch die ausgiebigste und fröhlichste Feier
eines Kindergeburtstags, ja selbst die Geburt eines Thronfolgers, und
sei er auch dynastisch vom richtigen Geschlecht, wird übertroffen
von dem, was hier allen Menschen geschieht: Sie werden Gott näher
gebracht, sie werden von ihm adoptiert, sie werden an Kindes Statt angenommen.
Nicht so nah wie der Sohn selbst stehen die Menschen bei Gott, aber immerhin
an Kindes Statt!

Wir könnten auf die ganze Ausstattung verzichten, auf Essen, Licht,
Spielzeug und Tannengrün, und es wäre trotzdem Weihnachten,
denn es gibt diesen einen unübertrefflich wichtigen Grund zum Feiern
jenseits der fröhlichen Erlebniskultur: Gott nimmt alle Menschen
an Kindes Statt an, „wir empfangen die Kindschaft“.

Aber ist eine Adoption nicht eher eine schwierige und mühsame Sache?
Zermürbendes Warten auf die Bearbeitung des Antrags, langsames Mahlen
der bürokratischen Mühlen, durchaus langsamer als die sprichwörtliche
Langsamkeit der Mühlen Gottes – und allemal ein Wagnis, das erst
dann so richtig deutlich wird, wenn das Kind endlich da ist, wenn die
Sorge beginnt, ob es sich eingewöhnen wird in der Familie, die nicht
seine leibliche ist, ob es wirklich eines Tages dazugehören wird.

Von solchen Sorgen ist die Weihnachtsfreude frei: Gott adoptiert die
Menschen so, wie es die Alte Welt nur Kaisern und Pharaonen zutraute,
dass sie von einer Gottheit adoptiert worden seien. Nur den höchsten
Herrschen wurde eine derart unglaubliche Auszeichnung zuteil: Als Sohn
Gottes adoptiert zu werden. Für die Leute auf der Straße wäre
es völlig absurd gewesen, Auszeichnungen dieser Art für sich
zu beanspruchen. Seit und mit Christi Geburt aber ist der Gedanke in der
Welt, dass alle Menschen Kinder Gottes sind … und Erben seines Reiches.

Wir alle sind Adoptivkinder Gottes! Wir sind an Kindes Statt angenommen.
Gott hat uns seinen Geist gegeben, er hat uns mit seinen Worten angesprochen,
er lädt uns an seinen Tisch ein, immer wieder, wir sind Kinder mit
gleichen Rechten, sogar mit Erbrecht. Auch wenn uns Gott manchmal fern
und fremd erscheint, den Eindruck macht, als würde er uns stiefväterlich
oder -mütterlich behandeln. Der Glaube, wir dürften uns alle
Kinder Gottes nennen, dieser Gedanke ist ein für allemal in der Welt
seit Christi Geburt.

Das sind märchenhafte Worte und Vorstellungen, als würden wir
von Aschenputtel erzählen, die Schwiegertochter des Königs wurde,
oder was der Märchen mehr sind. Und es ist tatsächlich mindestens
so schön wie im Märchen, in dem jeder einzelne sich als Königskind
und Gotteskind fühlen darf. Aber zugleich ist die Weihnachtsgeschichte
viel mehr als ein Märchen, denn sie ist ganz wirklich, auch heute:
Wir sind alle Kinder und Erben Gottes, – aber nicht, weil Gott tot wäre,
und nun sein Testament eröffnet würde, auch nicht, weil Gott
sein Ende nahen spürte, und seine letzten Verfügungen träfe,
sondern wir werden als Erben angesprochen, weil er uns seinen Besitz schon
zu Lebzeiten übertragen hat: Wir sind Miterben dieser Welt, alle
Menschen hat er zu Erben berufen, und wer sich diese Deutung gefallen
lässt, der wird merken, wo er an Gottes Besitz beteiligt ist: Jeder
Atemzug, jedes Stück dieser Erde, jedes Eckchen Zeit ist ein Anteil
am Erbe Gottes … und auch jeder Mitmensch ist ein Teil dieser Erbschaft,
der wichtigste Teil des Erbes aber ist die Freiheit der Kinder Gottes;
wir sind frei, mit dem Erbe nach eigenem Ermessen umzugehen. Als Bestätigung
des Erbes und Orientierung des weiteren Verfahrens haben wir gewisserrmaßen
als Urkunden, die das Geschehen bestätigen, die beiden Testamente
mit ihren tiefen Worten, die uns mit Güte und Hoffnung erfüllen,
wenn sie auf uns wirken können.

Gott hat seinen Besitz den Menschen übertragen, sie sind seine Erben,
gerade weil er lebt und durch sein Wort immer weiter regiert.
Es ist eine riskante Entscheidung. Denn nach menschlichem Ermessen ist
es schwer, zu Lebzeiten den Erben am eigenen Besitz Anteil zu geben. Wer
weiß, was sie daraus machen werden? Werden sie das Erbe schon an
sich reißen, ehe Vater oder Mutter ihre Sachen geordnet haben? Das
ist vielfach schmerzliche Erfahrung, ein Stück von dem Gesetz, von
dem Paulus spricht, von den Existenzbedingungen des Menschenlebens.
Es ist eine sehr mutige, aber auch weise Entscheidung Gottes, und unter
Menschen tatsächlich nicht unproblematisch, wenn Eltern ihre Autorität
mit den erwachsenen Kindern teilen, – ein Problem, dass in unserer Gesellschaft
große Bedeutung gewonnen hat, und vor allem bei der Weiterführung
von Firmen nicht leicht zu bewältigen ist. Aber die Nachgeborenen
können ja nur zum Erwachsensein reifen, wenn sie Erfahrungen machen
können, so dass sie nicht Kinder bleiben müssen, sondern abtun
können, was kindisch ist, wie der Apostel es in seinem Lied auf die
Liebe gedichtet hat.

Von Gott, als Kinder Gottes erhalten die Menschen ihre Freiheit, aber
sie werden nicht in die Heimatlosigkeit entlassen, sondern am gemeinsamen
Besitz beteiligt und als Besitzer sind sie zugleich berechtigt und verpflichtet:
Zum Nießbrauch des Erbes berechtigt und zur Pflege verpflichtet,
denn keiner ist Alleinerbe. Wir können deshalb in aller Freiheit
und Freude Weihnachten feiern, in dieser oder in jeder anderen Form, wir
brauchen uns auch die Bräuche unserer Vorfahren nicht zum Gesetz
zu machen; der Sinn dieses Erbes ist leicht zu entziffern: Dass alle leben
können und Gottes Güte genießen.

Morgen, Kinder, wird`s was geben, ja auch morgen wieder – und übermorgen
auch. Das Kinderweihnachtsgeburtstagslied wird deshalb nach Melodie und
Rhythmus weiterhin unbeschwert kindlich klingen, aber der Gehalt ist nun
nicht mehr das Brauchtum der vergangenen Jahrhunderte, sondern die Wirklichkeit
der Freiheit, – der Freiheit auch von der Erlebniskultur, vom Diktat des
Spielzeugs und der Pädagogik, Weihnachten ereignet sich heute, aber
dann auch mitten im Alltag, wo immer Menschen spüren und erkennen,
dass sie Kinder Gottes geworden sind. Vielleicht können wir dann
im gleich Rhythmus und auf dieselbe Melodie, aber mit anderen Worten singen:

Morgen, Kinder, wird’s was geben
Morgen werden wir uns freun,
alle Angst in unserm Leben,
will uns Gottes Wort zerstreun,
täglich, wenn wir werden wach,
ist ein Gotteskindertag.

Wie wird dann das Auge glänzen,
neu bei jedem Sonnenstrahl,
wenn der Geist aus Schlafes Grenzen
tritt ans Morgenlichtportal.
sieht die Welt in Gottes Licht
fürchtet für die Zukunft nicht!

Wißt Ihr noch – in Kinderschuhen?
War ein scheinbar leichtes Gehn!
Konnten bei der Mutter ruhen,
mußten nicht für uns fest stehn.
Sind jetzt frei, doch nicht allein,
dürfen immer ‚Abba‘ schrein!

Heut beginnt das große Planen
für den eignen, freien Gang;
Gottes Wort wird Wege bahnen,
führt uns unser Leben lang;
manches, was ganz grau begann,
wächst zum Schluß noch bunt heran.

Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

 

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