Philipper 4, 10-13

Philipper 4, 10-13

 


Neujahr,
1. Januar 2002
Predigt über Philipper 4, 10-13, verfaßt von Wilhelm Hüffmeier

Liebe Gemeinde,

Jahresanfänge sind sogenannte Schwellensituationen. Zu den guten
Wünschen, die andere uns beim Übertreten einer Schwelle mitgeben,
gehören immer wieder zwei Worte: Viel Glück oder viel Kraft!
Woher diese Kraft aber kommt, bleibt meist offen. Ist es der Wunsch selber,
der mir auch die Kraft schenkt? Oder soll der Wunsch, mein eigenes Kräftereservoir
mobilisieren? Oder macht mich die Erinnerung an den, der diesen Wunsch
ausgesprochen hat, stark? So wie es Theodor Storm in einem Vers – auf
seine Frau – besungen hat:

„Und geht es in die Welt hinaus, / wo du mir bist, bin ich zu Haus.
/
Ich seh dein liebes Angesicht, / ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.“?

Auf jeden Fall ist der Wunsch „Viel Glück“ oder „Viel
Kraft“ Ausdruck von Teilnahme. Teilnahme hat etwas Stärkendes.
Und wenn mich dann der oder die andere umarmt, um diese Teilnahme durch
eine Geste zum Ausdruck zu bringen, dann geschieht so etwas wie Kraftübertragung.

Worte, Wünsche, Gesten beim Überqueren der Schwelle in das
neue Jahr – sie alle wollen nur eins, Lebenskraft zuwenden und Lebensmut
zusprechen.

In dem Predigttext für den heutigen Neujahrstag geht es auch um
Kraft, um Kraft zum Leben. Und das kommt in einem ungeheuren, ja verwegenen
Bekenntnis des Paulus zum Ausdruck. Paulus sagt: „Ich vermag alles
durch den, der mich mächtig macht“. Aber der Apostel lässt
nicht offen, nein, er fügt gleich hinzu, woher er diese Kraft hat.
Dafür steht ein Name, eine Person: Christus, der Träger von
Gottes Kraft.

So spricht Paulus. Und er sagt noch dazu, wie sich diese Kraft, die er
von Christus empfängt, in seinem Leben auswirkt: „Ich kann mir
genügen lassen, wie’s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann
hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern,
beides, Überfluss haben und Mangel leiden“. Erst mit diesen
Sätzen wird die ganze Verwegenheit seines Bekenntnisses deutlich.

Ein Christ, so könnte man folgern, ist eine Art Virtuose verschiedenster
Lebenslagen und -situationen. Er kann das, weil er über ihnen steht.
Er hat ihnen gegenüber eine gewaltige Freiheit. Die Freiheit der
Wahl und des Sichfügens in bestimmte Situationen. Luthers berühmte
Sätze, dass ein Christenmensch ein freier Herr über alle Dinge
und zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge ist, haben auch hier einen
Anknüpfungspunkt gehabt. Im Apostel lebt etwas von der herrlichen
Freiheit der Kinder Gottes, auf deren Offenbarung die ganze Kreatur wartet.

Da mag aber vielleicht jemand aufstehen und einwänden: „Ja,
das höre ich mit Bewunderung, wie Paulus so kühn und strahlend
sagen kann: ‚Ich kann alles, weil Christus mir Kraft gibt in jeder
und für jede Lebenslage'“. Der Fragende mag dann hinzufügen:
„Lieber Paulus, mir ist es leider nicht so gegangen. Mich hat Christus
oft enttäuscht, er hat mich auf langen Strecken sitzen lassen. Ich
habe zu ihm gerufen und gebetet und mir hat er keine Kraft gegeben.“

Wie würde Paulus wohl darauf antworten? Ich denke etwa so: „Auch
mir ist die Kraft, die Christus gibt, nicht per Druckknopf zugeflossen.
Er hat mich oft und lange genug mehr meine Schwachheit spüren lassen
als seine Kraft.“ Und Paulus würde wohl fortfahren: „Mein
Bekenntnis habe ich nicht geschrieben, um andere zu beschämen oder
gar klein zu machen. Ich bin kein Hagestolz. Ich schreibe doch zunächst
von meiner Freude, und die Freude gilt nicht mir selber, zunächst
auch nicht einmal Jesus Christus, sondern der Gemeinde in Philippi. Meine
Freude entspringt der Dankbarkeit für erwiesene Solidarität.
Die Leute aus Philippi hatten mir durch Epaphroditus einige Gaben ins
Gefängnis bringen lassen. Sie wollten damit zeigen, dass sie sich
um mich sorgen, und diese Teilnahme sollte mir Kraft verleihen im Gefängnis.
Nun schreibe ich ihnen, damit sie sich nicht zu viel Sorgen machen. Ihre
Teilnahme ist zwar sehr wichtig für mich. Die Christen in Philippi
müssen aber wissen, dass ich mich inzwischen in den unterschiedlichsten
Lebenslagen auskenne und ihnen auch gewachsen bin. Das aber verdanke ich
einer anderen Beziehung. Das verdanke ich dem Herrn, der für uns
Knecht wurde, dem König, der unser aller Diener ist. Das verdanke
ich der Freiheit Jesu Christi.“ So würde Paulus wohl antworten.

Für sich genommen sind das Hochsein und das Niedrigsein, das Sattsein
und das Hungern, das Überflusshaben und das Mangelleiden nicht Quellen
der Befreiung, sondern der Bedrohungen des Lebens. Nicht nur der Hunger
ist lebensgefährlich. Genau so sehr ist es das Überflusshaben.
Häufig genug ist die Kraft, die von Christus ausgeht, dort verschlossen,
wo Hochmut, Überfluss und Sattheit herrschen. Diese unheilige Allianz
bildet geradezu eine eiserne Mauer gegenüber Christus. Deshalb atmet
die Welt auf, wo es Menschen gibt, die mit allem und jedem vertraut sind.
Sie bürgen für eine solidarische Welt.

Genau das kennzeichnet aber den Christen: Er ist vertraut mit allem und
jedem, er ist bewährt in verschiedensten Lebenssituationen. Das ist
übrigens auch der Grund, warum Christen so sozial gesonnen sind.
Ihnen sind alle Lebenslagen vertraut. Sie weinen mit den Weinenden, sie
freuen sich mit den Fröhlichen, sie sehnen sich mit den Hungernden
nach Gerechtigkeit.

Bewährt in verschiedenen Lebenslagen wird man aber nicht von einem
Tag auf den anderen. Deshalb sagt Paulus auch: „Ich habe gelernt“.
Christen sind eternal learners. In ihrer Schule wirken viele Lehrer und
Lehrerinnen, Propheten, Apostel, gegenwärtige Brüder und Schwestern.
Vor allem aber ist das Leben selbst ein großer Schulmeister. Von
Paulus wissen wir, dass er mehrere Male verhaftet und in Gefängnisse
geworfen wurde ohne jede Gerichtsverhandlung, gefoltert, ausgeplündert,
wir wissen, dass er Schiffbruch erlitten hat, beinahe verhungert und verdurstet
wäre. Deshalb sein Bekenntnis: „Ich habe gelernt, mir genügen
zu lassen, wie’s mir auch geht.“ Ein ähnliches Bekenntnis haben
die Shelter-Now-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Afghanistan ausgesprochen
– vor, während und nach ihrer Gefangensetzung.

Entscheidend aber waren für das Leben des Paulus zwei Dinge: die
Gemeinden, die er gegründet hatte und die er gründen wollte.
Der Apostel hatte eine klare Herkunft und ein klares Ziel. Die waren ihm
Kraftquellen. Aber es stimmt: „Viel mehr als Ziele braucht man vor
sich, um leben zu können, ein Gesicht“ (E. Canetti). Ein Gesicht?
Paulus kannte viele Gesichter, aber sie waren ihm Widerschein des einen
Gesichtes Jesu Christi, der ihm Lebenskraft gab zu allem und jedem. Christus
ist die Kraft hinter und in den Gemeinden. Für ihn hätte Paulus
das Lied singen können, das Theodor Storm seiner Frau dichtete:

Und geht es in die Welt hinaus, / wo du mir bist, bin ich zu Haus. /

Ich seh dein liebes Angesicht, / ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.

Lasst es uns dem Paulus nachsprechen und so ins neue Jahr gehen als zuversichtliche
„Virtuosen“ unterschiedlicher Lebenslagen. So bezeugen wir die
herrliche Freiheit der Kinder Gottes. So werden wir auch dafür sorgen,
dass Hungernde nicht ohne Brot bleiben und dass die im Überfluss
Lebenden nicht den Kontakt zu denen im Mangel verlieren. Christen sind
mit allem und jedem vertraut. Das kommt vielen, sehr vielen Menschen zugute.

Amen!

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Berlin
Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union
Leiter des Sekretariats der Leuenberger Kirchengemeinschaft
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