Galater 5,1-6

Galater 5,1-6

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Reformationstag, 31. Oktober 2000
Predigt über
Galater 5,1-6, verfaßt von Hinrich Buß


Liebe Gemeinde,

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ – mit
einem Fanfarenstoß eröffnet Paulus ein neues Kapitel in seinem
Brief, und die Botschaft ist eine Ouvertüre: Ein neues Spiel des Lebens
wird eröffnet, das Stück trägt den Titel „Freiheit“. So erklingt
die Kunde des Apostels über die weitläufige Landschaft Galatiens,
heute der Türkei, von dort hat sie sich weiter verbreitet nach Italien,
Spanien, Germanien. Sie ist auch in eine abgelegene Mönchszelle in
Wittenberg gedrungen, zu dem Augustinermönch Martinus. Dieser hat am
Vortage des Allerheiligenfeste seine „95 Thesen über die Kraft der
Ablässe“ an den Erzbischof Albrecht zu Mainz geschickt und zugleich unters
Volk gebracht.

Sie klangen wie Hammerschläge, so daß
bald die Kunde entstand, er habe sie an die Tür der Schloßkirche zu
Wittenberg geschlagen. Ob dies nun zutrifft oder nicht, die Worte selbst waren
schon die Tat. – Drei Jahre später brachte er seine Freiheitsschrift
heraus, mit der berühmten These, gleich vorneweg gesetzt: „Ein
Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan.“ Es folgt
alsbald eine zweite These, wie Kundige wissen, doch sie sei einen Augenblick
zurückgestellt. Der Christ – ein freier Mensch. In Sachen des Gewissens
und Glaubens niemandem untertan, nicht Kurfürst, nicht Kaiser, nicht
Papst, nicht Kirche. Das klingt wie Freiherr und Freifrau, es klingt nach Adel,
und in der Tat ist jeder Christenmensch von Christus geadelt. Obwohl er aus
krummem Holz ist, geht er den Gang des Aufrechten, aufgerichtet von Gott. Der
Ruf der Freiheit ist fortan mit der Reformation verbunden.

Wie steht es heute damit? Der hohe Ton der
Freiheit ist ungebrochen. In Umfragen kann man sich bestätigen lassen: auf
Platz eins aller Wertschätzungen rangiert der Wunsch nach
persönlicher Freiheit. Wir brauchen nicht einmal eine Befragung, wir
wissen es von uns selbst:

Keiner und keine läßt sich heute mehr
etwas vormachen oder vorschreiben. Was ich denke, meine oder glaube, bestimme
ich. Sogar die Kids sind längst auf dem Weg der Autonomie. Die Menschen in
der ganzen Republik, von der Ems bis an die Oder, sind dabei sie selbst zu
werden, mit sich identisch, wenn‘ s irgend geht authentisch. Ein echter Typ
also.

Früh morgens will es noch nicht recht
gelingen. „Ich muß erst zu mir selbst kommen“, sagt schläfrig der
heranwachsende Sohn. Er braucht dafür den Morgen und auch noch den Abend,
mitunter die ganze Woche, das Jahr, bei Lichte besehen: das ganze Leben. Eine
Reise zum Ich. Beim Sohn, bei der Tochter, bei Frau und Mann. Kommen sie
irgendwann bei sich selbst an? Das ist die Frage! Wann bin ich bei mir selbst?
Oder bin ich nie bei Trost? „Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich.
Nur ich denk an mich.“ Man kann das sagen und schöner noch singen, sogar
im Kanon, so daß ein Wohlklang daraus entsteht. Aber den Widerspruch
singt man nicht weg. Wenn alle sich um sich selbst drehen, wer sorgt dann
für die anderen? „Ich und mein Magnum“ hieß eine langjährige
Langnese-Werbung. Da schiebt sich jemand ein süßes Stück
Eiscreme in den rot gefärbten Mund, tut sich offensichtlich Gutes, und die
anderen, die es sehen, möchten es ihm nachtun. Die Reklame ist sehr
erfolgreich. Am besten Magnum, auch heute noch, was ins Deutsche übersetzt
bedeutet: „Das Große“. Ja, ich bin mir selbst der Größte. Die
Eisverkäufer wissen es wohl und füttern das Ich.

Nur wie will ich es schaffen, mir selbst unendlich
wichtig zu sein und doch kein Egoist zu werden? Die Antwort ist klar: es geht
nicht. Hier liegt die ständige Selbsttäuschung des Ich bei der
Selbstverwirklichung. Ich tue mir nicht nur Gutes, ich werde auch von mir
selbst geknechtet.

Mit Paulus gesprochen und danach mit Luther: Ich
muß zuallererst nicht zu mir, sondern von mir befreit werden. Von meiner
Selbstbezogenheit. Von meiner ständigen Sorge um mich. „Zur Freiheit hat
uns Christus befreit“, sagt Paulus. Und einige Kapitel vorher schärft er
ein: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus in mir“ (2,20). Wie kann
es angehen, daß Christus mich befreit, sogar in mir lebt?

Ich möchte Ihren Blick auf die Olympiade
lenken, nicht die von Sydney, sondern die von Atlanta/USA vor vier Jahren. Das
Olympische Feuer trug bei der Eröffnung auf den letzten Metern Muhammad
Ali, jener Mann, der einmal und immer wieder von sich gesagt hatte: „I am the
greatest“. Er war der Größte unter den Boxern und hat fast alle
geschlagen. Nun aber ging er, zitternd am ganzen Körper, Schritt für
Schritt die wenigen Meter. Ein von Parkinson gezeichneter Mann, von Krankheit
geschlagen. Und doch trug er, auf neue Weise, noch einmal einen Sieg davon. Er
hat sich selbst besiegt. Der „Größte“ hat seine erschreckende
Schwäche gezeigt, vor den Kameras aus aller Welt und so demonstriert,
daß keiner vor Sturz und Absturz sicher ist. Diesen Kampf gegen den
heimtückischen Gegner Parkinson kann er nicht gewinnen. Und doch ist das
Tragen der Olympiafackel vermutlich seine größte Tat. Er hat es
gewagt, aus dem Schatten zu treten, sich schwach zu zeigen, er, der einmal der
Stärkste war, und so zitternd zu siegen über sich selbst. Viele
Zuschauer waren berührt, betroffen, ergriffen, ermutigt.

Muhammad Ali kann man nicht als Christen
vereinnahmen. Er ist Moslem, sein Name zeigt es. Doch an seinem Auftritt ist
eine entscheidende Bewegung deutlich geworden, die weg von „I am the greatest“.
Als gebrechlicher und bedürftiger Mensch hat er sich gezeigt und ist
gerade dadurch freier geworden.

Natürlich ist nicht nur dieser einzelne,
vielmehr sind wir alle bedürftig, der Nahrung, der Freundschaft, der
Liebe. Viele empfinden es als Mangel, auf andere angewiesen zu sein. Sie
möchten sich alles erarbeiten oder besser noch kaufen können. Das ist
auch einfacher, macht aber einsamer. Und vor allem: Das Wichtigste im Leben
kann man nicht mit Geld erwerben. Damit bin ich wieder bei Luthers
Ablaßthesen. Sie gipfeln darin, daß man Gott nicht kaufen kann,
nicht mit gutem Geld und auch nicht mit guten Taten. Anders herum gesagt und
mit Sören Kierkegaard gesprochen: „Gottes bedürfen ist des Menschen
höchste Vollkommenheit.“

Ich werde erst ein kompletter Mensch, wenn Gott
Teil meiner selbst wird, das bessere Teil. Wenn ich meine Macken, meine
Unausstehlichkeiten, meine Unvollkommenheit oder – auf den Punkt gebracht –
meine Sünde seh und merke: Nobody ist perfect, und ich erst recht nicht,
ich kann ein Satansbraten sein, so daß ich nicht mehr weiß, welcher
Teufel in mich gefahren ist. Wenn ich dies alles zur Kenntnis nehme, dann bin
ich bei mir selbst. Dies alles ist nicht nur ein Schönheitsfehler,
gewissermaßen ein Kratzer im Lack, es sitzt tiefer, eben da, wo ich bin
oder sein möchte oder mich suche. Oft genug bin ich gar nicht bei mir
selbst, sondern im Gegenteil außer mir, vor Ärger, vor Wut. Ich
könnte mich in den Hintern beißen, aber auch das geht nicht. Wann
endlich bin ich bei mir selbst angekommen?

Gottes bedürfen ist des Menschen höchste
Vollkommenheit. Erst mit Gott wird ein Schuh daraus, aus dem ausgelatschten
Menschen. Dies ist – salopp gesagt – die reformatorische Erkenntnis. Wer die
Freiheit erreichen will, muß sehr tief in sich ansetzen. Er oder sie
muß frei werden von der ewigen Sorge um sich, von der Pirouette um die
eigene Person. Hierbei helfen auch die Guttaten nicht, mit Luther gesprochen
oder gesungen: „Mein guten Werk, die galten nicht, es war mit ihnen verdorben
…“ Sie mögen gut gemeint sein, aber das ist ja bekanntlich das Gegenteil
von gut. Hier nützt auch die Beschneidung nicht, wie Paulus den Galatern
einschärft. Sie bleibt äußerlich und gräbt sich nicht in
das Herz ein. Sie ist ein Zeichen der Zugehörigkeit, aber wird kein Signum
der Befreiung. Befreiung geschieht dadurch, daß Gott für uns
eintritt, daß er sagt: „Ich bin dir gut“, daß er uns gerecht
spricht. Als Luther dies entdeckte, fielen Zentnerlasten von seiner Seele. Die
Tür zur Freiheit öffnete sich. „Der Gerechte wird aus Glauben leben“,
diese Aussage in Röm. 1,17 ließ ihn aufatmen. Nicht die Sorge um
sich, sondern das Vertrauen in Gott machte den Menschen gerecht, gut, komplett.
Diese eine Bibelstelle wurde mir, so schreibt Luther, zur Pforte des
Paradieses.

„Zur Freiheit hat euch Christus befreit … Darum
steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft
auflegen!“ Schluß mit dem Sorgengeist. Anfang mit dem Geist der
Befreiung. Ein Christenmensch ist ein freier Herr, eine freie Frau aller Dinge.
Dies ist der erste, der grundlegende, der entsorgende Satz.

Es folgt notwendig der zweite, ebenfalls in der
Freiheitsschrift Luthers stehend: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer
Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Dies klingt wie das genaue
Gegenteil und ist doch die logische Folge. Aus der Befreiung des einzelnen
folgt die Zuwendung zum anderen. Nicht der christliche Solotänzer ist
Zweck der christologischen Übung.

Inzwischen gilt es in den Weiten zwischen Weser
und Harz als gut protestantisch, frei zu sein von Gott, vom Nächsten und
von der Kirche. „Man kann Christ sein, auch ohne in die Kirche zu gehen“,
lautet ein vielgesprochener Satz, meist schon an der Haustür beim Besuch
angeboten, gewissermaßen als Bekenntnis des modernen Menschen, der sich
von allem befreit hat. Es stimmt auch: Keiner soll als Christ, als von Christus
Befreiter geknechtet werden. Der feine
Unterschied ist nur: Ein Christenmensch macht sich freiwillig zum Diener Gottes
und zum hilfreichen
Geist des
Nächsten. Paulus spricht vom Glauben, der in der Liebe tätig ist. Wer
von seiner Befreiung durchdrungen ist, möchte auch, daß andere daran
teilhaben.

Am Ende seiner Freiheitsschrift hat Luther diesen
Zusammenhang so ausgedrückt: Aus dem allen ergibt sich, „daß ein
Christenmensch nicht in sich selbst lebt,
sondern in Christus und dem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im
Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben
fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er
wieder
unter sich durch die Liebe und
bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe“.

Da ist viel
Bewegung in der gewonnenen Freiheit
.
Jemand, der nicht aus seiner Haut kann, fährt aus derselben, zu Gott und
dem Nächsten. Man muß schon aus seiner Haut fahren, um sein altes
Ich zu überwinden und das alter Ego, das neue Ich zu erreichen.

Das ist, sagt der
Reformator, „die rechte, geistliche, christliche
Freiheit
, die das Herz frei macht von
allen Sünden, Gesetzen
und Geboten,
die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde.“

Die alle andere
Freiheit übertrifft. Ein Juwel, das in unsere Herzen, Mund und Hände
gelegt ist.

Am 31. Oktober schließt
die EXPO
ihre Pforten. Viele, die dort
tätig sind, bedauern dies. Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im
Christuspavillion. Aber es gibt, wie das Göttinger Tageblatt meldete “ –
ein Leben nach der EXPO
„.
Daß sie ausgerechnet am
Reformationstag
endet, ist ein
schöner Fingerzeig: Der Weg der Freiheit geht weiter.

Amen

Landessuperintendent Dr. Hinrich Buß,
Göttingen
E-Mail:
lasup.goettingen@evlka.de

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