Genesis 13,1-18

Genesis 13,1-18

Lasst uns nicht aufhören, der verwandelnden Kraft von Gottes Liebe vertrauen! | 21. Sonntag nach Trinitatis | 29.10.23[1] | Gen 13, 1-18 | Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

die Geschichte von Abraham[2] und seinem Neffen Lot spricht so unmittelbar in die aktuelle politische Situation Israels, dass man sich dieser Wirkung kaum entziehen kann: Auf der einen Seite Abraham. Großzügig überlässt er dem Sohn seines Bruders die fruchtbare Jordan-Senke als Siedlungsgebiet. Er selbst zieht in das weniger attraktive judäische Gebirge. Aber die Geschichte deutet schon an, dass diese Aufteilung des Landes nicht von Dauer sein wird. Sodom und Gomorra werden von Gott vernichtet werden, weil die Leute dort böse waren und wider den Herrn sündigten.

Als Freund Israels liegt es nahe, die Bombardements des Gaza-Streifens durch die israelischen Verteidigungsstreitkräfte sozusagen als Fortsetzung des Strafgerichts Gottes über Sodom und Gomorra anzusehen. Denn den Überfall von Aktivisten der Hamas auf israelische Siedlungen am 7. Oktober 2023, in dem die Zivilistinnen und Zivilisten nicht geschont, sondern gezielt ermordet bzw. verschleppt worden sind, kann man nur barbarisch und unmenschlich nennen. Ein Kriegsverbrechen!

Aber darum geht es in der Geschichte von Abraham und Lot gerade nicht! Nicht um das Strafgericht Gottes, nicht um den Konflikt um ein Stück Land. Die Erwähnung von Sodom und Gomorra sind an dieser Stelle nur eine Randnotiz, die den Fortgang der Geschichte vorbereitet. Hier aber ist die Bosheit jener Menschen kein Thema, es geht vielmehr um die friedliche Beilegung eines Streits: „Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen Hirten und deinen Hirten, denn wir sind Brüder.“ sagt Abraham zu Lot.

Lot mag für sich eine falsche Wahl getroffen haben, aber er selbst ist nicht böse und wird auch nicht als solcher dargestellt. Nein! Er wird (später) von Gott gerettet werden!

Wenn ich diesem Gedanken folge, komme ich zu der „großen“ Frage, wie denn die Menschen Palästinas gerettet werden können, die ja nicht (auf jeden Fall nicht alle) böse sind. Seit ich als junger Theologiestudent das Heilige Land bereist habe, lässt mich die Hoffnung auf ein friedliches Neben- und Miteinander von Israelis und Palästinensern nicht los, auch wenn sich politische Ansätze (Zweistaatenlösung) immer wieder zerschlagen haben.

Von all dem ist heute morgen schwer abzusehen. Natürlich sehnen wir uns nach Frieden, hoffen auf eine Freilassung der Geiseln, wünschen uns, dass alle Menschen in Israel leben können, ohne dort um ihr Leben zu fürchten. Auch die Menschen in Gaza und in der Westbank brauchen Sicherheit, um Zukunftsperspektiven für ihr Leben zu entwickeln, die nicht die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zur Bedingung haben. Natürlich beten wir dafür – wie auch für Frieden in anderen Teilen dieser Welt. Auch heute in diesem Gottesdienst.

Aber es wäre schade, wenn wir die Geschichte von Abraham und Lot nur als Zuschauerinnen und Zuschauer wahrnehmen würden. Wenn wir diese Geschichte auf einen Konflikt reduzieren würden, der weit genug weg ist, als dass wir uns damit näher beschäftigen müssten. Es wäre schade, wenn wir diese Geschichte beiseitelegen in dem Gefühl, sie hätte nichts mit uns zu tun.

Denn, so macht uns das Evangelium, das wir heute gehört haben (Mt 5, 38 – 48), klar: Die Geschichte Gottes mit dem Volk Abrahams endet nicht an irgendwelchen Grenzen. Die dem Volk Gottes gegebenen Gebote, die 10 Gebote können universale Gültigkeit beanspruchen – zum Wohl aller Menschen. Dieses Erbe des jüdischen Glaubens, wie Jesus es in seiner Bergpredigt darlegt, spricht doch auch zu uns! Die Nächstenliebe ist doch in Wahrheit das Ziel (fast) aller Religion, vor allem doch der unseren.

„Ihr wisst, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ (Mt 5, 43 – 45 a)

Liebe Gemeinde,

es gibt in der jüdischen Bibel, dem Alten Testament, kein Gebot, dass man seine Feinde hassen soll.[3] Das wissen auch die, die Jesus als erste zugehört haben. Die Frage ist ja vielmehr – damals wie heute: „Wer ist denn nun mein Nächster?“ Gehört auch der Nachbar dazu, der am Sonntag den Rasen mäht? Oder die feiernden Jugendlichen im Park, die dort ihren Müll liegen lassen? Zugegeben – die Beispiele klingen banal. Aber die grundlegende Frage ist ja nicht: „Was müssen wir hinnehmen und ertragen?“, sondern, dass wir unterscheiden zwischen der Tat und den Tätern. Böse ist nicht der Mensch, sondern allenfalls sein Tun – so kann man schlussfolgern. Über dieses Tun muss man reden und gegebenenfalls richten, aber die Menschen, denen wir begegnen, bleiben mit uns auf Augenhöhe.

Etwas zugespitzt könnte man sagen: „Schaut Euch an!“ Nehmt Euch als Menschen wahr, wir sind doch alle Gottes Geschöpfe. Und – das ist vielleicht die größte Herausforderung – dieses Gegenüber als Bruder, als Schwester anzusehen, auch wenn er/sie uns gerade nicht als Freund begegnet. Wenn er/sie die Maßstäbe Jesu für sich nicht gelten lässt, sondern seinem/ihrem Hass folgt.

„Ihr wisst es doch besser!“ sagt Jesus. Vor allem aber: „Ihr könnt es doch besser!“

Was ich hinzufügen möchte: Man könnte eine solche Werte-Orientierung für naiv halten, weil sie sich ausnutzen lässt. Man könnte Jesu Lebensweg für falsch halten, weil er dem, der ihm auf die rechte Backe schlägt, auch (noch) die linke … hingehalten hat.

Wir kennen das Ende der Geschichte: Nicht das Kreuz, sondern die Auferstehung! Nicht demütiges Erdulden von Unrecht und Bosheit, sondern die aufrechte Hoffnung, dass diejenigen, die uns als Feinde gegenübertreten, ihren Irrweg erkennen und umkehren. Manchmal muss darüber auch lautstark gestritten werden. Wir müssen nicht alles still und unkommentiert hinnehmen, sondern dem, was wir für falsch oder gar als böse erkannt haben, deutlich widersprechen.

Allerdings kann – wenn eine Situation festgefahren ist und man sich nichts mehr zu sagen hat, wenn also ein Zuhören nicht mehr gegeben ist – dann kann es klug sein, dass man getrennte Wege geht. Wenn man sich aus dem Weg geht. Wie in der Geschichte von Abraham und Lot. Abraham gibt seinem Neffen, was der sich wünscht. Lässt ihn in Frieden ziehen (bzw. räumt selbst den Platz). Die Botschaft, wie ich sie verstehe, lautet: „Diese Welt ist groß genug. Sie hat Platz für uns beide.“

Entspricht das nicht auch unserer Alltagserfahrung, dass Verständnis wächst, wenn man sich genug Luft zum Atmen lässt?

Das allerdings ist eine Einsicht, die wir uns – im Kleinen wie im Großen – immer wieder in Erinnerung rufen müssen. Möglicherweise gelingt uns das besser, wenn wir dazu besondere Orte aufsuchen, wie Abraham es in dieser Geschichte tut. Den zieht es nach Bet-El, den Ort, wo er früher einen Altar errichtet hatte. Den Ort, wo sein Enkel Jakob später von einem offenen Himmel träumen wird (Gen 28).

Wenn wir also in unserem Leben an Punkte zurückkehren, an denen wir das Gefühl hatten, dass uns die ganze Welt offensteht, dann, wenn wir solches bewusst tun, dann können sich Wege zeigen, die wir im Alltag unserer Gefühle und Meinungen leicht übersehen.

Ich will nicht verschweigen, dass es auch unter uns Spannungen und Konflikte gibt, die mich ratlos machen. Dass Menschen, die in unserem Land Schutz gesucht haben und denen sich hier neue Lebensperspektiven bieten, israelische Fahnen verbrennen. Dass diese den Angriff der Hamas-Terroristen feiern und die Vernichtung Israels fordern, ist für mich schwer zu ertragen.

Nicht alles, was geschehen ist, ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Ja, ich entdecke Gefühle in mir, die in solchen Fällen eine Trennung fordern – nur dass ich (anders als Abraham gegenüber Lot) diesen Menschen keine Wahl lasse. Der Gedanke ihrer Abschiebung ist verführerisch – doch wohin? Welcher Staat, welches Land wird diese Menschen nehmen?

Abrahams Geschichte lehrt uns, die Hoffnung auf friedliche Lösungen nicht aufzugeben – nicht im Alltag unseres Lebens. Auch nicht im Blick auf die großen Fragen, die uns beschäftigen. Das Ende mancher Konflikte mag in weiter Ferne liegen. So wie die Verheißung, die Abraham erhalten hat, nämlich Sara und ihn zu einem großen Volk zu machen. Aber Gottes Segen ruht auf Abraham. Und dieser Segen schließt Lot mit ein.

Gottes Segen schließt auch uns mit ein! Lasst uns nicht aufhören, der verwandelnden Kraft von Gottes Liebe vertrauen!

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

[1] Vorbemerkung: Die Texte dieses Sonntags haben durch die dramatische Zuspitzung des Nahostkonflikts am bzw. nach dem 7. Oktobers 2023 eine Aktualität gewonnen, die eine Predigt entweder überflüssig oder unmöglich machen kann. Man könnte den Predigttext (Genesis 13, 1 – 18) einfach vorlesen, so unmittelbar spricht er in die aktuelle politische Situation.

Adressaten meiner Predigt sind allerdings die Hörerinnen und Hörer im Gottesdienst. Es kann also nicht nur um Betroffenheit und Solidarität gehen, sondern es müssen übergeordnete Themen – z.B. aus der Evangelienlesung (Mt 5, 38 – 48), also: Nächstenliebe bzw. Feindesliebe – mit in die Predigt einfließen.

[2] Ich verwende in der Predigt durchgehend den Namen Abraham, da ich vermute, dass den Hörerinnen und Hörern die etymologische Unterscheidung Abram-Abraham nicht geläufig ist.

[3] Zum mutmaßlich von Matthäus hinzugefügten Zusatz „Du sollst deinen Feind hassen.“ vgl. die Erklärungen von Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband, Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn, 4. Aufl. 1997, S. 310f

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