Genesis 16,1-16

Genesis 16,1-16

Du siehst mich | Misericordias Domini | 14.04.2024 | 1. Mose 16,1-16 | Luise Stribrny de Estrada |

Die Gnade unseres Herrn und Bruders Jesus Christus

und die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit euch allen. Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit (nach Thomas Mann, Josef und seine Brüder, Die Geschichten Jakobs, S.7). Hagar, reich mir die Hand. Ich helfe dir, ich hole dich heraus aus dem Brunnen.

4.000 Jahre ist er tief. Gib mir deine Hand, und dann sieh: Dort sind die Stufen, eingehauen in die Brunnenwand, eingehauen von Freundinnen und Freunden, die mit dir dort unten waren. Spuren des Widerstandes. Spuren des Durchhaltens. Spuren des An-das-Licht-Wollens. Wie Briefe an dich von denen, die nicht aufgegeben haben. Nimm die Stufen. Tritt in sie hinein, greif mit deinen Händen hinein. Sie führen dich ans Licht. Hier, nimm meine Hand. Du kommst hoch. Da bist du!

Wer bist du, Hagar? Du hast Gott gehört. Er hat dir ein Wort gesagt, das dich ins Herz getroffen hat: „Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört.“ Endlich ist da einer, der sie hört und sieht. Sie, Hagar, die Magd, nein die Sklavin Sarais. Sie, Hagar, die Fremde, die ihre Herren aus Ägypten mitgenommen hatten in ein anderes Land, dessen Sprache nicht ihre war. Viele Sitten kannte sie nicht, sie befremdeten sie.

So wie heute eine Arbeitsmigrantin. Eine, die sich für eine bessere Zukunft verdingt. Eine Afrikanerin, die schuftet bis zum Umfallen, um ihrer Familie nicht auf der Tasche zu liegen. Die von ihrem bisschen Lohn die Hälfte nach Hause überweist.

Und dann auch noch dieses: Die Familie, bei der sie arbeitete, ihre Herren, verlangten von ihr, dass sie dem Mann zu Willen sein sollte, um ihm einen Sohn zu gebären. Sexsklavin nennen wir das heute. Oder: Leihmutterschaft. Das auch noch neben aller Ausbeutung. Wurde Hagar gefragt, ob sie das wollte, dass Abram sich zu ihr legte? Nein, ganz sicher nicht. So waren die Sitten in diesem fremden Land, und sie hatte zu gehorchen, wollte sie nicht riskieren verstoßen oder verkauft zu werden.

Die Bibel erzählt, dass Sarai merkte, dass sie nicht schwanger werden konnte. „Da nahm Sarai ihre ägyptische Sklavin und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau.“ Was Hagar wollte, interessiert keinen, nicht Sarai, nicht Abram, und auch nicht den, der uns diese Geschichte überliefert. Hagar wird Abram zugeführt wie eine Zuchtstute, die er decken soll.

Und es klappt: Hagar wird tatsächlich schwanger. Dadurch ändern sich die Machtverhältnisse. In der Bibel heißt es: „Als Hagar nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering.“ Auf einmal war sie nicht mehr eine Sklavin, über die andere nach Gutdünken verfügen konnten, auf einmal war sie die zukünftige Mutter des Sohnes. Sie würde die Mutter des Erben sein, des so lange ersehnten Kindes. Jetzt wurde sie geschont und brauchte keine schweren Arbeiten mehr zu verrichten, weil in ihrem Leib das Kind heranwuchs, das Gott bereits vor so vielen Jahren verheißen hatte. Kein Wunder, dass Hagar sich über ihre Herrin erhob!

Aber Sarai lässt sich das nicht gefallen. Sie greift zu den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen: Sie holt sich von Abram die explizite Erlaubnis, mit ihrer Sklavin zu tun, was sie will. Sie erniedrigt sie und demütigt sie so sehr, dass Hagar in die Wüste flieht, in die Ödnis, die sie umgibt. Sie ist verzweifelt und weiß nicht ein noch aus. Was soll aus ihr werden? Wird sie hier sterben? Aber in all der Unwirtlichkeit, die sie umgibt, findet sie eine Quelle. Wenigstens wird sie vorerst nicht verdursten. Der Weg durch die Wüste hat sie zum Wasser geführt. Oder ist sie von Gott geführt worden? Er spricht mit ihr durch seinen Engel: „Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Gott stellt ihr die richtigen Fragen. Wo sie herkommt, kann sie sagen, aber wo sie hinwill, weiß sie selbst nicht. Nur weg, das war der einzige Gedanke, den sie hatte, als sie floh. Wohin kann sie jetzt gehen in dieser Wüste mit ihrem sich rundenden Bauch und dem Kind, für das sie sorgen will? Viel zu weit weg von zu Hause, um jemals dorthin zu kommen…

Der Engel gibt ihr einen Rat oder ist es nicht doch ein Befehl: „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.“ Hagar ist entsetzt! Sie hatte doch geglaubt, dieser Bote Gottes würde sie verstehen und ihr Elend sehen, stattdessen schickt er sie zurück in die schreckliche Situation, aus der sie gerade entkommen ist. Aber die Rede des Engels geht weiter: Er verheißt ihr unendlich viele Nachkommen, so dass keiner sie zählen kann. Eine solche Verheißung kennen wir aus der Bibel von Abraham und anderen Patriarchen (Gen. 15,5; 32,13), aber sie ergeht an keine andere Frau. Nur an Hagar, die Ausländerin, die Sklavin.

Der Engel fügt eine weitere Verheißung hinzu: Hagar wird einen Sohn gebären, der Ismael genannt werden soll. Das bedeutet „Gott hört“, und auch „Gott erhört“. „Denn der Herr hat dein Elend erhört“, heißt es weiter. Hagar ist nicht allein, ihre Verzweiflung, ihre stummen oder lauten Schreie hat Gott gehört. Durch den Namen ihres Sohnes wird sie immer wieder daran erinnert werden, dass Gott sie hört. Sie erfährt von dem Gottesboten, dass ihr Sohn ein Mann wie ein Wildesel sein wird, ungezähmt, der sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen wird. Hagar hat Gott als einen Hörenden kennengelernt – und jetzt gibt sie im selbst einen Namen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Sie fühlt sich von Gott gesehen und wahrgenommen. Sie ist nicht mehr die unbedeutende Sklavin, die von ihren Herren zum Objekt gemacht und auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird. Hagar ist jetzt eine Frau, die mit Gott gesprochen und eine Verheißung bekommen hat. Für Gott ist sie wichtig, ein eigenständiger Mensch. Gott hört sie und sieht sie. Er weiß um sie. Das gibt ihr die Kraft, zu Sarai und Abram zurückzukehren.

Wie sie dort empfangen wurde, wissen wir nicht. Die Bibel berichtet nur kurz und knapp, dass Hagar Abram einen Sohn gebar und er ihn Ismael nannte. Abram erkannte also an, dass Gott dem Kind diesen Namen gegeben und ihn Hagar bekannt gemacht hatte. – Jahre später wird Isaak geboren, der Sohn Saras und Abrahams. Am Fest seiner Entwöhnung werden Ismael und seine Mutter Hagar auf Saras Befehl hin von Abraham vertrieben. Wieder irrt Hagar in der Wüste umher, diesmal mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Gott rettet Ismael und sie vor dem Verdursten, indem er Hagar einen Brunnen zeigt. Sie bleiben in der Wüste wohnen und Gott sorgt für sie.

Keine einfache Geschichte. Eine Geschichte von Machtmissbrauch, von Verletzungen und Konkurrenz. Aber auch die Geschichte einer Frau, die sich gegen alle Widerstände behauptet und die von Gott gestärkt wird. Mir gefallen die Namen Gottes: Gott hört, Gott sieht mich. Wenn ich von Gott gesehen werde, dann weiß er, wie es mir geht. Dann interessiert er sich für mich. Dann kennt er mich und ist mit mir solidarisch. Vielleicht fallen Ihnen noch andere Namen für Gott ein, die mit dem zusammenhängen, wie Sie Gott in Ihrem Leben erfahren haben. Für mich ist Gott einer, der mit mir unterwegs ist, der mich auf meinem Weg begleitet. Vielleicht ist er für Sie ein Gott, der sie rettet oder heilt. Oder der mit Ihnen lacht und tanzt.

Die Geschichte von Hagar und Ismael spielt im Islam eine bedeutend wichtigere Rolle als bei uns. Die Moslems sehen Abrahams erstgeborenen Sohn als ihren Stammvater an. Ismael gilt wie Abraham als Prophet. Nach islamischer Überlieferung bringt Abraham Hagar und Ismael nach Mekka. Dort lässt er sie auf Veranlassung Gottes zurück. Bei dem Haddsch, der Wallfahrt nach Mekka, die jeder Muslim einmal in seinem Leben unternehmen sollte, wird Hagars Suche nach Wasser in der Wüste symbolisch nachvollzogen. Die Gräber Ismaels und Hagars befinden sich nach muslimischem Glauben in der Kaaba, dem zentralen Heiligtum. – So gehen wir unterschiedlich mit der Überlieferung um, die eine gemeinsame Wurzel hat.

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ war im letzten Jahr die Jahreslosung. Es gibt dazu ein Lied, das Hagars Geschichte auf uns bezieht: „Du bist ein Gott, der mich anschaut“. Es geht so:

„Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du bist die Mutter, die liebt… Schauender Gott, wo findest du mich? Hörender Gott, wie höre ich dich? Durch all meine Fragen gehst du mir nach und hältst behutsam die Sehnsucht wach.“

Mögen wir Gott begegnen so wie Hagar und erfahren, dass er uns achtet und unsere Würde sieht. Und möge er uns einhüllen in seine Liebe.

Amen.

Zur Autorin:

Luise Stribrny de Estrada

Lübeck

E-Mail: pastorin.stribrny@gmx.de

Luise Stribrny de Estrada, geb. 1965, Pastorin der Nordkirche. Von 2001-2009 Pastorin der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Mexiko. Seit 2009 Pastorin in Lübeck, zunächst in der St.Philippus-Gemeinde, die nach der Fusion im Jahr 2022 zur Gemeinde Marli-Brandenbaum gehört.

Sitz im Leben

Als ich die Netflix-Serie über „The handmaid‘s tale“ gesehen habe, fiel mir immer wieder Hagar ein. Ich konnte mich durch die Geschichte von Margaret Atwood in sie hineinversetzen (siehe unten).

Liedvorschlag: Du bist ein Gott, der mich anschaut (Hagars Lied)

Ref.: Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe,

die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du

bist die Mutter, die liebt, du bist die Mutter, die liebt.

1 Dein Engel ruft mich da, wo ich bin: – Wo kommst du her

und wo willst du hin? – Geflohen aus Not in die Einsamkeit,

durchkreuzt sein Wort meine Wüstenzeit.

Ref.: Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe,

die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du

bist die Mutter, die liebt, du bist die Mutter, die liebt.

2 Zärtlicher Klang: – Du bist nicht allein! Hoffnung keimt auf

und Leben wird sein. Gott hört – so beginnt meine Zuversicht.

Die Sorge bleibt, doch bedroht mich nicht.

Ref.: Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe,

die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du

bist die Mutter, die liebt, du bist die Mutter, die liebt.

3 Schauender Gott, wo findest du mich? Hörender Gott, wie

höre ich dich? Durch all meine Fragen gehst du mir nach

und hältst behutsam die Sehnsucht wach.

Ref.: Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe,

die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet.

Du bist die Mutter, die liebt, du bist die Mutter, die liebt.

Text: Susanne Brand. Melodie: Miriam Buthmann

Hinweis auf Literatur:

Die Geschichte von Hagar wird verarbeitet in dem dystopischen Roman „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood (Titel im Original: „The handmaid‘s tale“), der auch verfilmt worden ist. Im Gottesstaat Gilead sind die meisten Frauen und viele Männer zeugungsunfähig. Die wenigen Frauen, die gebären können, werden als Mägde versklavt und sollen mit den Ehemännern der Frauen Kinder zur Welt bringen. Aber es gibt immer wieder Mägde, die dagegen aufbegehren.

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