Genesis 28, 10-19a (20-22)

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Genesis 28, 10-19a (20-22)

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

14. Sonntag nach Trinitatis,
16. September 2001
Predigt über Genesis 28, 10-19a (20-22), verfaßt von Heinrich
Rusterholz


(Zahlreiche Gespräche mit Gemeindegliedern haben gezeigt, dass
Jakob dem Namen nach bekannt ist. Gleichzeitig wurde deutlich, dass
nur wenige die Geschichte voller Intrigen um Jakob, Esau, Isaak und
Rebekka kennen. Da eine vertiefte Kenntnis der Person des flüchtenden
Jakob kaum vorausgesetzt werden kann, soll seine Geschichte kurz in
Erinnerung gerufen werden. Deswegen habe ich mich auch entschieden,
den Abschnitt mit Jakobs erklärter Bindung an Gott (V 20-22) ebenfalls
zu lesen.)

Liebe Gemeinde,

I
Engel sind heute populäre Werbeträger. Als Garanten für
himmlische Genüsse, für unendliche Möglichkeiten und
grenzenlose Freiheit werden sie mit Schokolade, Autos und Urlaub in
Verbindung gebracht. Engelwesen werden zur Umsatzsteigerung bemüht.
Dabei hat sie wahrscheinlich niemand je um Erlaubnis gebeten.
In der evangelischen Kirche wurden die Engel lange Zeit kaum zur Kenntnis
genommen. Sie wurden schlicht nicht beachtet oder gar verleugnet. Offenbar
hat sie das nicht beeindruckt. Sie haben sich zurückgemeldet.
Da alle Menschen ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit
haben, suchen sie Kräfte, die solchen Schutz garantieren. Sie –
wir alle – möchten mit Bonhoeffer spüren und bekennen: „Von
guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen
mag…“. Darum ist es verständlich, dass viele sich dieser
Mächte versichern, sich ihrer gar bemächtigen wollen. Sie
sehnen sich nach Begegnungen mit guten Boten Gottes. Sie suchen sich
ihren persönlichen Schutzengel. Einige berichten gar von eindrücklichen
Erfahrungen mit Engeln.

Wer durch solche Engelsboten Gottes Wirken spürt und einen Impuls
für die Gestaltung des eigenen Lebens empfängt, wird dankbar
sein. Wer sie jedoch zur Befriedigung eigener Wünsche sucht, wird
sich dann früher oder später enttäuscht abwenden, wenn
sie ihm nicht als Erfüllungsgehilfen dienen. Denn so wenig Gott
über sich verfügen lässt, so wenig lassen sich Engel
herbeizwingen und sich in den Dienst zur eigenen Verwirklichung einsetzen.
Ihre Aufgabe ist, auf die Gegenwart Gottes hinzuweisen. Meist machen
sie das sehr diskret. So, dass die Menschen oft erst dann erkennen,
dass sie im Alltag an ungewohntem Ort einem Engel begegnet sind, wenn
der Bote Gottes in menschlicher Gestalt längst wieder fort ist.

II
Wie erlebt also Jakob seine Begegnung mit den Engeln?
Von Kind auf kennen die meisten von uns diese Geschichte von Jakobs
Traum von der Schar der Engel. Dieses Bild von den auf einer Leiter
oder Treppe auf und absteigenden Engeln beeindruckte Generationen und
weckte die Erwartungen von vielen Gläubigen. Dieser Traum beflügelte
die Phantasie von vielen Künstlern. Er brachte ihnen – und uns
– etwas nahe, das uns fremd und zugleich so vertraut und ebenso wirklich
ist, wie alle Wirklichkeit um uns her. Es ist die Welt in und über
uns, die wir mit berechnender Art nicht so ohne weiteres erfassen. Jakobs
Begegnung mit den Engeln im Traum ist in gewisser Weise beispielhaft
für weitere und auch persönliche Begegnungen von Menschen
mit Boten Gottes.

Dieses Bild vom offen stehenden Himmel und den geschäftigen Engeln
lässt auch unserer Phantasie und den Gedanken freien Lauf. Das
Erschrecken Jakobs nötigt uns jedoch, ernsthaft über die Bedeutung
dieser Erscheinung nachzudenken. Wir erkennen zunächst, dass die
stummen Boten Gottes die weite Distanz vom Himmel zur Erde überbrücken.
Sie machen zugleich deutlich, dass nur sie diesen Weg in beiden Richtungen
begehen können und dass sich versteigt, wer ihnen folgt. Der Bericht
lässt aber offen, ob sie etwas, und wenn ja, was sie mit sich tragen.
Ist das Jakobs Kummer, ist es seine Schuld? Zügeln wir unsere Phantasie
und lassen das Spekulieren, so verlockend es auch wäre, darüber
Vermutungen anzustellen!
Nehmen wir schlicht zur Kenntnis, was auch Jakob sofort eingestehen
musste: „Hier steht der Himmel nicht offen, damit ich, Jakob, mich
dessen bemächtige noch mich himmlischen Genüssen hingebe.
Der Himmel steht offen, weil Gott das Wort an mich richtet und mir bedeutet,
dass er, der Gott Abrahams und Isaaks, auch mein Gott ist, der mich
bereits im Mutterleib erwählt hat. Dieser Gott lässt mich
nicht fallen. Er wird mich auf allen künftigen Wegen behüten.“

Mit dieser Erkenntnis erwachte Jakob und ihm gingen tatsächlich
die Augen auf: Er verstand, dass ihm dieses Land einst gehören
werde. Er hat erfahren: Hier ist Bethel, das Haus der Gegenwart Gottes.
Das soll der Stein, in dessen Schutz er geschlafen hat, als Mahnmal
aufgerichtet, bezeugen.

III
Eindrücklich aber stumm weist der so aufgerichtete Stein auf die
Gegenwart Gottes hin. Doch Gott legt sich nicht auf einen einzigen Ort
fest. Erst sein Wort macht weitere Dimensionen seiner Gegenwart bekannt:
Er wird Jakob zur Seite stehen, ihn an allen weiteren Orten behüten
und bewahren und ihm seinen künftigen Weg weisen. Er wird ihn also
sicher geleiten, bis er endgültig wieder da ankommen wird, wo er
geschlafen hat. Gott hatte der Mutter Rebekka schon vor der Geburt ihrer
beiden Söhne die besondere Stellung von Jakob zugesagt. An diesem
Ort bekräftigte er dem Flüchtenden sein früheres Wort
mit der Verheissung: „Siehe ich bin mit dir und, wo du hinziehst,
will ich dich behüten und dich in dieses Land zurückbringen.“
Das allein ist grossartig.

Noch grossartiger – aber weniger verständlich – ist, dass Gott
ausgerechnet dem Jakob die Treue hält, dem Menschen voller „krummer
Touren“.
Blenden wir kurz auf seinen Lebensweg zurück: Jakob, der „Fersenhalter“,
wurde so benannt, weil er bei der Geburt dem älteren Zwillingsbruder
Esau die Ferse hielt, wie wenn er ihn zurückhalten und ihm den
Rang streitig machen wollte. Jakob war, wie die Bibel berichtet, der
Liebling seiner Mutter Rebekka, der Gott vor der Geburt der Zwillinge,
vorausgesagt hatte, dass der ältere dem jüngeren Sohn dienen
werde.
Wir kennen wahrscheinlich Jakob auch als den, der dem hungrigen Bruder
gegen ein Linsengericht den Schwur abgetrotzt hatte, auf das Erstgeburtsrecht
zu verzichten? Wollte er mit der zweifelhaften Tat schneller ans Ziel
gelangen? Wollte er gar der Erfüllung des Willens Gottes etwas
nachhelfen? Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er eine Schwäche
Esaus brutal ausgenützt hatte.
Wesentlich eindeutiger ist die Anstiftung und Beihilfe der Mutter zum
Betrug am Vater. Wir erinnern uns noch: Erblindet und dem Tode nahe
bat Isaak den Esau, ihm ein Wild zu erlegen und ein gutes Gericht zu
kochen, auf dass er ihn segne und so des Erbes versichere. Die Nachricht
darüber stürzte Rebekka in ein Dilemma. Das nötigte sie
direkt, solches zu verhindern. So musste sie dem Esau zuvorkommen, denn
für sie stand die Erfüllung der göttlichen Verheissung
in Gefahr! Sie kochte ihrem Liebling Jakob ein Böcklein. Sie kleidete
ihn in Esaus Kleider, damit ihn der erblindete Vater für seinen
Erstgeborenen halte. Jakob spielte das üble Lügenspiel mit.
Möglichweise fühlte er sich durch den Linsengericht-Schwur
berechtigt. Er stellte sich dem Vater als Esau vor. Zur Untermauerung
seiner Lüge missbrauchte er Gott. Denn er erklärte dem Vater,
Gott hätte ihm das Wild so schnell zugeführt. Trotz gewisser
Zweifel segnete Isaak den Jakob und bestätigte ihm damit das Erbe.
Heimgekehrt erkannte Esau auf der Stelle den doppelten Betrug Jakobs
am Vater und an ihm. Erschrocken und tief traurig über Jakobs Schandtat
– und vielleicht auch über die Folgen seiner eigenen Schwäche
– wurde ihm klar, dass der Segen nur einmal erteilt werden kann. Zorn
erfüllte ihn und bittere Enttäuschung. Er beschloss, seinen
Bruder zu töten. Kaum hatte Rebekka das vernommen, versuchte sie
zu retten, was noch zu retten war, Sie überredete Isaak, den Jakob
zum ihrem Bruder Laban weit weg nach Mesopotamien zu schicken. Dort,
in ihrer Heimat, solle der heiraten, auf keinen Fall hier. Denn ob der
Schwiegertöchter aus dem hiesigen Volk der Hethiter sei ihr das
Leben verleidet. Jakob, der Intrigant, musste fliehen, denn jetzt war
Esau ihm auf den Fersen.

IV
Auf der ersten Fluchtstrecke bringen ihm die Engel weder den Himmel
noch die Erfüllung seiner geheimen Wünsche nahe. Aber sie
wecken sein Bewusstsein für die Gegenwart und die Verheissung,
dass Gott ihm die Treue halten werde.
Gott ist ihm plötzlich nahe und spricht ihn an. Jakob erschrickt
und fürchtet sich, denn er ist Gott begegnet, er hat den Himmel
geschmeckt und Hoffnung für die Zukunft geschöpft. Darum bindet
er sich an Gott und gelobt ihm Treue in einer etwas kecken Weise. Denn
er stellt die Bedingung, dass Gott ihm auf seinem weiteren Weg Brot
und Kleider garantiere.
Trotzdem geleitet die Verheissung, „Ich will dich nicht verlassen…“,
den schuldbeladenen Menschen auf seinem schweren Weg durch Gegenwart
und Zukunft bis ans Ziel. Denn die Zusage des Segens verspricht ihm
keine schmerzlose Tilgung seiner Schuld. Wir erinnern uns wie Jakob
Bitteres erfährt, wie er seine Familie, sein Land, alles was ihm
vertraut und teuer ist verlassen muss. Bei Laban beginnt er neu und
arbeitet hart, um dem Schwiegervater den Verlust der beiden Töchter,
seiner Frauen, zu kompensieren. Dabei wird auch er zum Betrogenen. Schliesslich,
nach 20 Jahren, kann er mit Rahel und Lea den Heimweg antreten.
Wirtschaftlich ist er gesichert. Doch Angst und Schuld drücken
in, bis er mit Esau ins Reine gekommen ist. Das geschieht spontan bei
ihrer ersten Begegnung. Esau schliesst seinen Bruder in die Arme. Er
nimmt ihn auf und gewährt ihm Gnade. Damit findet der lange Weg
des Jakob zwischen jäher Flucht und gütiger Aufnahme, von
der Schuld hin zur Vergebung, vom Hass bis zur Versöhnung ein glückliches
Ende. Unabhängig von irgend einem heiligen Ort erfahren die beiden
die versöhnende Gegenwart Gottes.

Auf seinem ganzen Weg hat Jakob Gottes Gegenwart erfahren. Sein Erleben
lehrt uns, dass sich Gottes Verheissungen nicht herbeizwingen lassen
und keineswegs ein Freibrief sind für eigene „krumme Touren“.
Die Engel erlösen ihn nicht. Sie machen ihn aber aufnahmefähig
für Gottes Wort und damit für die grosse Verheissung, die
Jakob gilt und allem Volk der Erde.
Das gilt auch uns. So dürfen wir dankbar zur Kenntnis nehmen, dass
Gott in unserem Leben – und damit auch auf unseren manchmal etwas krummen
Wegen – gegenwärtig ist. Er geleitet Israel und die Kirche, auf
ihrem Weg in Gegenwart und Zukunft. Er nötigt uns keinen Kraftakt
ab, etwa so, dass wir krampfhaft nach Engeln suchen und Schutzengel
beschwören müssten. Gott will, dass auch wir auf unserem Weg
offen bleiben für sein Wort – offen auch für seine Boten,
die uns irgendwo im Alltag – aber auch an vertrauten Orten – , durch
Wort und Tat bezeugen, dass er gegenwärtig ist in dem, der bekannt
hat: „Ich bin gekommen, damit sie Leben und reiche Fülle haben.“

Amen

Heinrich Rusterholz
u-h.rusterholz@bluewin.ch

 

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