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Göttinger
Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vaterunser

1. Teil (2. Juni 1998)

Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller


Klaus Schwarzwäller

Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name

Liebe Gemeinde,

Jesus selber war es, der uns das Vaterunser gab – ein Gebet, das die
Erfahrung als unausschöpflich erwiesen hat, und dabei ist es schlicht und
klar. So auch Anrede und erste Bitte, um die es heute geht. In diesen insgesamt
acht Wörtern ist nichts schwierig, erklärungsbedürftig oder gar
fraglich. In ihrer einfachen Knappheit laden sie vielmehr unmittelbar zum
Mitsprechen ein. Und wer sie mitspricht, hat sie verstanden und wird sie mit
jedem weiteren Sprechen immer besser und tiefer verstehen und also immer bewußter
und beteiligter sprechen.

Das scheint eine Predigt überflüssig zu machen, hier ist ja nichts
zu erklären, nichts auszulegen, nichts „rüberzubringen“.
Gewiß, doch es gibt noch eine andere Möglichkeit: sich einzuschwingen
in diese Worte, in ihren Klang und ihre Bewegung. Also gleichsam in sie
hineinzutauchen. Denn in ihnen kommt eine nicht alltägliche Welt zu Worte.
Da hat es seinen guten Sinn, sich auf sie eigens vorzubereiten und einzustellen;
um so bewußter und beteiligter werden wir mitsprechen können.

„Vater unser…“: Ich weiß nicht, wie ein vaterloser Mensch
das hört oder jemand, den oder die der Vater vernachlässigte oder mißhandelte,
oder eine Frau, die der Vater einst mißbrauchte. Ich weiß nicht, wie
das ein Mensch hört, der den Vater als Versager erlebte oder als
charakterlos, als Trinker oder als Schwätzer, als Bürde der Familie
oder als Quälgeist der Mutter – und was dergleichen erlittene Zerrbilder
der Vaterschaft mehr sind. Ich weiß, wie gesagt, nicht, wie diese Anrede
in Menschen schwingt und klingt, denen in ihren Leben ein wahrer Vater
vorenthalten blieb. Ob sie von ihren Erfahrungen absehen, sie einfach einmal
beiseiteschieben können? Doch wozu? Nein, nicht damit sie heilige Worte
ohne Beiklang hören mögen. Sondern damit sie jedenfalls für einen
Augenblick dazu frei seien, daß der ihnen in den Sinn kommt, an dem alles
sich ermißt und messen lassen muß, was da „Vater“ heißt,
und der selber uns allen dieser wahre Vater ist.

Der ich selber zu der kriegsbedingt vaterlosen Generation gehöre, weiß
nur zu gut, wie tief und schmerzvoll die Lücke klafft, die hierdurch
entstand, und nichts und niemand konnte sie ausfüllen. Auch ein Vater im
Himmel nimmt sie nicht hinweg. Sie tat auch dem Erwachsenen noch weh. Doch ich
weiß zugleich, daß ich ohne diesen Vater im Himmel, zumal in der
entscheidenden Phase, der Pubertätszeit, regelrecht abgeschmiert wäre.
So aber war da mein Schöpfer selber, der mich bejahte, mir gleichsam
ermunternd zunickte und mir Sinn, Orientierung und die Gewißheit gewährte,
unter der Leitung guter, machtvoller Hände zu leben und geborgen zu sein.
Und nicht nur dem Jugendlichen ist’s so ergangen. Als Erwachsener und mit
zunehmenden Jahren, Erfahrungen und Einsichten wurde mir zumal deutlich, was es
heißt, daß ich einen Vater im Himmel, daß ich, wie Jesus es
ausdrückte, einen „himmlischen Vater“ habe. Nein, er ist kein Übervater,
und er ist auch nicht wie ein großer Bruder, der die, die mir übel
tun, dafür haut. Doch er ist Vater – der, dessen Sohn ich zeitlebens bin
und bleibe, der, dem ich vertrauen kann; der, dem an mir liegt; der, vor dem ich
auch ein Kind und kindlich sein kann: schwach, ratlos, weich, trostbedürftig,
festgerannt. Was immer mir fehlt – jedenfalls habe ich ihn, den himmlischen
Vater. Es ist wunderbar, ihn zu haben und anreden zu können.

Das ist dann immer wieder eine Rückkehr zum Ursprung, von wo aus alles
sich entwirft oder auch wo alles in seiner Ungelöstheit und Last einen
neuen, einen mich befreienden Zusammenhang bekommt. Vieles dringt auf mich ein,
macht mich unruhig, besorgt, läßt bangen und zagen, verletzt oder belädt
– von eigenen Fehlern, der so mißliche Folgen nach sich zieht, bis hin zu
einem Fehlschlag, der mich herunterzieht. Was immer an Glück und Gelingen
mir widerfährt – es kann nicht diese Schattenseite wegnehmen und nicht
ihren Schmerz aufheben, zu schweigen von Selbstvorwürfen oder
Gewissenspein. Auch der Vater im Himmel nimmt das nicht einfach fort, macht es
nicht mit einer bloßen Handbewegung ungeschehen. Es ist, was es ist, und
es bleibt’s, ich habe damit zu leben. Und ich lebe vermutlich damit nicht besser
als jemand, der keinen Vater im Himmel anrufen kann. Doch daß ich ihn
anrufen kann – es verändert die Lage von Grund auf. Die Einsamkeit in
Schmerz oder Versagen ist aufgebrochen. Damit auch der Fluchtreflex überwunden,
der mich dazu bringen will, es nicht wahrzuhaben, mich ihm zu entziehen, es
wegzuleugnen, mir statt dessen meine Wunschwelt zu bauen. Nun muß ich
standhalten – und kann es merkwürdigerweise auch: Ich kann die Dinge
aussprechen und sie als zu mir gehörig akzeptieren. Denn gerade als dieser
bin ich sein Kind und habe ich das Recht, ihn anzurufen. Er ist nicht der
himmlische Vater derer, die sich geläutert oder seiner als würdig
erwiesen haben. Sondern er ist der himmlische Vater derer, für die Jesus
ans Kreuz ging, weil sie verloren sind, und denen er Gott zum Vater schenkte,
weil sie – weil wir ihn verloren hatten und in unserer Welt und inmitten der uns
umgebenden Menschen heimatlos und unbehaust wurden.

Das aber ist nicht nur persönliche Lebensbedingung, es prägt die
Lebensvollzüge und die Beziehungen, also – wie wir’s zusammenfassen: – die
Strukturen. Lebensförderliche, uns aufbauende, Wohl und Erfüllung gewährende
Strukturen sind nicht selbstverständlich. Sie müssen vielmehr mühsam
errungen werden, und ihre Bewährung kostet ständige Anstrengung. Ohne
diese Anstrengung zerfallen sie und lassen unsere Lebenswelt uns feindlich
werden. Und ohne ständige Aufmerksamkeit zu ihrem Erhaltkann bereits ein
einziger Demagoge oder Irrer sie zerrütten – wir haben die Beispiele vor
Augen in den gräßlichen Bürgerkriegen unseres Jahrzehnts oder
auch in den Scherben, die sengende und prügelnde Kahlköpfe hinterließen.
Menschliches Leben ergibt sich nicht einfach von selbst – von selbst geht es
verloren.

Das läßt auch die Frage aufkommen, welches unsere Ziele sind, auf
die hin wir Gedanken und Phantasie, Kräfte und Möglichkeiten, Einsatz
und Aufmerksamkeit bündeln? Was ist es, das Lebensqualität ausmacht –
das Wort ist längst in den Hintergrund getreten – und uns die Impulse gibt?
Im Kern hat das mit dem zu tun, was für uns wertvoll, ja was uns heilig
ist. Was uns heilig ist – hierauf lassen wir nichts kommen; im Gegenteil, wir
schützen es, wir halten es hoch, wir stehen für es ein. Wo uns nichts
– mehr – heilig ist, zerfällt und zerfasert unser Leben in Gleichgültigkeit
und Vordergründigem. Da entsteht Leere. Die ist vielen eine Last, sie
leiden unter ihr. Denn wo uns nichts heilig ist, da geht auch der Sinn verloren.
Da ist unser Leben wie amputiert.

Was immer uns heilig ist oder ob uns alles Heilige abhanden kam: Die erste
Bitte des Vaterunsers lenkt den Blick hin auf das Heilige, allerdings in merkwürdig
anmutender Form, daß nämlich der Name des himmlischen Vaters möge
geheiligt werden. Das läßt doppelt stutzen. Wieso gerade der Name?
Und: Warum diese schwebende Ausdrucksweise, in der nicht ausgesprochen wird, von
wem diese Heiligung ausgehen soll? Wer in die Bibel eingelesen ist, dem ist
vertraut: der Name steht immer wieder für Gott selbst; und die von uns als
schwebend empfundene Sprachform ist die traditionelle Weise, Gottes Handeln
respektvoll zu umschreiben. Und doch griffen wir daneben, schlössen wir
nun: Die Bitte meint somit Möge Gott sich selber heiligen! Das klänge
nicht nur unsinnig; es paßte auch nicht zur Anrede. Denn mit einer
derartigen Bitte wäre Gott auf sich selber verwiesen, also von uns
abgewendet. Abgesehen davon, daß Gott schwerlich so mit sich verfahren ließe:
Erwäre dann nicht mehr als unser Vater im Himmel angerufen, sondern als ein
Gott in der Ferner.

Nun aber geht es um seinen Namen. Der gibt keine Rätsel auf. Wo ich
mich nicht berühren oder in Anspruch nehmen lassen will, da bleibe ich
anonym – dem Schaffner im Zug, der Kassiererin im Supermarkt oder dem Tankwart
nenne ich meinen Namen nicht (es wäre denn, es gäbe einen besonderen
Grund). Doch wo ich Kontakt suche und in Verbindung bleiben will, da nenne ich
meinen Namen und gebe mich dadurch zu erkennen als an einer Beziehung
interessiert. Der Name ist die Brücke zueinander. Und so ist, indem hier
von Gottes Namen die Rede ist und nicht einfach von ihm selber, der himmlische
Vater als Vater wahrgenommen und angeredet, nämlich als der, der uns seinen
Namen eröffnet und dadurch mit uns in Beziehung tritt, in die Beziehung der
Liebe und Fürsorge. Mit der ersten Bitte also nehmen wir den Vater im
Himmel als unseren Vater im Himmel.

Und wir tun es, indem wir unsererseits uns unserem Vater im Himmel zuwenden
und seine Belange ansprechen. „Geheiligt werde dein Name.“ Das
Herrengebet, das uns Gott als unseren Vater im Himmel zu erkennen und anzurufen
lehrt, setzt uns als Erwachsene voraus. Auf Gottes Zuwendung mit seinem Namen
hin sagen wir gerade nicht sofort „Ich“ bzw.: „Wir“, sondern
wenden wir unsererseits uns ihm zu. Dein Name möge von dir heilig gemacht
und erhalten werden. Indem wir den Vater im Himmel anrufen, grapschen wir nicht
– gerade so ist ein unmittelbares Verhältnis möglich. Indem wir ihn
anrufen, nehmen wir auf, daß er zu uns in Beziehung getreten ist, daß
wir somit nicht in ein schön verkleidetes Nichts hineinsprechen, nicht an
ein frommes Traumgebilde uns wenden, nicht unsere Sehnsucht auf den Himmel
projizieren. „Unser Vater“ – „dein Name“: Das ist die
christliche Form des Gebets, des Gebets von Erwachsenen zu ihrem himmlischen
Vater.

Und sie bitten „Erwachsenes“ – das Vaterunser ist nicht leicht zu
beten! Sie bitten als erstes, also vor und über allem, daß Gottes
Name, daß also Gott in seiner Zuwendung zu uns als unser Vater, daß
er hierin unter uns heilig sei und bleibe. Das enthält ein doppeltes
Eingeständnis. Damit gestehen wir ein, daß die Heiligkeit von Gottes
Namen unter uns eines nicht ist: selbstverständlich. Daß eher das
Gegenteil der Fall ist, muß nicht ausgemalt werden. Und wir gestehen damit
ein, daß wir unsererseits nicht, jedenfalls nicht hinreichend fähig
sind, den Namen des himmlischen Vaters unter uns heilig zu halten – die
Kirchengeschichte liest sich dazu wie eine bestätigende Illustration. Und
so erzeigen wir uns in dieser Bitte als erwachsen auch darin, daß wir mit
ihr unsere Unfähigkeit aussprechen und zu ihr stehen: „Wenn nicht Du
selbst Deinen Namen unter uns heilig bewahrst – wir, wir von uns aus werden ihn
nach aller Erfahrung verhunzen.“ Wir von uns aus also werden die Beziehung
aller Voraussicht nach zumindest riskieren.

Wenn aber Gottes Name – immerhin: der Name Gottes! – unter uns nicht heilig
ist, nicht geheiligt wird: Was wird dann unter uns heilig sein? Was kann dann
unter uns heilig sein? Und wie von selbst drängt sich hier eine fatale
Alternative auf: Entweder Gottes Name ist heilig unser uns – oder Anderes. Daß
Anderes heilig war, ist immer wieder eingetreten. Als Schüler – im Dritten
Reich – lernte ich das Lied: „Deutschland, heiliges (!) Wort, du voll
Unendlichkeit…“ Hier ist die Rasse, dort die Klasse, anderenorts die
Geschlechtszugehörigkeit und noch anderwärts eine Idee heilig –
Geschichte wie Erfahrung lehren übereinstimmend, daß daraus regelmäßig
Unrecht, wo nicht Unheil erwuchs und das Leben brutalisierte. Manchen allerdings
ist durchaus Anderes heilig: die Kunst, die Wissenschaft, die Kultur, die
Gesittung, die Religion. Darüber brutalisiert das Leben nun wahrlich nicht,
sondern gewinnt es Tiefe, Fülle und Vielfalt. Denn damit ist zutiefst
Humanes ins Zentrum gestellt.

Etwas allerdings macht hier bedenklich: daß somit nämlich Gottes
Name und – mit Conrad Ferdinand Meyer zu reden – „die menschlichen Ziele“
zur Alternative werden. Eine derartige Alternative ist nicht akzeptabel. Wie
ist’s überhaupt möglich, daß sie entsteht? Denn bereits als
solche diskreditiert sie entweder Gottes Namen oder spezifische Ausdrucksformen
unseres Menschseins, und dabei kann man sich nicht beruhigen – es sei denn,
Gottes Name wäre für uns ohne Belang. Dann allerdings hätten wir
auch den Vater preisgegeben, also Gottes Zuneigung und Zuwendung als
bedeutungslos aufgefaßt. Das Vaterunser würde darüber bloßes
Wortgetön, Halten wir aber an ihm fest, dann befinden wir uns an dieser
Stelle in einer Spannung, die sich nicht auflösen läßt.

Diese Spannung also ist da. Und indem sie besteht, redet sie ihrerseits,
redet sie laut und vernehmlich. Sie sagt: Indem wir uns auf das Vaterunser
einlassen, werden wir zu dem grundlegenden Fragen und damit auch Unklarheiten
und Problemen unseres persönlichen wie unseres Zusammenlebens geführt.
In der Tat, es ist ein Gebet für Erwachsene; denn es bringt die schweren
entscheidenden Themen des Menschseins auf. So bereits die Anrede. Mit ihr steht
zur Frage, wer oder was uns trägt und ob wir in unserer Lebenswelt behaust
sind oder enthaust. Mit ihr nämlich geht es darum, ob uns Gott fern ist
oder unser Vater, jenseitige Gottheit oder liebender Schöpfer. Und so mit
dieser ersten Bitte. Sie führt in die Besinnung darauf, was uns heilig ist
– wenn denn überhaupt – und wie dabei unsere Werte und Ziele zu stehen
kommen. Denn mit ihr geht es darum, ob wir Gott in seiner Zugewendetheit als
unser Vater wirklich wahrnehmen oder übergehen, ob er uns als unser Vater
wirklich Gott ist oder ein Etwas, ein Begriff eine Idee. Und auch darin ist es
ein Gebet für Erwachsene, daß es uns weder Antworten noch Lösungen
präsentiert.

Gerade darin aber nimmt es uns in der Tat als erwachsen – erwachsen auch als
die Kinder des himmlischen Vaters. Denn als diese wissen wir: Es gibt hier weder
Lösung noch Antwort, sondern wir selber mit unserem Leben sind Lösung
und Antwort. Das ist es, was hier zur Frage steht. Darin freilich läßt
uns das Vaterunser nicht allein, sondern es hilft uns durch seinen schieren
Wortlaut, diesen Weg der persönlichen Antwort und Lösung zu finden und
zu gehen. So durch die Anrede. Indem wir sie aufnehmen und von ihr leiten
lassen, wird uns Gott zu dem, der um unser Vertrauen wirbt und uns Geborgenheit
verheißt. Und so durch die erste Bitte. Indem wir sie aufnehmen, werden
wir zu der Einsicht geführt, daß Gott würdig ist, unter uns
heilig zu sein und zu heißen, und mit der Erkenntnis beschenkt, daß
sich die Dinge fügen und unser Leben sein Ordnung gewinnt, indem er, Gott
selber, seinen Namen unter uns heilig sein läßt – was immer sich
daraus ergibt.

Nichts ist in den ersten zweimal vier Wörtern dieses Gebetes schwierig,
erklärungsbedürftig oder gar fraglich; allenfalls wir selber sind es.
Indem wir uns ihnen öffnen, in sie hineinschwingen, in ihren Klang und in
ihre Bewegung gleichsam hineintauchen und uns von ihnen leiten lassen, lernen
wir, sie zu sprechen, sie zu beten uns aus ihnen zu schöpfen.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller, Universität Göttingen

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