Göttinger Predigten im Internet: Aktuelle Predigt

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Göttinger Predigten im Internet: Aktuelle Predigt

 


 

Göttinger
Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag: Reminiszere
Datum: 8.3.1998
Text: Römer 5, 1-5
Verfasser: Prof. Dr. Gebhard Löhr


 

Predigttext: Römer 5, 1-5

1 „Gerechtfertigt also aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott
durch unseren Herrn Jesus Christus, 2 durch den wir auch den Zutritt
erhalten haben im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und wir
rühmen uns aufgrund von Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. 3
Doch nicht allein das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse,
weil wir wissen, daß die Bedrängnis Geduld bewirkt, 4 die
Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung. 5 Die
Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden, denn die Liebe
Gottes ist ausgeschüttet in unsere(n) Herzen durch den Heiligen
Geist, der uns gegeben worden ist“ (nach Ulrich Wilckens).

Liebe Gemeinde,

in unserem heutigen Predigttext wird die christliche Existenz
geschildert, so wie Paulus sie versteht. Es ist eine Schilderung, die
verwirren und Angst machen kann.

Das ist wohl eine erstaunliche Feststellung. Auf den ersten Blick
ist unser Text doch voller hoffnungsvoller, ermutigender Vokabeln:
Frieden, Hoffnung, Gnade, Liebe, Herrlichkeit (v. 1-2). Der Tonfall
und die Wendungen erinnern schon an das triumphale Kapitel 8: „Wer
wird uns trennen von der Liebe Gottes? Etwa Bedrängnis…?“
In unserem Abschnitt drückt sich Paulus vielleicht noch
zugespitzter, noch herausfordernder aus: die Bedrängnisse binden
uns nur noch enger an Gott. Sie erzeugen gleichsam die Eigenschaften,
die wir haben müssen, um Kinder Gottes zu sein. Sie machen uns
bereit für den Empfang der Liebe Gottes (v. 3-5).

Trotzdem bleibe ich dabei: ein beängstigender, verwirrender,
beunruhigender Text. Eine Schilderung christlicher Existenz, wie wir
sie bei genauerer Betrachtung nicht so gerne hören wollen.

Zunächst einmal: es ist offenbar eine Existenz, die um das
Sich-Rühmen kreist (v. 2-3). Damit können wir nicht viel
anfangen. In vielen Predigtvorschlägen für unseren Text wird
denn auch das „Sich-Rühmen“ übergangen. Mit „sich
rühmen“ ist nicht „Angeben“, „Prahlen“
gemeint. Paulus nimmt einen jüdischen Begriff auf, mit dem der
Fromme seine Existenz vor Gott beschreibt und bestimmt. Er gewinnt
daraus die Sicherheit, von Gott angenommen zu sein, und seinen
Standort in der Gemeinschaft der Mitgläubigen.

Nach Paulus rühmen sich auch die Christen. Auch sie bestimmen
damit ihren Platz vor Gott und den Mitmenschen. Das ist für viele
von uns eine ganz eigenartige, ungewohnte Vorstellung: christliche
Existenz beinhaltet, sich darüber klar zu werden, wie und wo man
vor Gott steht, und sich darüber klar werden, wie und wo man in
der Gemeinschaft der Gläubigen, also der Kirche, steht. Schon
hier beginnt das Verwirrende, Verstörende des Textes. Man muß
Position beziehen, eine Position definieren, Verbindlichkeiten im
Leben akzeptieren, vor sich selbst, und vor anderen.

Die Positionsbeschreibung, die ein Christ nach Paulus vollziehen
soll, ist allerdings alles andere als beruhigend oder befriedigend.
Das Rühmen hat eine vertikale und eine horizontale Dimension.

Gegenstand des Rühmens ist zuerst die Hoffnung auf die
Herrlichkeit Gottes (v. 2). Die Bestimmung der Position vor Gott
beschreibt also nicht einen Zustand, ein „Sein“,
sondern eine Zukunft, eine Hoffnung, ein „Werden“.
Das Geniale, Kühne der Denkweise des Paulus wird an diesem Punkt
greifbar: mit einem Konzept, das einen Zustand bestimmt, ein Sein
definiert, nämlich den eigenen Standort vor Gott und den
Menschen, und das den Stolz beschreibt auf das damit Erreichte,
beschreibt der Apostel eine Dynamik, ein Werden, eine Bewegung, die
allen Stolz, alles Rühmen der Sache nach aufhebt. Alles was
Christen haben, ist ein „Noch-Nicht-Sein“. Wer kann so
existieren? Wer kann darauf hin existieren?

Paulus‘ Existenzbeschreibung des Christen wirkt noch beunruhigender,
wenn man bedenkt, auf welches Ziel hin die Bewegung ausgerichtet ist:
auf die Herrlichkeit Gottes. Damit ist das Reich Gottes am Ende aller
Zeiten, vielleicht auch schon eine Existenz bei Gott nach der
individuellen Auferstehung gemeint. Christen unterscheiden sich also
nach Paulus von anderen Menschen dadurch, daß sie glauben, daß
es ein Ende der Welt geben wird, und ein neues Reich Gottes. Das ist
die erste Verhältnisbestimmung, die Paulus in unserem
Text für unser Verhältnis zu Gott gibt. Und alles Weitere
kreist um diese Verhältnisbestimmung! Was Christus für
uns getan hat: die Eröffnung des Zugangs zu Gott; was der Glaube
bewirkt: Frieden mit Gott; worauf sich die Hoffnung richtet: die
Herrlichkeit Gottes; alle diese Bestimmungen finden ihre Erfüllung
in dem Gedanken der Vollendung in der Herrlichkeit Gottes. Der
christliche Glaube wäre nach Paulus seines Kerns, seines Wesens
und seines Profils beraubt, wenn diese Dimension vergessen wird. Das
Gottesverhältnis der Christen gewinnt aus dieser Dimension eine
Eigentümlichkeit, die mit dem in keiner anderen Religion zu
vergleichen ist. Das christliche Gottesverhältnis ist keine „Beziehung“
zwischen Gott und Mensch, denn eine Beziehung setzt feststehende Größen
voraus; aber bei Paulus sind Gott und Mensch sind in Bewegung. Auch
die Mystiker haben nicht recht: die Differenz zwischen Mensch und Gott
wird nicht aufgehoben, bis die Hoffnung vollendet ist. Sogar der große
Begriff „Liebe“ (Agape), der in unserem Text fällt (v.
5), wird von dieser Perspektive her bestimmt: die Liebe Gottes ist das
Unterpfand dafür, daß die Hoffnung auf die Zukunft Gottes
nicht trügt.

Ein Christentum, das von der endzeitlichen Herrlichkeit Gottes nicht
mehr spricht, kann auch nicht mehr von der Liebe Gottes sprechen. Das
ist eine der verstörenden Perspektiven unseres Textes. Die
Wirklichkeit des Lebens wird von Paulus ganz korrekt beschrieben: „Bedrängnisse“
(v. 3). Wie kann man da von der Liebe Gottes sprechen? Die Rede von
der Liebe Gottes wird zu einer leeren Beschwörungsformel, wie so
viel von unserem theologischen Reden, wenn die Hoffnung auf Gottes
Herrlichkeit fehlt. Noch einmal, und zugespitzt formuliert: die
christliche Agape wird zuerst und vor allem vom Gottesverhältnis
her definiert. Und sie gewinnt ihren Gehalt aus der Perspektive der
endzeitlichen Vollendung. Andere Dimensionen der Agape sind aus diesem
Verständnis abgeleitet und gewinnen nur aus diesem Blickwinkel
ihren Gehalt. Das gilt für die Liebe der Christen zu Gott, und für
die Liebe der Christen untereinander.

Damit stehen wir bereits bei der horizontalen Dimension des Textes.
Auch da ergeben sich verstörende Einsichten. Paulus spricht ja
noch einmal vom „Sich-Rühmen“ (v. 3). Dieser „Ruhm“
gründet sich nicht auf das, was wir irdisch „haben“. Er
gründet sich nicht auf unsere Spiritualität, auf die Kirche,
auf die Gemeinde, auf unsere Frömmigkeit. Auch in dieser
irdischen Dimension gibt es nichts, was wir „haben“, „festhalten“,
„besitzen“ können.

Oder doch? Was wir „haben“, benennt Paulus ganz genau:
eben die Bedrängnisse. Aber auch dieses (paradoxe) Haben setzt
wieder eine Bewegung frei. Ich habe mich bei der Schilderung dieser
Bewegung durch Paulus (v. 3-4) an den Heilsweg im Buddhismus erinnert
gefühlt. Auch im Buddhismus wird von der bedrängenden Realität
des Leidens ausgegangen. Der Buddha lehrt nun einen mehrstufigen Weg,
den heiligen achtteiligen Pfad, der methodisch die Überwindung
des Leidens bewirken soll. Eine Stufe ergibt sich aus der nächsten;
auf jeder Stufe werden Eigenschaften ausgeprägt, die zur
Erreichung der nächsten befähigen sollen. Auf den höchsten
Stufen wird der Buddha-Anhänger dann zum Heiligen (arhat), der
durch Leid nicht mehr erschüttert werden kann, der – wie man
sagen könnte – die Welt überwunden hat.

Auch Paulus spricht von einem Stufenweg, doch wohin führt
dieser Weg? Das Ziel ist nicht: Heiligkeit, Weltüberwindung und
Unerschütterlichkeit. Paulus nennt überhaupt keinen Zustand
als Ziel des Weges, sondern die Hoffnung, die nun noch genauer
beschrieben wird (v. 5). Sie ist keine Eigenschaft, die der Christ
hat, sozusagen ein Habitus, eine innere Haltung, sondern sie
ist ein Geschenk Gottes. Weil aber der Anfang des Weges und das Ziel
des Weges nicht in unserer Hand stehen, sind, so darf vermutet werden,
auch die Stationen des Weges nicht unser Werk. Geduld, Bewährung,
Hoffnung sind nicht die Eigenschaften von Heiligen, die durch die Welt
nicht mehr erschüttert werden können, sondern die paradoxen
Stationen eines Weges, auf dem wir uns zwischen einer Hoffnung, die
uns geschenkt ist, den Trübsalen, die uns geschickt sind, und der
Bewährung, die im Blick auf die Bedrängnisse von der
geschenkten Hoffnung her gewährt wird, hin-und-herbewegen.

In unserem Text wird also die christliche Existenz wirklich
beunruhigend geschildert: als eine ständige Bewegung zwischen den
Bedrängnissen des Lebens und einer Hoffnung, die sich auf etwas
bezieht, daß selber nur wieder geglaubt werden kann. Das ist
eine sehr hohe, schwierige Botschaft. Aber wir stehen hier ganz nahe
am Kern, am Geheimnis des christlichen Glaubens, so wie es Paulus
verstanden hat. In keiner mir bekannten anderen Religion ist die gläubige
Existenz so gewagt bestimmt worden. Christliche Existenz ist eine „paradoxe“
Existenz, hat man gesagt. Wir sind Bettler, aber wir sind reich.
Dieser Reichtum wiederum ist arm, er hat sozusagen keine Dimensionen.

Paulus hat durchaus etwas von Gemeinschaft der Christen und von der
spirituellen Dimension des Glaubens zu sagen gewußt. Aber beides
sind nur Mittel zum Zweck, um in die paradoxe Dimension des Glaubens
einzuweisen. Wo Kirche, wo Frömmigkeit, Spiritualität zu Größen
werden, die wir festzuhalten, zu besitzen meinen, auf die wir uns
berufen, derer wir uns „rühmen“ wollen, ist der Kern
der christlichen Existenz nach Paulus mißverstanden und
aufgegeben. Biblisch ausgedrückt: es liegt, trotz aller Frömmigkeit
und Gläubigkeit, ein Abfall vom Glauben vor.

Paulus legt in unserem Text eine Schilderung der christlichen
Existenz vor. Es ist eine Existenz in Bewegung, in einer Hoffnung, die
sich von Gott beschenken läßt, dessen Geschenk aber
wiederum Hoffnung ist. Diese Existenz wird nie anschaulich, weil ihre
Anschaulichkeit gerade die Unanschaulichkeit ist.

Kann man so als Christ leben? Ich möchte aus unserem Text zwei
konkrete Schlußfolgerungen ableiten:

  1. Christliche Existenz nach Paulus ist unvereinbar mit jedem Gefühl
    von spiritueller, religiöser Sicherheit oder Selbstsicherheit.
    Von dieser Erkenntnis müßte in unseren Gemeinden und in
    unserer Theologie wieder mehr zu spüren sein. Erstarrung,
    Abschottung und Abgrenzung bis hin zu dünkelhafter Rechtgläubigkeit
    verfehlen das christliche Leben in allen seinen Dimensionen, sowohl
    gegenüber Gott als auch vor den Mitmenschen.
  2. Christliches Existieren nach Paulus ist anscheinend eine hohe
    Kunst. Eine solche Kunst muß eingeübt und trainiert
    werden. Auch ein Seiltänzer muß ständig trainieren,
    um nicht abzustürzen. In unseren Gemeinden sollten „Trainingshilfen“
    für die Einübung und Ausübung der hohen Kunst
    christlichen Existierens gegeben werden. Dazu gehört nicht
    zuletzt ein immer wieder praktiziertes Bedenken und Meditieren der
    Texte des Paulus.

Es könnte, ja es müßte dazu kommen, daß wir
unsere Vorstellungen von der christlichen Existenz im Lichte
dessen, was Paulus sagt, gründlich überdenken müssen.

Amen.

Prof. Dr. Gebhard Löhr, Universität Greifswald, J.-S.
Bachstr. 27, 17489 Greifswald


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