Hebräer 12,12-18

Hebräer 12,12-18

2. So n. Epiphanias | 14.01.2024 | Hebr 12,12-18 | Martina Janßen |

I. Ich öffne den Brief, gespannt und voller Erwartung. Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und tut sichere Schritte mit euren Füßen, jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung. Ich lese und bin begeistert. Diese Worte treffen mich, als seien sie für mich hier und heute geschrieben; sie treffen mitten in mein Herz, das hungert und dürstet nach Frieden und Sicherheit in einer Welt, in der so vieles in Chaos und Dunkelheit versinkt, und ich taumle mittendrin, mürbe und müde geworden durch all das Erstarken von Hass und Gewalt auf den Straßen, in den Kriegen, in den Köpfen, von all dem Schwanken und Schwächeln der Demokratien, den Schritten nach rechts und den Tritten nach allem, was anders ist. Wie sehr wünsche ich mir Frieden und die Kraft, „nicht müde [zu] werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hin[zu]halten“ (Hilde Domin). Die müden Hände stärken und dem Frieden nachjagen. Ich lese und sage von ganzem Herzen „Ja“ dazu, das sind Worte wie Balsam für meine Seele, süß und sehnsuchtsvoll – und doch: Ein bitterer Beigeschmack stellt sich ein, erst zwischen den Zeilen, dann schwarz auf weiß, erst unklar, verschwommen, stellt sich immer schärfer, unübersehbar fällt es mir dann wie Schuppen von den Augen: Da ist eine Bombe in der Torte.

II. Ich lese ein zweites Mal. „Frieden, Stärkung, Heiligung“ – all das muss man groß machen, sicher, aber indem man andere klein macht? Das schon weniger, aber genau das lese ich. Die Zeilen atmen den Geist schwarzer Pädagogik, rhetorische Rohrstöcke, peitschende Parolen und Ausrufungszeichen wie erhobene Zeigefinger. Mache dies und das und wehe, wenn nicht. Kein offener, freundlicher Brief, der aufmuntern und aufbauen will, sondern – wie der Autor selbst es nennt – ein „Wort der Ermahnung“ (Hebr 13,22), eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hat, harte Worte geschrieben mit harter Hand und hartem Herzen. Bloß kein Straucheln, Zögern, kein Schwäche-Zeigen, sonst drohen Konsequenzen. Sieh dir nur Esau an. Wie ein ungehorsamer Schüler wird Esau bloßgestellt, in die Ecke gestellt, da steht er nun am Pranger, als negatives Beispiel vorgeführt, allen anderen zur Abschreckung vor Augen geführt: So wirst auch du enden, wenn du müde und kraftlos bist. Kein Hauch Verständnis für Esau, kein Spielraum für den, der es falsch gemacht hat. Sicher, was Esau getan hat, war nicht nur ein schwacher Moment, das war schon ein starkes Stück. Sein Erstgeburtsrecht hat er verkauft und den Segen verhökert für einen Teller Linsensuppe. Das ist respektlos, ohne Frage. Doch vielleicht hatte er Gründe? Vielleicht hatte Esau einfach Hunger? Doch danach wird nicht gefragt, für Esau gibt es nur ein Urteil: Er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte. Esau bleibt in der Ecke, angezählt, ausgeknockt, Segen verzockt. Das war’s, ein für alle Mal. Ich bin ernüchtert und eingeschüchtert. Ein Plädoyer für den Frieden geht doch auch ohne Drohkulisse: „Selig sind, die Frieden stiften!“ (Mt 5,9). Wenn mir eine solche Verheißung den Rücken stärken würde, würde mich das mehr motivieren, das wäre mehr nach meinem Geschmack. Doch es kommt noch bitterer. Nicht allein, dass der Autor Esau bloßstellt, er ermuntert auch andere, es ihm gleich zu tun, alle Schwachen und Müden in Esaus Ecke zu stellen. Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden. Überwachen, Petzen, Denunzieren, damit der reine Rest nicht verunreinigt werde, damit sich ja keiner anstecke bei solchen Menschen wie Esau – „big brother is watching you“. Eine ganz eigene Spielart christlicher Brüderlichkeit, die mir so gar nicht schmeckt. Bittere Worte sind das, klare Trennlinien zwischen rein und unrein, schwarz und weiß, kein Raum für Grautöne, kein Spielraum für Verständnis und Neuanfänge. Schwarze Pädagogik zwischen Drohung, Demütigung und Denunziation. Dazu sage ich aus ganzem Herzen „nein“. Und überhaupt, all diese Imperative:  Stärkt die müden Hände, jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung. Kann man Frieden befehlen? Auf Kommando stark sein? Heiligung anordnen? Kommen da nicht bestenfalls lustlose Lippenbekenntnisse heraus, fleischloses Plappern wie die Heuchler, die mit salbungsvoller Stimme „Gewalt ist keine Lösung“ hauchen und die Hand in der Hosentasche zur Faust ballen? Ich bin ernüchtert und eingeschüchtert. Ist dieser negative Beigeschmack alles, was bleibt von jenem Brief, den ich so erwartungsvoll geöffnet habe? Also ab in den Giftschrank mit dieser pädagogischen Performance aus dunklen Zeiten? Stempel drauf und Akte zu: Annahme verweigert?

III. Ich lese zum dritten Mal, versuche zu verstehen, was den Autor umtreibt und antreibt, was ihn so hart und kompromisslos macht. Der Hebräerbrief wurde in einer Zeit verfasst, in der die Christen glaubensmüde waren. Die Begeisterung für das Bekenntnis ließ nach, das Feuer, das einst das Herz in Flammen setzte, wurde schwächer, drohte ganz zu erlöschen. Doch was bleibt dann? Diese Entwicklung setzt den Autor unter Druck und diesen Druck gibt er weiter. Mit Appellen versucht er, dem Abfall vom Glauben entgegenzuwirken, das Feuer am Brennen zu halten und die nur noch schwach glimmende Glut wieder neu zu entfachen. Dabei geht es ihm weniger um die öffentliche Performance und gesellschaftliche Relevanz von Kirche oder gar um sinkende Kirchensteuern und schwarze Zahlen als um Jesus Christus selbst. Dafür brennt er, für das, was Christus erkämpft, erlitten und errungen hat für uns, damit wir nicht inDunkelheit und Finsternis und Ungewitter gelangen. Wenn nun die Menschen im Glauben wanken und müde werden, wenn sie das, was sie bekannt haben, vernachlässigen, Schritt für Schritt davon ablassen und es ganz loslassen, dann wird der Kreuzestod Jesu zum Gespött (Hebr 6,6) und alles wäre umsonst – Jesu Opfertod, Gottes Liebe,  das Brennen des Geistes, das das Herz einst so in Flammen setzte. Nichts als Asche, alles aus, vergangen und verweht. Das kann und will der Autor des Briefes nicht zulassen, will nicht das dem Spott preisgeben, was so teuer erkauft wurde, was ihm selbst so kostbar und unantastbar ist. Seine Härte ist die Frucht seiner Not:  Bewahrt das Bekenntnis, bewährt euch im Glauben, sonst stirbt euer Glaube, sonst sterben wir alle wie eine schwache Flamme, über die ein Windhauch zieht so als hätte es Gottes Liebe nie gegeben. Ich werde milder, beginne zu verstehen, auch wenn die Abneigung gegen die schulmeisterliche Pädagogik bleibt. Stärke, Frieden, Heiligung kann man nicht ins Herz diktieren, geschweige denn mit Worten einpeitschen oder mit Angst in einen hineintreiben, aber an die Achtsamkeit appellieren, das geht schon und das tut Not, gerade heute und hier, wo eine Kirchen – und vielleicht sogar Glaubensmüdigkeit um sich greift. Jetzt ist an uns, uns im Glauben zu bewähren und unser Bekenntnis zu bewahren, vielleicht gerade indem wir manches neu anpassen und nicht ängstlich auf das Gestrige starren und stocksteif darauf beharren, wie es immer war und in alle Ewigkeit sein soll. Denn – wie heißt es schön – „Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche“? Brennt unser Herz noch? Oder stehen wir da mit leeren Herzen und Händen, durch die uns nichts als kalte Asche rinnt? Um mich herum spüre ich so viel Müdigkeit, so viele Menschen sind beziehungsmüde, krisenmüde, demokratiemüde. Und dann geht es so schnell. Unbemerkt schwindet Achtsamkeit für das, das einst so wichtig war. Wenn man sich in Beziehungen nicht mehr bemüht und blind gegenüber den Bedürfnissen des anderen wird, können Freundschaft und Liebe einschlafen, sich abschleifen und abnutzen und dann hat man sich auf einmal sehenden Auges aus den Augen verloren. Es ist so nah, so unbegreiflich greifbar – wie sich in unsere demokratische Gesellschaft Gleichgültigkeit wie ein Gift einschleicht und jene Werte Gefahr laufen, zersetzt zu werden, die für uns und von uns erlitten, erkämpft und errungen sind. Extremismus und Populismus machen sich auf den Straßen und in den Köpfen breit und drängen freiheitliches Denken an den Rand, aber auch in der Asylpolitik verschiebt sich so manche menschliche Grenze, damit Menschen nicht über Grenzen kommen. Wenn man Demokratie, Humanität und Toleranz für selbstverständlich ansieht und auf einmal merkt: Selbstläufer sind das nicht – dann tut das weh. Und was einst so kostbar war, ist nun so antastbar, man steht daneben mit müden Händen, wankenden Knien und unsicheren Schritten, mit erschöpftem Geist und gelähmtem Herzen bis dann das bittere Erwachen kommt. Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter und man weiß nicht so recht, wie und warum. Was droht Ihnen durch Herz und Hände zu rinnen? Bleibt achtsam! Bewährt euch und bewahrt das Kostbare. Setzt es nicht auf’s Spiel, setzt nicht das dem Spott preis, wofür euer Herz brennt. Vielmehr:  Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und tut sichere Schritte mit euren Füßen, jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung.

PD Dr. Martina Janßen

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