Hebräer 10, (19-22).23-25

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Hebräer 10, (19-22).23-25

 


1.
Advent, 2. Dezember 2001
Predigt über Hebräer 10, (19-22).23-25 , verfaßt von Hans-Gottlieb
Wesenick
auf der Grundlage einer Predigt von Hartmut Löwe (1)


Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit
haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen
und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines
Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so laßt
uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt
in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am
Leib mit reinem Wasser.

Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken;
denn er ist treu, der sie verheißen hat; und laßt uns aufeinander
achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen
unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen,
und das um so mehr, als ihr seht, daß sich der Tag naht.

Liebe Gemeinde!

Das hat wohl jeder schon erlebt: auf einmal geht es nicht mehr weiter.
Eine Tür ist verschlossen; ein Grenzstein, ein Schlagbaum, ein Verbotsschild
markieren plötzlich eine unüberwindliche Grenze. Wir stehen
am Ende unserer Welt.

Die Alten stellten sich zwischen Himmel und Erde eine Wand vor. Sie rannten
dagegen an und erfuhren, wie schwer sie sich durchstoßen läßt.
Sie waren fest davon überzeugt: Gottes Welt und unsere Erde sind
einander fremd, oft sogar feind. Folglich gibt es profane, also weltlich-menschliche
Bereiche, und es gibt davon abgegrenzte Bezirke des Heiligen. Heute reden
und denken wir nicht mehr so. Die Welt, so sagen wir, ist eine geworden,
Profanes und Heiliges sind nicht länger mehr getrennte Bereiche.

Da ist gewiß Richtiges erkannt. Denn wir leben ja „nach Christi
Geburt“, post Christum natum. Und mit dem Kommen Jesu Christi in
unsere Welt sind Grenzen niedergerissen worden. Gleichwohl denke ich manchmal,
ob nicht die Alten klüger waren als wir, realistischer, nüchterner,
jedenfalls mit beiden Beinen auf der Erde stehend und nicht ständig
auf Illusionen schwebend in ihrer Welt unterwegs. Wie sie geraten auch
wir nach wie vor an Grenzen. Noch immer und nicht selten schon wieder
gibt es verschlossene Türen. Da können wir nicht weiter, bleiben
gefangen.

Was am 11. September in New York und Washington passierte, das ist solch
eine neue Grenze. Plötzlich war sie da – für die Amerikaner
und mit ihnen für die ganze sogenannte westliche Welt. Viel ist darüber
geredet und erklärt worden seither. Nur allmählich werden Konturen
erkennbar, Konturen eines tiefgehenden und seit langem schon schmorenden
Konflikts, Zusammenhänge, Gründe. Der Schock sitzt tief. Und
viele Reaktionen auf das schreckliche Geschehen überzeugen nicht.
Natürlich muß dem Terrorismus entschlossen begegnet werden,
auch mit militärischen Mitteln. Dennoch ist noch völlig ungewiß,
wie die Militäraktionen in Afghanistan ausgehen werden. Noch ist
diese Tür nicht offen.

Und eine andere auch nicht: wird es der UNO-Konferenz, die am Dienstag
in Bonn begonnen hat, gelingen, eine neue staatliche Ordnung für
Afghanistan wenigstens im Ansatz zu vereinbaren? Oder werden hier ungewollt
schon verhängnisvolle Weichen für den nächsten Krieg gestellt?

Als eine dritte verschlossene Tür sehe ich das recht schwierige
Verhältnis zwischen unserer westlichen Welt und der orientalisch-muslimischen
Welt. Die westliche Welt ist stark vom Christentum geprägt, hat sich
aber von diesen Wurzeln immer mehr gelöst und trennt nun stark zwischen
Religion und Glaube als persönlichen Überzeugungen auf der einen
Seite und dem neutralen Staat und einer Gesellschaft, in der jeder gleiche
Rechte hat und jeden gelten lassen soll, auf der anderen Seite. Für
Muslime ist diese Trennung kaum vorstellbar: Mensch, Staat und Gesellschaft
gehören unter Allah auf’s engste zusammen. Die Religion, der Glaube,
sie bestimmen das ganze Leben.

Wer wird solche verschlossenen Türen aufschließen? Wie finden
Menschen und Gesellschaften in unserer Welt trotz teilweise grundverschiedener
Überzeugungen dennoch in Frieden zueinander? Wo sind Himmel und Erde
wirklich füreinander offen?

Im Alten Testament klagt und schreit die Gemeinde: „Ach, daß
du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor
dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser
sieden macht.“ Wollte Gott doch endlich eingreifen! Diese Sehnsucht
ist übermächtig.

Das bleibt unsere Situation, liebe Gemeinde, auch nach Christi Geburt!
Wollte Gott doch endlich eingreifen. Das wünschen sich auch bei uns
viele. Wir leben im Advent, immer wieder. Türen sind verschlossen.
Himmel und Erde sind einander fremd und feind. Gott und Mensch sind einander
nicht „grün“, und auch die Menschen untereinander stehen
auf Kriegsfuß miteinander.

Wir stoßen auf unüberwindliche Grenzen. Wir haben keinen Schlüssel
zu der verschlossenen Tür. Christen glauben: Das kann sich nur ändern,
wenn uns einer von der anderen Seite entgegen und zu Hilfe kommt, wenn
Gott selber eine Tür auftut. Dann werden sogar eiserne Vorhänge
durchlässig. Dann kann der Eintritt in das Heilige gelingen. Der
Autor des Hebräerbriefes sagt: „Wir haben durch das Blut Jesu
die Freiheit zum Eintritt in das Heiligtum.“ Es bleibt nicht immer
nur Advent. Wir warten nicht umsonst. Verschlossene Türen werden
sich auftun!

Es ist wie am Heiligen Abend, wenn sich die Tür zum Weihnachtszimmer
öffnet: „Christus hat uns einen neuen und lebendigen Weg durch
den Vorhang aufgetan.“ Der Vorhang im Jerusalemer Tempel verschloß
das Allerheiligste dort; nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr hinter
diesen Vorhang treten und so dem Göttlichen ein wenig näher
kommen als alle anderen Menschen. Heute möchte ich diese Begriffe
und Bilder des Hebräerbriefes jedoch nicht weiter erklären.
Dazu wird ein ander Mal Gelegenheit sein. Entscheidend ist, daß
der Autor mit diesen Sätzen sagen will, was durch Christi Kommen
in die Welt neu und anders geworden ist, nämlich: während menschliche
Wege überall vor Mauern und verschlossenen Türen enden, gehen
Christen auf einem Weg, der weiterführt. Ihr Weg ist eine Brücke
zum Paradies. Er verbindet Himmel und Erde. Es ist Gottes Weg, der weiterführt.
Er gibt uns nicht auf, bis er uns gefunden hat.

Darum ist zu fragen: Wie wird Gottes Weg unser Weg? Wie bleiben wir auf
seinem adventlichen Weg? Denn wir spüren nur zu oft: immer wieder
verlieren wir ihn, irren von ihm ab, wissen die Richtung nicht mehr, bewegen
uns im Kreise. Damit ergeht es uns nun allerdings nicht viel anders als
den Christen, an die der Hebräerbrief gerichtet ist. Deren Eifer
des Anfangs war geschwunden. Mattigkeit, Müdigkeit, Mutlosigkeit
breiteten sich aus. Unklar und fraglich war diesen Christenmenschen sogar
das Ziel geworden, das vor ihnen liegen sollte. Allmählich machte
es keine Freude mehr, gegen den Strom zu schwimmen – das ist sowieso immer
mühsam -, weil sich so wenig änderte.

Ist das nicht auch unsere Situation, liebe Gemeinde? Unsere stabil genannte
Kirche erweist sich immer wieder als krisenanfällig, labil. Wir müßten
wieder mehr Freude am Glauben gewinnen, uns nicht so oft am Ende unserer
Möglichkeiten sehen, wenn uns der Wind entgegenbläst. Was ist
zu tun?

Der Mann, der an die Hebräer geschrieben hat, gibt uns zwei Hinweise:
1. Er mahnt seine Leser, an ihrem Bekenntnis festzuhalten. Und 2. zeigt
er, daß Christenmenschen niemals allein sind. Immer haben sie jemanden
neben sich, der auf demselben Weg ist, einen, der auch hofft und glaubt
und liebt.

„Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht
wanken.“ Das klingt aufreizend konservativ. Ist denn das jetzt dran:
festhalten, bewahren, bleiben bei dem, was formuliert ist? Viele sagen
doch, wir müßten in Neuland aufbrechen, statt uns im Gewohnten
einzurichten.

Das ist nicht falsch. Aber zuerst einmal ist es notwendig, daß
wir uns klar werden darüber, woher wir kommen. Wer seinen Ausgangspunkt
nicht kennt, läuft in die Irre. Das Bekenntnis der Christen, mag
es noch so alt sein, gibt uns Auskunft, woher wir kommen, wer und was
wir sind, und zugleich ist es ein Wegweiser, der uns Christen die Richtung
angibt und miteinander auf dem Weg hält. Das Bekenntnis zeigt uns
Herkunft und Ziel, damit wir auf dem Weg zu Gott bleiben und uns nicht
verlaufen.

Und zuweilen ist das Alte überaus aktuell. Niemand braucht sich
des alten Glaubensbekenntnisses zu schämen, denn es vermag noch heute
Wege zu zeigen, die uns aus unseren Verlegenheiten herausführen.
Einige Beispiele will ich nennen.

Wir klagen über die Zerstörung unserer Erde. Vernünftige
Leute warnen davor, unseren Planeten weiter zu plündern, wie es immer
noch geschieht. Wir hören es, und unter uns ist das Bewußtsein
dafür gewachsen, daß wir alle mithelfen müssen, die Ausbeutung
von Natur und Umwelt aufzugeben. Einiges, gar nicht wenig, ist geschehen
und wird auch weiterhin geschehen, manches dabei aber nur halbherzig getan.
Der alte Adam rudert immer noch bequem mit im gewohnten Strom. Weithin
fehlt die Kraft, das Steuer herumzureißen und geduldig in die andere
Richtung zu rudern und das auch wirklich entschlossen und konsequent zu
tun. Und es wird immer teurer. Der Wirtschaftsminister hat gerade dieser
Tage darauf aufmerksam gemacht. Das freilich hört der alte Adam gern.

Das Bekenntnis sagt uns: Solange Euch nicht deutlich ist, wem die Erde
gehört, kann Euch keine neue Orientierung gelingen. Ihr behandelt
die Erde immer noch wie Ausbeuter. Ihr mißbraucht sie als Material.
Das aber ist schon im Ansatz verkehrt. Die Erde hat einen Herrn. Sie ist
Gottes Geschöpf. Gottes Geschöpfe jedoch darf man nicht plündern.
Sie wollen geliebt, sie wollen unsere Freunde sein, Gottes gute Gaben.
„Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des
Himmels und der Erde.“ Das sagt unser Bekenntnis.

Oder: Wir sind ratlos über den Menschen. Wir wundern uns, wie böse
er sein kann, wie grausam und wie falsch, wie sein Herz zappelt und sich
sehnt nach ein bißchen Glück, wie er Angst hat vor Krankheit
und vor dem Ende und dem Sterben.

Das Bekenntnis sagt uns: Am Menschen nicht irre werden kann nur, wer
sein Urbild kennt, wer weiß, wie der Mensch gedacht ist. Deshalb
zeigt es uns Jesus Christus, der leiden mußte, starb und auferstand.
Das ist des Menschen Bestimmung: zu leben und zu sterben wie er. „Ich
glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn.“

Schließlich: Wir sind verwirrt durch den „Geist der Zeit“,
den manche verächtlich-aggressiv den „Zeitgeist“ nennen,
ohne jedoch zu sagen, was sie denn damit nun genau meinen. Uns beunruhigen
Ideen und Ideologien. Ja, einige müssen jede Idee, jede Mode, die
von irgendwoher angeflogen kommt – je fremdartiger und je östlicher,
desto besser – umgehend ausprobieren. Wie ein Schmetterling flattern sie
von Blume zu Blume, nennen das „Suchen“ und lassen es sich viel
kosten. Nur merken sie nicht, daß sie Fantasien und Ideologien aufsitzen
und sich von denen dauernd an der Nase herumführen lassen.

Kein Wunder, sagt das Bekenntnis, daß ihr Angst vor der Zukunft
habt und nicht wißt, was auf euch wartet. Vergeßt nicht, daß
es den Heiligen Geist gibt. Der hilft euch, die Geister zu unterscheiden.
Der führt euch zusammen zu einer Gemeinschaft und zeigt euch, wo
Gott auf euch wartet. „Ich glaube an den heiligen Geist, die heilige
christliche Kirche.“ Und dazu Martin Luther: „Ich glaube, daß
ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn,
glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich dazu
berufen.“

Liebe Gemeinde, um unserer Welt, um der Menschen willen lohnt es sich,
am Bekenntnis festzuhalten, über seinen Gehalt immer wieder nachzudenken,
sich immer wieder dessen zu vergewissern, was unsern Glauben ausmacht
und worin er wurzelt. In Neuland aufzubrechen vermag nur, wer solch ein
Fundament unter seinen Füßen hat, wer sich von diesem Wegweiser
an seine Herkunft erinnern und in die neue Richtung weisen läßt.
So kann er zuversichtlich vorwärts schreiten.

Aber es geht nicht nur um das alte Bekenntnis. Wichtig ist die Einsicht:
Christenmenschen sind niemals alleine. Immer gibt es jemanden neben uns,
der glaubt und hofft wie wir. Das vergessen wir häufig und lassen
uns anstecken von den ständig wechselnden Moden des Individualismus.
Aber Einzelgänger geben leicht auf, wenn es schwierig wird, oder
werden zu Sonderlingen. Unser Bibelabschnitt empfiehlt uns dagegen: „Laßt
uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“

Natürlich sollen wir einander nicht bevormunden. Doch das geschieht
ja auch kaum irgendwo. Viel bedenklicher ist, wie achtlos wir häufig
aneinander vorübergehen, wie selten wir uns auf unser gemeinsames
Christsein hin ansprechen und uns unseres gemeinsamen Glaubens vergewissern,
gerade auch dann, wenn wir zu schwierigen Fragen des Alltags nicht unbedingt
die gleichen Antworten haben.

Wäre das nicht etwas: einander zu fragen und zu sagen, was uns das
Glauben leicht macht und wo unsere Zweifel sitzen? Unsere Kinder warten
auf Gespräche, in denen endlich einmal die lebenswichtigen Dinge
auf der Tagesordnung stehen. In diesen Adventswochen könnte die Gelegenheit
zu solchen Gesprächen vielleicht besonders günstig sein. Und
man könnte dann vielleicht sogar miteinander singen. Utopie? Keine
Ahnung? Es käme auf Versuche an.

„Aufeinander achthaben“: miteinander sollte es gelingen, Aufgaben
zu erkennen, die wir tatsächlich bewältigen können, ohne
daß dies in Streß und Hetze ausarten müßte. Deren
Bewältigung läßt es aber etwas freundlicher und menschlicher
auf unserer Erde werden – und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Auch sonst
im Jahr soll keiner einsam sein – müssen! Manchmal dürfen wir
uns schon ein wenig die Sporen geben, wenn wir träge werden und faul.
Sonst verkommt unser Christsein in der Langeweile. Und dann wundern wir
uns noch, daß das Glauben keine Freude macht.

Vielleicht nehmen wir uns in den nächsten Wochen etwas mehr Zeit
füreinander als sonst und versuchen, miteinander ins Gespräch
zu kommen über das, was zählt und was zweitrangig ist. Vielleicht
widerstehen wir hier und da der Hetze, schenken und bereiten nicht mehr
vor, als uns wirklich möglich ist. Dann, liebe Gemeinde, wird Advent.
Dann gehen wir Schritte hinein ins Heiligtum Gottes. Christus hat uns
doch längst die Tür zum Paradies geöffnet. Er ist für
uns zu Gott gegangen. So dürfen wir es nun mit ihm und in seinem
Namen auch tun. Sein Tag kommt. Die Nacht vergeht.

Amen.

Pastor i. R. Hans-Gottlieb Wesenick, Stauffenbergring 33, D-37075
Göttingen
Tel. 05 51 / 2 09 97 05 – Fax 2 09 97 08 – e-mail:
H.-G.Wesenick@t-online.de

(1) Diese Predigt hat eine Predigt von Hartmut
Löwe zu diesem Text zur Grundlage, die in „Worte am Sonntag,
heute gesagt: Predigten der Gegenwart; die Sonn- und
Festtage des Kirchenjahres / hrsg. von Horst Nitschke, 6. Perikopenreihe
Bd. 1, Gütersloh 1977“ veröffentlicht wurde.

 

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