Hebräer 10,35-36.39

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Hebräer 10,35-36.39

Wann sind wird endlich da? | 16.Sonntag nach Trinitatis | 24.09.23 | Hebr 10,35-36.39 | Wolfgang Vögele|

Segensgruß

Der Predigttext für den sechzehnten Sonntag nach Trinitatis, steht Hebr 10,35-36.39:

„Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt.

(Denn »nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er aber zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm« (Hab 2,3-4)).

Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden, sondern solche, die glauben und die Seele erretten.“

Liebe Schwestern und Brüder,

Gehören Sie zum Team Geduld oder zum Team Ungeduld?

Ungeduld ist die schlechte Eigenschaft, die die meisten Menschen den anderen heimlich zugestehen, weil sie selbst davon nicht frei sind. Fernsehzuschauer merken das bei den Sommerinterviews: Sonntagsabends befragt eine Journalistin führende Politiker nach dem parlamentarischen Herbst, Krisen, Reformen, Personalkarussell. Den Abschluß bildet die Schnellfragerunde: Antworten ohne nachzudenken. Die Journalistin im lindgrünen Hosenanzug fordert den Politiker auf: Nennen Sie eine schlechte Eigenschaft, die Sie nicht loswerden können! Und in drei Vierteln aller Fälle wird der Politiker mit seiner antrainierten Gelassenheit antworten: Ungeduld. Ich werde meine Ungeduld nicht los. Nie würde ein Politiker sagen: Ich bin ein Wutbürger. Oder: Ich bin machtgierig, ich suche nach Streit. Oder meine Eitelkeit überstrahlt alles.

Ungeduld ist eine erträgliche schlechte Eigenschaft. Sie verstärkt sich im Stau auf der Autobahn, in der Schlange vor dem Ticketschalter, und im Großraumwagen der Deutschen Bahn, wenn der Zug auf freier Strecke zum Stillstand gekommen ist. Ungeduld schießt am Telefon in die Höhe: Wir alle könnten vermutlich die gedudelten Warteschleifen-Melodien des Paketlieferanten, des Kabelanbieters oder der Stadtwerke auswendig im vierstimmigen Kanon vortragen.

Eltern seufzen still über die Ungeduld ihrer Kinder. Auf der Fahrt zum Urlaubsziel kommt vom Rücksitz spätestens nach einem Achtel der Strecke die quengelnde Frage: Wann sind wir endlich da-haa? Leichtes Entsetzen auf dem Rücksitz, wenn der väterliche Fahrer oder die Fahrerin sachlich antwortet: Mindestens noch dreimal die Benjamin-Blümchen-Cassette hören. Leichtes Entsetzen auf dem Fahrersitz über die Aussicht auf mehrere Wiederholungen eines familiär längst bekannten Hörbuchs.

Ungeduld verstärkt sich durch Nebenwirkungen: Drängelei, Nervosität, Hektik, aus dem Gefühl: Ich verpasse etwas. Ich bin der einzige, der benachteiligt wird. Ungeduld gebiert Langeweile und Überdruß. Ich muß endlich ans Ziel kommen. Ich muß endlich fertig werden. Ich will endlich mit dem Thema abschließen.

Liebe Schwestern und Brüder, Geduld ist die Fähigkeit, einfach und gelassen warten zu können. Wer geduldig ist, kann aufkeimende Unruhe und Nervosität wie ein wenig Laub auf dem Gehweg beiseite schieben. Geduld spurt Eilige und Wartende aus der hektischen Zeitschiene heraus. Geduld ist an Zeit gebunden, sie kanalisiert Gegenwart und Zukunft. Die Zukunft hält das erwartete Ziel bereit, den PIN-Code, den Reparaturtermin, das ersehnte Ticket, welches in der Gegenwart noch fehlt. Mit Ungeduld antwortet unser Bewußtsein auf etwas, das in der Gegenwart fehlt und noch mehr auf die Hindernisse, die vor dem Erreichen des Ziels liegen. Wer ungeduldig ist, der fühlt sich von der Gegenwart bedrängt. Geduldige Menschen dagegen lassen die Zeit fließen. Sie halten die Mängel der Gegenwart aus und warten, bis die Hoffnung sich in der Zukunft verwirklicht. Wann ist es endlich so weit?

Fünfjährige Kindergartenkinder warten sehnsüchtig auf den ersten Schultag Ende August oder Anfang September. Folgen wir einem Kind zu Einschulung, Begrüßung, Gottesdienst und erstem Schultag. Nennen wir sie Klein-Sarah. Längst sind Schulranzen, rückenfreundlich, Rechenhefte, Buntstifte sowie Kleber und Schere gekauft. Klein-Sarah kann es noch nicht erklären, aber sie spürt ganz genau, daß sich eine neue Welt für sie öffnet; sie wird den Piepelkram aus dem Kindergarten los. Schule bedeutet für Klein-Sarah, auch wenn sie das nicht erklären könnte: erwachsener werden, größer, selbstständiger, Freiräume erobern. Plötzlich nennt sie niemand mehr, auch die Großeltern nicht, Klein-Sarah. Aus dem Sarahlein wird Sarah. Verwandte und Nachbarn, die sich schon durch die Schule gequält haben, schütteln heimlich den Kopf, sagen aber nichts. Wenn du wüßtest, Sarah, denken sie im Stillen.

Später in ihrem leben wird Sarah immer wieder vor die Entscheidung gestellt, ob sie geduldig oder ungeduldig sein will. Nein, sie entscheidet das nicht, sie läßt sich in beides, je nach Stimmung, hineinfallen. Sie wartet an der Haltestelle in der Menge auf den verspäteten Bus. Sie stellt sich im Supermarkt an der Kasse an. Sie wartet auf den Brief von dem großen Konzern, bei dem sie sich beworben hat. Sie sitzt im Wartezimmer, weil der Arzt mit ihr über die Ergebnisse der letzten Blutuntersuchung sprechen will.  Sie wartet auf das Date am Abend, bei dem sie den Kommilitonen treffen soll, den sie so toll findet. Alles Gelegenheiten, um sich der Ungeduld zu überlassen oder Gelassenheit zu üben. Geduld und Ungeduld entstehen aus der Situation, aber auch aus der eigenen Einstellung, Stimmung, aus über Jahre gewachsenen Haltungen.

Manche Menschen, die damit gesegnet sind, verlieren selten die Geduld. Andere legen ihre Hektik nie ab: Sie lassen sich von der kleinsten Verzögerung aus der Ruhe bringen. Andere liegen mit ihrem Geduldskonto dazwischen: Einmal überfällt Sie Hektik, das nächste Mal üben sie Gelassenheit.

Geduld und Ungeduld werden aus der Zukunft getriggert. Das, was noch nicht eingetreten ist oder auch nur, was eintreten könnte, löst in der Gegenwart heftige Gefühle aus. Die Vorladung zur Polizei macht unruhig, und die Einladung zum Abendessen versetzt die junge Frau in große Vorfreude. In Furcht und Hoffnung machen sich zukünftige Ereignisse schon in der Gegenwart bemerkbar. Kleinigkeiten und Banalitäten, aber auch die großen Ereignisse des Lebens, von der Konfirmation bis zur Operation schlagen den elektrisierenden Bogen von der Zukunft in die Gegenwart. Gefühle wie Ungeduld und Geduld sind keine statischen Bollwerke gegen Hektik. Sie werden nicht eingeschaltet, und ihre Intensität kann nicht geregelt werden. Sie sind dynamisch, bewegen Handlungen, Gedanken, Gefühle, reagieren auf das Umfeld. Ungeduld kann einen Wartenden überfallen, Geduld kann sich ganz plötzlich nach großer Aufregung einstellen. Und viele Menschen lassen Unruhe nicht erkennen: Nach außen, gegenüber dem Partner, den Freunden und den eigenen Kindern zeigen sie Geduld zeigen und haben Mühe, die innere Ungeduld zu verbergen.

Weil wir Geduld und Ungeduld täglich erleben, sind wir alle Expertinnen und Experten des Wartens, Hoffens und des Drängelns. Im Normalfalls balancieren wir Gegenwart und Zukunft gut aus, aber manchmal werden wir, ohne es zu wollen, in die unruhige Bahn geworfen. Darum können auch alle mitreden, wenn der Briefschreiber des Predigttextes sagt:  Glaube ist eine Sache der Geduld und des Vertrauens. Glaube als Geduld ordnet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein gefährdetes geistliches Gleichgewicht.

Vergangenheit im Glauben findet sich zuerst in der Lebensgeschichte: die Geburt, an die sich niemand erinnern kann; der herbeigesehnte erste Schultag, die Konfirmation, der Schulabschluß, die Volljährigkeit, die erste Urlaubsreise ohne Eltern, die erste Vorlesung im Studium. Kinder und Jugendliche erwarten das alles ungeduldig und sehnen sich danach.

Aus der größer dimensionierten Vergangenheit kommen die Geschichten hinzu, die in der Bibel erzählt werden: von der Schöpfung der Welt bis zum Auszug aus Ägypten. Am wichtigsten die Geschichte des Jesus von Nazareth, der predigte und heilte, der am Kreuz starb und den Gott wieder auferweckt hat. Gott hat damit gezeigt: Ich will die Menschen trösten, zur Erlösung führen. In der Auferstehung besiegt Gott den Tod.

Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir uns für die Gegenwart etwas Gutes tun wollen, erinnern wir uns an diese vergangenen Geschichten.  Taufe, Gottesdienste und Konfirmation schreiben uns Christenmenschen in diese große Geschichte Gottes mit der Welt hinein: Wie Gott in Christus den Tod überwunden hat, wird er auch den Tod aller überwinden, die ihm nachfolgen: große, für viele auch sperrige Worte. Sie bedürften jetzt einer langen Deutung, um ihre ganze tröstende Kraft zu entfalten. Jetzt geht es mir nur um das Verhältnis von Glaube und Geduld. Wenn wir nicht an der Gegenwart verzweifeln wollen, müssen wir uns gegenseitig von der Vergangenheit erzählen. Der Autor des Hebräerbriefs hat diese Geschichte weitererzählt, und so tun das heute die Christen in den Gemeinden.

Denn diese Gegenwart erleben wir als zutiefst zweischneidig: Viele reden von Krise, Abstieg und drohenden Gefahren. Es ist schwierig, alles zu durchschauen. Was Hoffnung macht, wird oft schnell aufgewogen durch Erfahrungen der Resignation und der Verzweiflung, ja des Scheiterns. Gegenwart ist doppeldeutig und zweischneidig. Sie gibt ebensoviel Anlaß zur Hoffnung wie zur Verzweiflung. Das kann Menschen unsicher machen und sie aus dem Gleichgewicht bringen.

Gegenwart ist ein gordischer Knoten, geflochten aus Geduld und Ungeduld, aus Katastrophen und wenigen guten Nachrichten, aus Gewißheit und Zweifel, Glaube und Unglaube. Jeder rennt vom einen zum anderen und kann sich nicht sicher fühlen: Auch wer sich des eigenen Glaubens gewiß ist, den kann ganz schnell der Zweifel einholen. Aber auch umgekehrt: Wer im Zweifel ertrinkt, der kann ganz schnell durch ein liebevolles Gespräch, durch einen Brief oder nur durch einen lächelnden Blick in Gewißheit und Vertrauen zurückgeholt werden. Wer diesen ständigen Wechsel von Geduld und Ungeduld, Vertrauen und Mißtrauen über Jahre erlebt, der wird vielleicht darüber müde werden. Und er könnte das ganze Leben für vergeblich halten.

Der Verfasser des Hebräerbriefs spricht zu ungeduldigen, ja verzweifelten Christen. Vielleicht schenken sie der großen, von Gott verheißenen Zukunft, keinen Glauben mehr. Aber damit schätzen sie die Zukunft falsch ein. Denn die Zukunft ist keine Unbekannte für Christen: Sie wird die Erfüllung aller Verheißungen Gottes bringen. Und diese verheißene Zukunft wirkt sich auf die Gegenwart aus: in Glauben, Vertrauen, Geduld. Kleine Geschenke Gottes in einer schwankenden Gegenwart.

Darum heißt es: Werft euer Vertrauen nicht weg. Geduld ist euch schon geschenkt! Ihr müßt euch Vertrauen und Geduld nicht erst aneignen, sie erlernen oder erarbeiten.

In der Gegenwart bewege ich mich stets zwischen Vergangenheit und Zukunft. Christen bewegen sich zwischen Gottes Handeln der Vergangenheit und Gottes Kommen in der Zukunft: hinein in sein Reich. Vertrauen, Geduld und Hoffnung nehmen in der Gegenwart vorweg, wie es in der Zukunft einmal sein wird. Das ist eine Geduld, die eigene Ungeduld nicht leugnet. Ein Vertrauen, das auch den Zweifel kennt. Eine Hoffnung, die auch um das Scheitern weiß. Ein Glauben, der auch vom Unglauben weiß. Luther hat treffend von der „getrosten Verzweiflung“ gesprochen und damit die Nüchternheit der Bibel treffend zum Ausdruck gebracht.

Seid geduldig, sagt der Glaube. Die geduldige Bewegung des Glaubens kommt von Gott her und geht auf ihn zu.  Darauf hoffen wir, geduldig oder ungeduldig. Amen.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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