Hebräer 10,35-39

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Hebräer 10,35-39

Zum Freimut berufen | 16. Sonntag nach Trinitatis | 24.09.23 | Hebr 10,35-39 | Thomas Muggli-Stokholm |

Diesen Sommer setzte ich mir ein anspruchsvolles Ziel: Ich wollte ab meiner Haustüre in mehreren Tagesetappen zu den Glarner Alpen wandern und da den einen oder anderen Gipfel besteigen. Leider spielte das Wetter nicht immer mit. So lagen schon beim Start am ersten Tag dunkle Wolken über den Voralpen. Die Regenfälle wurden im Lauf des Tages immer heftiger, so dass ich mit der Zeit völlig durchnässt war. Die Aussicht auf ein warmes Bett und ein schmackhaftes Nachtessen am Etappenziel beim Wägitalersee liess mich trotz allem durchhalten.

Das Wandern spielt eine wichtige Rolle im Hebräerbrief. Der Verfasser braucht es als Bild für die Situation der Christenheit: Die Kirche ist das wandernde Gottesvolk. So, wie seinerzeit die Israeliten durch die Wüste wanderten, mit dem verheissenen Land als Ziel. So wandert die Kirche durch die Zeit, mit der Wiederkunft Christi und der Gemeinschaft mit ihm im himmlischen Jerusalem als Ziel.

Hier liegt nun aber das Problem: Die ersten Christinnen und Christen rechneten damit, dass die Wiederkunft des Auferstandenen unmittelbar bevorsteht. Zur Zeit, als der Hebräerbrief geschrieben wird, sind jedoch einige Jahrzehnte vergangen. Fast alle Gläubigen der ersten Generation sind verstorben. Die grossartigen Hoffnungen wurden enttäuscht. Das Ziel ist in weite Ferne gerückt oder sogar ganz abhanden gekommen. Viele wenden sich von der Kirche ab und kehren zurück in ihr altes Leben. Statt Hoffnung und Freude herrschen Enttäuschung und Resignation.

Diese Stimmung kennen wir bestens: Wie damals wenden sich viele Menschen von der Kirche ab. Und auch uns ist unklar geworden, zu welchem Ziel unsere Wanderung führen soll. Wir haben Mühe, unseren Glauben den heutigen Menschen zu vermitteln. In unserer wirren Zeit, wo so viel Schlimmes geschieht, scheint es ohnehin immer fragwürdiger, sich an einen guten Gott zu halten. Wäre es nicht vernünftig, sich mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren, mühsame Pfade möglichst zu meiden und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen?

Der Verfasser des Hebräerbriefs begegnet solchen Gedanken und Stimmungen mit deutlichen Worten. So schreibt er in unserem Predigttext:

Werft euren Freimut nicht weg; er wird reich belohnt werden.

Ausdauer braucht ihr nämlich, um den Willen Gottes zu tun

und so die Verheissung zu erlangen.

Denn eine kleine Weile noch,

und der, der kommen soll, wird kommen und nicht ausbleiben:

Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben,

und wenn er zurückweicht, hat meine Seele kein Wohlgefallen an ihm.

Wir aber gehören nicht zu denen, die zurückweichen und zugrunde gehen,

sondern zu denen, die glauben und sich das Leben bewahren.

«Werft euren Freimut nicht weg!»

Das tönt altertümlich. Kaum jemand gebraucht heute noch das Wort «Freimut».

Die Zürcher Bibel ist denn auch die einzige, welche hier diesen Begriff verwendet.

Die meisten anderen Übersetzungen wählen an dieser Stelle «Zuversicht».

In der Lutherbibel finden wir das Wort «Vertrauen»: Werft euer Vertrauen nicht weg – das tönt zunächst verständlicher. Und es passt gut zum Schluss, wo der Verfasser uns nahelegt, statt zurückzuweichen und zugrunde zu gehen, zu glauben, zu vertrauen, und so das Leben zu bewahren.

Welche Übersetzung trifft nun aber zu? Im griechischen Urtext finden wir für Freimut das Wort Parrhesia. Es bezeichnete im alten Griechenland ursprünglich das Recht des freien Bürgers, seine Meinung offen zu sagen. In der Philosophie wurde die Parrhesia zu einem ethischen Schlüsselbegriff und meinte die Offenheit und den Mut, zur Wahrheit zu stehen, auch gegen Widerstände. Die Parrhesia wird zur Voraussetzung der Freiheit: Frei ist, wer es wagt, auch Tyrannen gegenüber die Wahrheit zu vertreten, selbst wenn ihn dies das Leben kostet.

Parrhesia wird damit zu einem hochaktuellen Begriff: Die Demokratie gerät zur Zeit diktatorischen Regimes gegenüber zunehmend unter Druck, nicht nur in Ländern wie China, Russland oder der Türkei. Auch in Mitteleuropa gewinnen autoritäre Bewegungen mit starken Führungspersönlichkeiten massiv an Einfluss. Sie haben einfache Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit, können jene, die an allen Übeln schuld sind, genau bezeichnen und wissen einfache Lösungswege für jedes Problem. Da ist es bequem und verführerisch, mit zu trotten und in die Parolen einzustimmen, statt sich fundiert zu informieren, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten, auch wenn die Mehrheit widerspricht.

Das Neue Testament nimmt den Begriff Parrhesia aus der griechischen Philosophie auf und verknüpft ihn mit dem Glauben an Christus. Parrhesia gewinnt damit eine neue Dimension und kennzeichnet zuerst unsere Beziehung zu Gott:

Jesus verkündigt Gott als liebende Mutter und barmherzigen Vater. Vor ihm müssen sich die Menschen weder verbergen noch verstellen. Sie können offen vor ihn treten, ohne Angst und freimütig äussern, was sie bewegt, auch die hässlichen Gedanken, Nöte und Zweifel.

Dieser Freimut Gott gegenüber ist die Grundlage für die Beziehung zu den Menschen und irdischen Institutionen:

Wer sich von Gott bedingungslos geliebt und gehalten weiss, muss niemanden und nichts mehr fürchten. Er kann zu dem stehen, was er als gut und wahr erkannt hat und es freimütig, in aller Offenheit, bezeugen. «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen», antwortet Petrus deshalb dem Hohenpriester, als der ihm verbieten will, das Evangelium zu verkündigen (Apg 5,29).

Freimut wird hier mit dem Gehorsam zu Gott verknüpft. Das geht weit über das philosophische Verständnis von Parrhesia hinaus. Ja, in christlicher Sicht wird Freimut erst im Gehorsam Gott gegenüber möglich. So mahnt uns unser Text, wir sollten den Willen Gottes mit Ausdauer tun, um die Verheissung zu erlangen. Freiheit aus dem Glauben und Freimut haben ihren Massstab im Willen Gottes. Ohne diesen verkämen sie zu Beliebigkeit.

Nun taucht aber eine Schwierigkeit auf: Woher weiss ich, dass das, was ich für wahr und richtig halte, dem Willen Gottes entspricht? Als Christinnen und Christen glauben wir, dass Gott uns seinen Willen und sein Wesen in Jesus Christus enthüllt hat: In seinem Leben, seinem Sterben und Auferstehen und in seiner Verkündigung sehen, hören und erkennen wir, wer Gott in Wahrheit ist und welche Massstäbe er setzt. Doch seit rund zweitausend Jahren diskutieren und streiten Christinnen und Christen darüber, was das nun konkret bedeutet, in persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich ständig ändern.

Genau das ist aber gut so! Wäre unser Glaube eine absolute Wahrheit, eine unhinterfragbare Ideologie, dann wäre es aus mit allem Freimut, mit aller Parrhesia Gott und den Menschen gegenüber. Wir lebten in der schlimmsten aller Diktaturen, wo nicht einmal mehr die Gedanken frei wären.

Gott sei Dank bleibt die absolute Wahrheit uns Menschen verschlossen. Weil Gott in Jesus Mensch geworden ist, gibt es seine Wahrheit nur als eine relative, eine Wahrheit in Beziehung. Genau das meint der «Glaube»: Wer glaubt, tritt aus dem Gefängnis seiner Welt- und Menschenbilder heraus und lässt sich ein auf die Beziehung zu Gott, in Parrhesia, in völliger Offenheit dem gegenüber, was ihm von Gott her zukommt.

So verführerisch in unserer komplexen Welt die eindeutige Wahrheit und entsprechend einfache Antworten wären – es gibt sie nicht. Das zeigt schon der Umstand, dass es Christinnen und Christen in den unterschiedlichsten Parteien gibt, von der SVP bis zu den Grünen. Und es gibt keinen objektiven Massstab, wer der Wahrheit am nächsten ist.

Das bedeutet nicht, dass alles beliebig ist. Wir sind wie erwähnt herausgefordert, ausdauernd den Willen Gottes zu tun. Das ist nur möglich, wenn wir uns immer neu auf diesen Willen einlassen. Wenn wir still werden und auf Gottes Wort hören. Wenn wir unsere Augen öffnen für die Spuren seines Wirkens – in der Schöpfung, in den Menschen um uns. Wenn wir die Herzen öffnen, für seine Güte und Liebe. Dann kann uns die Wahrheit berühren und bewegen. Wir können sie nicht dingfest machen, nicht festschreiben und schon gar nicht anderen befehlen. Wir können uns aber auf sie einlassen mit Feiern und Traditionen. Wir erinnern uns an die Worte und Geschichten der Bibel, singen Lieder und pflegen die Gemeinschaft. So finden wir Geborgenheit wie Wanderer in einer Berghütte. Wir schöpfen Kraft und Orientierung. Doch wir bleiben nicht für immer in der Hütte sitzen. Wie Wanderer sind wir Tag für Tag herausgefordert, aufzubrechen und weiterzugehen auf unserem Weg durch das Leben.

Ich kehre nochmals zum Freimut zurück:  Wie gesagt bleibt die Wahrheit für uns immer subjektiv. Niemand kann sich anmassen, das, was für ihn wahr ist, zum Massstab für andere zu machen. Und doch sind wir herausgefordert, mit Freimut zu dem zu stehen, was wir als wahr erkannt haben. Wir behalten die Wahrheit nicht für uns. Wir bezeugen sie, bringen sie ins Gespräch. Das ist anstrengend, ja sogar riskant: Wenn ich das Gespräch mit anderen auf Augenhöhe führe, kann es geschehen, dass ich meine Sicht der Wahrheit revidieren muss, meine Ansichten als fragwürdig erkenne, meine Standpunkte überdenke.

Freimut ist ein Wagnis – in vielfacher Hinsicht, wie wir gesehen haben.  Wer freimütig ist, legt die Maske ab, steht zu sich und dem, wofür er brennt und liefert sich damit seiner Umgebung aus. Er riskiert hinterfragt, angefeindet, ja verfolgt zu werden.

Doch Freimut wird reich belohnt werden, wie der der Verfasser unseres Textes betont. Wer nicht zurückweicht, sondern auch in schwierigen Zeiten zum Glauben steht, bewahrt sich das Leben.

Der Hebräerbrief meint das nicht nur persönlich. Im Kapitel nach unserem Text entwirft er eine grossartige Schau des Glaubens, die von der Schöpfung bis zu den Propheten reicht. Er spricht von der Wolke von Zeuginnen und Zeugen, die uns umgibt und beflügelt, mit Ausdauer weiterzugehen auf dem Weg des Glaubens. Unser kleines individuelles Leben ist damit untrennbar verknüpft mit der Heilsgeschichte und ihren Verheissungen, welche Gott in Jesus Christus einlöst. So einsam und verloren wir uns auf unserer Wanderung manchmal fühlen mögen: Es lohnt sich, mit Ausdauer weiterzugehen. Das Ziel ist grossartig, unendlich viel mehr als ein warmes Bett und nahrhaftes Essen. Das Ziel ist das neue Jerusalem, wo wir Gemeinschaft mit Christus, bleibenden Frieden und Gerechtigkeit finden.

Ausdauer brauchen wir, um zu diesem Ziel unterwegs zu bleiben, Gottes Willen zu tun und freimütig unseren Glauben zu bezeugen. Das tun wir nicht einfach für uns. Zwar liegt es nahe, wie seinerzeit die Hebräer über enttäuschte Erwartungen und schwierige Verhältnisse zu klagen.  Dabei laufen wir aber Gefahr, zu denen zu gehören, die zurückweichen und den Kopf in den Sand stecken. Gott beruft uns zu viel Höherem: In einer Welt, wo Menschen zunehmend an der Sinnlosigkeit des Lebens verzweifeln und von Ängsten bedrückt werden. In einer Welt, wo Gewalt, Unrecht und Terror herrschen, sind wir zum Freimut berufen, zum Zeugnis in Wort und Tat für den lebendigen Gott, der uns in Jesus Christus sein Wesen enthüllt:

Er steht nicht auf der Seite der Tyrannen und Diktatoren, sondern nimmt Partei für die Bedrückten. Er befreit die Gefangenen, lässt Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden, Taube hören, er erweckt Tote zum Leben.

Und seine Güte und seine Gerechtigkeit behalten das letzte Wort – hier und in Ewigkeit. Amen.

Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, bis Ende 2021 Pfarrer in Bubikon, ab 1. Januar 2022 in Fehraltorf, daneben seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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