Hebräer 12,12-25a

Hebräer 12,12-25a

Vision oder Illusion? | 2. So. n. Epiphanias | 14. Januar 2024 | Hebr 12,12-25a | Thomas Muggli-Stokholm |

Liebe Gemeinde.

Manchmal, in verrückten Momenten, stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn ich allmächtig wie Gott wäre. Ich könnte meine Visionen mühelos verwirklichen und die Welt so gestalten, wie ich sie mir erträume. Angesichts der aktuellen Weltlage wäre der Friede mein erstes Projekt: Ich würde dafür sorgen, dass die Waffen sich in Luft auflösen und verfeindete Menschen und Völker sich die Hände zur Versöhnung reichen. Zugleich würde ich Gerechtigkeit schaffen: Alle Menschen und Geschöpfe hätten die Mittel und die Freiheit, um ein Leben in Würde, frei von Angst und materieller Sorge zu führen. Als nächstes würde ich Leiden und Krankheit ein Ende setzen. Die Menschen wären an Körper und Seele gesund, fit und frei von Beschwerden. Danach würde ich die Landschaft von aller Verschandelung befreien. Natur pur wäre die Devise. Die Menschen würden in schönen Wohnungen in grossartigen und selbstverständlich autofreien Prachtstädten leben. In weitläufigen Pärken, auf grossartigen Plätzen und in riesigen Festsälen würden sie fröhliche Gemeinschaft pflegen, alle miteinander. Das Zusammensein wäre von Vertrauen, Liebe und Wertschätzung geprägt. Ach, wie schön wäre doch so eine Welt!

Wie kommt das bei Ihnen an, liebe Gemeinde? Kennen Sie solche träumerischen Momente und Allmachtsphantasien? Oder finden Sie meine Ausführungen infantil und einfältig, töricht und völlig weltfremd?

Immerhin bin ich nicht allein mit meinen Träumen. Sie begegnen – in der Biblischen Tradition fundiert – am Schluss unseres Predigttextes:

Ihr seid hingetreten zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zum Fest und zur Gemeinde der Erstgeborenen,

deren Namen aufgeschrieben sind im Himmel, zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der vollendeten Gerechten, zu Jesus, dem Mittler des neuen Bundes, und zum Blut der Besprengung, das machtvoller redet als das Blut Abels.

Wir wissen nicht, wer den Hebräerbrief geschrieben hat. Es muss eine gebildete Person gewesen sein: Sie verwendet das gepflegteste Griechisch im ganzen Neuen Testament. Sie ist vertraut mit den Biblischen Schriften und wagt es, diese auf einzigartige und manchmal originelle Weise im Hinblick auf Jesus Christus auszulegen. Wer die «Hebräer» konkret sind, an welche Menschen sich diese Schrift richtet, ist nicht bekannt. Es muss sich um Christinnen und Christen der zweiten und dritten Generation handeln: Der geschichtliche Abstand zum irdischen Jesus wächst. Die Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft des Auferstandenen wurde bitter enttäuscht. Dies führt zu Anfechtungen, Müdigkeit und Resignation. Viele fallen vom Glauben ab und verlassen die Gemeinde.

Der Hebräerbrief will Gegensteuer geben. Er ermuntert und ermahnt die Müden und Matten eindringlich, ihrem Glauben treu zu bleiben und erinnert sie an die Hoffnung, die sie im auferstandenen Jesus haben. Christus ist der Mittler des neuen Bundes. Im Tod am Kreuz hat er sein Blut vergossen für uns, sein Blut, das machtvoller und ganz anders ist als das Blut Abels, der von seinem Bruder Kain erschlagen wurde: Das Blut Abels schreit zum Himmel, als Inbegriff menschlicher Ungerechtigkeit und Gewalt. Das Blut Jesu hingegen wurde zur Vergebung der Sünde vergossen. Es stiftet Versöhnung und schafft Neues.

Hochtheologisch argumentiert die Person, die den Hebräern schreibt, hochtheologisch und voller Hoffnung auf das ewige, selige Leben der Gläubigen auf dem heiligen Berg Zion. Doch kommen ihre Worte an bei ihren müden und matten Glaubensgeschwistern? Und wie steht es mit uns? Berührt uns die Vision des himmlischen Jerusalem, der Stadt aller Städte, der festlichen Gemeinschaft jener, die im Buch des Lebens aufgeschrieben sind, mit den Engeln, den Geistern der Gerechten, mit Gott und seinem Sohn Jesus Christus?

Die Wirklichkeit steht krass im Widerspruch dazu: Wir haben ein äusserst schwieriges Jahr 2023 hinter uns. Ich erspare es uns, alles Schreckliche aufzuzählen, was geschehen ist. Und die Aussichten für das neue Jahr sind realistisch betrachtet nicht besser: Ein Ende der Kriege, Krisen und Katastrophen ist nicht abzusehen.

Da fragen wir uns, was wir mit der Vision des Hebräerbriefs anfangen sollen. Wir Christinnen und Christen in Europa sind mindestens so müde und schlapp wie die Gläubigen, an welche sich der Hebräerbrief richtet. Wir beschäftigen uns längst nicht mehr mit grossartigen Visionen, sondern investieren unsere Phantasie und Kraft in Bemühungen, den Niedergang zu stoppen.  Und das ist verständlich: Die Menschen laufen uns in Scharen davon. Die Kirchen haben keine Relevanz mehr für die heutige Gesellschaft.  Da ist die Versuchung gross, dass wir in das Verhalten verfallen, wovor uns der Hebräerbrief warnt. Er hält uns Esau vor Augen, der sein Erstgeburtsrecht für ein einziges Essen hergab. Wir erinnern uns: Esau kehrte todmüde von der Feldarbeit nachhause. Sein Zwillingsbruder Jakob war gerade fertig mit dem Kochen eines Linsengerichts. Esau war so hungrig, dass er seinem schlauen Bruder das Erstgeburtsrecht und damit das Erbe und den Segen des Vaters Isaak verkaufte, nur um eine Portion Linsen und Brot zu bekommen.

Dieses abschreckende Beispiel nimmt der Hebräerbrief als Brücke zu grundsätzlichen Erwägungen, in deren Zentrum die Berge Sinai und Zion stehen. Für Israel sind beide gleichermassen heilig. Mit dem Sinai ist die Übergabe des Gesetzes, der Tora verbunden, mit Jerusalem auf dem Berg Zion das Königtum Davids und die Hoffnung auf den Messias, der hier einst ein Reich des Friedens errichten wird.

Der Hebräerbrief nimmt nun eine gewagte Neudeutung vor und dividiert die beiden Berge auseinander: Der Sinai wird für ihn zum Inbegriff für die Zeit des ersten, alten Bundes. Er wird abgelöst durch den neuen, zweiten Bund, den Gott in Jesus stiftet. Diesen verknüpft unser Predigttext mit dem Berg Zion.

Die Offenbarung Gottes am Sinai ist sinnenfällig und furchteinflössend: Es brennt lichterloh, raucht und donnert, so dass das Volk in Furcht und Zittern verfällt. Nur Mose ist es vergönnt, auf den Berg zu steigen und das Gesetz in Empfang zu nehmen. Alle anderen, Menschen wie Tiere, müssen sterben, wenn sie den Berg nur schon berühren. Ähnlich wie Paulus sieht der Hebräerbrief das Gesetz zwiespältig: Zwar kommt es von Gott und will das Zusammenleben regeln. Weil aber kein Mensch seine Forderungen je erfüllen kann, setzt es unter Druck, löst Angst und Schrecken aus und treibt den Menschen zur Verzweiflung.

Es ist nicht ganz einfach, das auf unsere Gegenwart zu übertragen. Dem heutigen Menschen ist nicht das Gesetz, sondern die Freiheit heilig. Im Gegensatz zu früheren Zeiten scheint tatsächlich alles möglich. Wenigstens in den Ländern, die noch demokratisch sind, können die Menschen grundsätzlich frei wählen, wo und wie sie wohnen, wie sie ihr Geld verdienen, wie sie sich anziehen, wohin sie reisen, ja, sogar welches Geschlecht sie haben wollen. Da stösst die Kritik am Gesetz ins Leere, weil es das Gesetz mindestens im Biblischen Sinn gar nicht mehr gibt.

Was machen wir dann mit unserem Text? Ein Schlüssel zum Verständnis ist die Feststellung: Ihr seid nicht zu etwas hingetreten, das mit den Sinnen erfahrbar ist. Wie wir gesehen haben, streicht der Hebräerbrief das Sinnenfällige an der Sinai-Offenbarung heraus. Er macht den Berg Sinai damit zum Inbegriff für ein Leben, das sich ausschliesslich auf sinnlich Erfahrbares und Menschenmögliches fixiert. Visionen haben in einem solchen Leben keinen Platz. Schauen wir auf dieser Grundlage nochmals auf den höchsten Wert der westlichen Gesellschaft: Die viel beschworene Freiheit ist nüchtern betrachtet visionslos, weil auch sie ausschliesslich auf das Sinnenfällige und Diesseitige fixiert ist. Angesichts der engen Grenzen und Sterblichkeit des Menschen verkommt sie damit zur Illusion. Und die Freiheit wird zu einer noch schlimmeren Antreiberin und Diktatorin als das Gesetz: Der heutige Mensch sieht sich gezwungen, seine Freiheit optimal auszuleben. Er muss seine Möglichkeiten nutzen, sich selbst verwirklichen und dafür stets die bestmöglichen Entscheidungen treffen, bezüglich Berufs- und Partnerwahl, Wohnung, Kleidung, Reisen, Hobbies usw. Ein Dauerstress! Ein mühseliger Langstreckenlauf ohne Ziel. Denn am Ende bleibt nichts von allem sinnlich Erfahrbaren und menschlich Machbaren, nichts als Staub und Asche.

Ihr seid nicht zu etwas hingetreten, das mit den Sinnen erfahrbar ist. Vielmehr seid ihr hingetreten zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem.

Nein, diese Visionen sind nicht einfältig und töricht. Sie vermitteln Menschen Halt und eine Perspektive, die sie sich nicht selbst geben können. Und wir tun als Christinnen und Christen gut daran, die Mahnung am Ende unseres Textes ernst zu nehmen und achtzugeben, dass wir den Gott nicht abweisen, der uns mehr zusagt, als was wir uns selber sagen können.

In unserer Welt, die zunehmend verdüstert wird von Krieg und Gewalt, Unrecht und Not, sind wir berufen, die Stimme für den Gott zu erheben, der die Welt in Jesus mit sich versöhnt. Und wir sind herausgefordert, neue Wege zu suchen, diese frohe Botschaft für heutige Menschen verständlich zu verkündigen.  Wir machen das nicht, um den Niedergang der Kirche zu verhindern oder gar Gott zu verteidigen. Wir bleiben im Glauben unterwegs, weil Gott uns Teil gibt an seinem grossartigen Hoffnungsprojekt.

Wir besinnen uns auf diese Hoffnung in unseren Gottesdiensten. Wir feiern Gottes Gegenwart, finden in seiner Liebe Gemeinschaft und erhalten einen Vorgeschmack auf das Freudenfest im himmlischen Jerusalem. Die Feiern am Sonntag stärken uns für den Gottesdienst im Alltag. Genau hier kommen die Aufforderungen vom Anfang unseres Predigttextes zum Tragen:

Strafft die erschlafften Hände und die erlahmten Knie und zieht eine gerade Spur mit euren Füssen, damit was lahm ist, sich nicht auch noch verrenkt, sondern vielmehr geheilt wird. Dem Frieden jagt nach mit allen und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn schauen wird. Gebt acht, dass niemand hinter der Gnade Gottes zurückbleibt, dass nicht ein bitterer Schössling aufschiesst und eine Plage wird und viele durch ihn angesteckt werden.

Bewusst habe ich den Anfang des Predigttextes an den Schluss gestellt.  Isoliert betrachtet verkämen seine Hinweise nämlich zu Ratschlägen, die nötigen und unter Druck setzen. Auf dem Hintergrund der grossartigen Zions-Vision werden sie zu Mutmachern, die Hoffnung im Alltag zu leben, so klein und mühsam dies uns manchmal scheint. Mit dem Ziel vor Augen, dem Freudenfest im himmlischen Jerusalem straffen wir die erschlafften Hände und erlahmten Knie und gehen mit frischem Mut voran. Wir sind als Gemeinschaft unterwegs, helfen einander auf und verbinden jenen, die straucheln die Wunden. Und wir geben Acht, dass niemand hinter der Gnade Gottes zurückbleibt, dass niemand in einer schwierigen Lebenslage den Mut und das Vertrauen verliert. Wir jagen der Heiligung nach, das heisst: Wir bleiben uns bewusst, dass wir unser Leben, so klein und unbedeutend es auch scheint, im Licht der Liebe Gottes führen. Sie leitet uns und ist unser Massstab bei allem, was wir entscheiden, reden und tun. Und wir geben der Vergebung Raum. Wo bittere Schösslinge von Uneinigkeit und Streit aufschiessen, wagen wir die Aussprache und verhindern, dass Konflikte unbearbeitet wuchern und die Gemeinschaft zerstören. So setze ich ans Ende meiner Predigt die wichtigste Aufforderung, ein Zitat aus dem Psalm 34: Jagt dem Frieden nach. Ja, das ist unsere vornehmste Aufgabe: Als Bürgerinnen und Bürger des himmlischen Jerusalems, Jeruschalajim, der Stadt des Friedens, jagen wir dem Frieden nach, mit allen. Wir sind dabei nicht auf unseren eigenen Willen und unsere eigene Kraft zurückgeworfen. Da würden wir schnell erlahmen und erschlaffen. Wir lassen uns beflügeln vom Frieden, den Gott uns immer schon geschenkt hat, indem er in der Heiligen Nacht im Kind in der Krippe Mensch wurde. Amen.


Thomas Muggli-Stokholm

de_DEDeutsch