Hebräer 5,(1-6)7-9(10)

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Hebräer 5,(1-6)7-9(10)

Christus lernt | Judika | 26.03.2023 | Hebr 5, (1-6)7-9(10) | Bernd Giehl |

Seelsorgerliche Predigt

Liebe Gemeinde!

Nein, keine Sorge. Diesmal frage ich nicht, wieviel Sie vom Text mitbekommen haben. Oder ob er an Ihnen vorübergerauscht ist. Ich frage auch nicht, ob sie ihn spannend finden oder zum Stöhnen. Ob er Sie überzeugt oder Sie schreiend weglaufen möchten. Ich tue einfach mal so, als ob mich das alles nicht interessierte.

Der Text behandelt die Geschichte vom Garten Gethsemane. Wenn ich es richtig verstehe, lässt er das Leben Jesu auf diese eine Szene zusammenschnurren. Er sagt: „Und Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte und er ist erhört worden …“

Sie erinnern sich? Judas ist vom Abendmahlstisch aufgestanden, er hat die Tür hinter sich geschlossen; nun ist er auf dem Weg. „Einer unter euch wird mich verraten.“ Warum sagt Jesus nicht: „Judas, warum du?“

Hernach brechen sie auf, zum Garten Gethsemane und Jesus bittet die Jünger für ihn zu beten, dann geht er selbst weiter. Das Ringen mit Gott beginnt. „Vater, wenn’s möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst…“

Ales er nach den Jüngern sieht, schlafen sie. Dann kommen Judas und die Soldaten.

Der erste Teil unseres Satzes stimmt also. Bitten und Flehen, lautes Schreien und Tränen; vielleicht etwas dramatisch ausgedrückt, aber die Beschreibung scheint richtig. Doch wie steht es mit dem zweiten Teil? Er hat sein Flehen „vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte und er ist erhört worden …“  Ich erinnere es anders. Die Passionsgeschichte erzählt von Verhören, von Peitschenhieben, dem Kreuztragen, am Ende von der Kreuzigung. Und schließlich von einem der furchtbarsten Sätze der Bibel: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Gott konnte ihn aus dem Tod erretten? Sicher, das konnte er. Aber hat er ihn auch erhört?

*

An der Stelle frage ich mich, warum der Autor des Hebräerbriefs das behauptet. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Dafür ist der Mann – eine Frau können wir hier wohl ausschließen – viel zu reflektiert. Oder spricht hier einer der weiß, wie es ablief und es trotzdem anders erzählt?  Das wäre eine Möglichkeit; schließlich ist auch vom Gehorsam die Rede. Gott befiehlt, der Sohn gehorcht. Fragen sind nicht erlaubt. Um den Text noch einmal zu zitieren: „So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“ (Hebräer 5,8) Das ist schon heftig. Mit Gehorsam kann man es weit bringen. Man steigt auf und steigt auf bis … ja bis wohin eigentlich? –

Aber jetzt behaupte ich einfach einmal, dass das nicht der Gedankengang unseres Autors ist. Sondern dass seine Gedanken tatsächlich heilsam sind. Dass sie uns heilen können, auch wenn wir davon noch nichts sehen. Momentan liegt das noch hinter dem Horizont. Bis dahin ist es noch ein Stück

Aber jetzt möchte ich meine Christusfigur erst einmal verlassen. Keine Sorge: Er wird bleiben und auf uns warten. Und es sogar verstehen, dass wir jetzt erst einmal aufbrechen müssen.  Er weiß selbst, dass es die Umwege sind, die zum Ziel führen. Manchmal sogar die Irrwege. Schließlich ist hier ja vom „Lernen“ die Rede. Das geht nicht ohne Irrtümer.

Machen wir uns auf den Weg. Wir werden zurückkehren.

*

Aber jetzt fragen Sie sich: Haben Sie richtig gehört? Wir sollen uns auf den Weg machen? Aber wir sind doch gerade erst gekommen. Wir möchten noch bleiben. Die Kirchenbänke sind gerade so gemütlich. Sogar Kissen gibt es heute. Und geheizt ist ausnahmsweise auch einmal. Worauf ich erwidere: Man kann wunderbar nachdenken im Gehen. Ich weiß: für die Predigt ist das keine gute Form.  Also stellen wir uns einfach nur vor, wir gingen jetzt ins Freie. Gehen sie mit? Lieber nicht?  Falls nein, bleiben sie ruhig. Sie haben ja ihr Kissen. Die anderen bitte ich: Am besten schließen sie jetzt die Augen. Wir gehen langsam los. Wir verlassen die Kirche. Wir kehren zurück in unsere Häuser. In unser Leben. Zu Ihrem. Zu meinem. –

Wird’s ungemütlich? Da wollen sie nicht hin? Ja wahrscheinlich. Aber keine Sorge: Gleich wird es noch etwas unbehaglicher. Ich schlage vor, wir beginnen mit einer Enttäuschung. Sie kann neulich passiert sein. Oder vor langer Zeit.

Haben Sie sie? Sie ist noch fern? Dann nehmen Sie bitte das Teleobjektiv. Oder gehen Sie näher heran.

Ach was! Sie haben es sich anders überlegt und wollen hierbleiben. Hier, wo es warm ist und die Holzbänke so gemütlich.

Versteh ich ja. Ich hätte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen sollen. Wir hätten besser eine kleine Runde gemacht. Durch unseren Vorort mit dem dörflichen Charakter. Oder durch den Park, wo jetzt die ersten Vögel singen. Aber gleich bei der Enttäuschung beginnen?

„Schnee von gestern“, sagen Sie achselzuckend.

Worauf ich antworte: „Jesus hat aus dem, was er litt, gelernt.“ So steht es im Predigttext. Auf den wollten wir doch hören. Was das war, werden wir bald sehen. Ich verspreche es.

Also gut. Sie sind wieder bei mir? Sie gehen noch ein Stück mit? Wenn auch mit weniger Vertrauen? Macht nichts. Das halte ich aus. –

Die Enttäuschung war heftig. Andere haben Ihnen Unrecht getan. Kollegen, Freunde, Mitarbeiter. Sie haben intrigiert. Es tat grausam weh. Es hat Sie beruflich oder privat zurückgeworfen. Es hat nicht nur das Verhältnis zu den Kollegen beschädigt, sondern schlimmer: das Verhältnis zu Ihrer Frau oder Ihren Kindern. Irgendwann hat es sich wieder eingerenkt. Aber klar war: Die anderen haben ihnen Unrecht getan. Sie sind vorsichtiger geworden. Sie haben Ihr Kettenhemd angezogen. Und ihr Schwert bereitgelegt. Niemand sollte sie mehr so verletzen können.

Und dann die Frage aller Fragen? Haben Sie daraus gelernt?

*

Machen wir an dieser Stelle eine Pause. Wir sind im Park. Da stehen Bänke. Setzen sie sich; schnappen Sie einen Moment nach Luft. Oder suchen Sie sich jemanden, mit dem Sie reden können. Das war harter Tobak. Und das Härteste war wahrscheinlich meine Frage: „Haben Sie daraus gelernt?“

Wer will und glaubt, dass seine Hörerinnen und Hörer es aushalten, dass die Predigt für zehn Minuten unterbrochen wird, sollte es so halten. Die anderen bitte ich, dies als Teil der Phantasiereise zu kennzeichnen.

 

*

Kann man aus Enttäuschungen lernen? Womöglich stockt einem erst mal der Atem. „Natürlich nicht“ ist die spontane Antwort, die einem einfällt. „Wie soll das gehen?“

Gemach. Wir haben Zeit. –

Da fällt mir ein … Leicht war es nicht. Tut weh, noch einmal genauer hinzusehen. Ich war nicht nur Opfer. Vielleicht war ich zuerst Opfer. Aber dann wurde ich zum Täter. Ich habe meine Wut an meinen Kindern abgelassen. Ich habe meine Frau rund gemacht. Ich bin viel zu schnell gefahren, weil ich so wütend war. Und dann hat es geblitzt. Bei Rot über die Kreuzung. Hat mich einen Monat Führerscheinentzug gekostet. Hinterher war ich noch wütender.

Sehen Sie es? Wir stehen an der Kreuzung. Wir müssen entscheiden, welchen Weg wir einschlagen. Der eine ist: Sie akzeptieren es. Sie denken darüber nach und verändern Ihr Leben. Der Andere: Jetzt werden Sie so richtig wütend. Sie werden es allen zeigen: den Kollegen, die sie fertig gemacht haben, der Polizei. Dem Amt, das Ihnen den Lappen weggenommen hat. Dem Staat. Das Internet ist voller Möglichkeiten. Twitter zum Beispiel, da kann man so richtig vom Leder ziehen. Zur Not gibt es noch die AFD. „Wir sind wütend.“

Jesus sagt (sinngemäß): Jemand tut dir etwas an. Du schlägst doppelt zurück. Dann kommt es zum Krieg.

Geben wir’s zu: So entstehen Kampfhandlungen. Egal ob zwischen Staaten, verfeindeten Volksgruppen oder Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau, Kindern und Eltern. Es muss keine Toten geben. Verletzungen, die jahrelang anhalten, reichen auch.

*

 

Und jetzt? Was erwarten Sie? Eine Moralpredigt? „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, halte auch noch die linke hin.“ Ist ja auch einfach. Haben wir immer so gehalten. „Dein WORT ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege.“ (Psalm 119,105) Warum nur bleibt es dann oft so dunkel in uns?

Nein, heute nicht. An dieser Kreuzung wähle ich den anderen Weg.

Obwohl: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Flucht ergreifen. Bleiben wir doch einfach dabei: Die anderen sind schuld. Die Verhältnisse haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Wenn diese Idioten

meine Schwächen ansprechen, wollen sie doch bloß von sich ablenken.

Na gut. Nicht alle sind „Idioten“. War wohl doch zu hart. Versuch lieber, den Feinden zu entkommen. Flieh ruhig. Flieh in deine Hektik, die du so wunderbar beherrschst. In die Disco, um den Frust heraus zu tanzen und dich endlich zu spüren. Spüre, wie es dich vereint mit den anderen Körpern. Wie es dich davonträgt. –

Aber diesmal bleibe ich. Schaue meinen Schmerz an. Wie er zurückschaut: Zum Fürchten. Diesmal halte ich seinen Blick aus. Seine Pupillen verändern sich. Werden durchsichtig. Ich sehe Zusammenhänge. So gewiss es die Anderen waren, die mich zum Opfer gemacht haben; ich habe die Rolle angenommen. Ich habe ihnen zu verstehen gegeben. Ihr habt mich zum Opfer gemacht; also bleibe ich jetzt das Opfer.

Vielleicht hätte sich etwas geändert, wenn ich diese Rolle nicht angenommen oder mich irgendwann von ihr verabschiedet hätte. Womöglich hätten die Anderen ihr Verhalten geändert.

Ich weiß: Verschüttete Milch kann man nicht aufsammeln. Aber die Grube in die man gefallen ist, kann man umgehen. Sie vielleicht sogar zuschütten.

Ich glaube, das ist es, was die Bibel „heil werden“ nennt.

*

Jetzt sind wir weit genug gegangen. Lassen sie uns zurückkehren. Zu Christus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, wie der Hebräerbrief ihn nennt. Ahnen wir, was das bedeuten könnte? Aber in unserem Abschnitt liest es sich noch einmal etwas anders. Da steht: „So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, … gelernt.“

Mir ist es erst spät aufgefallen. Jesus, der vollendete Christus, hat gelernt. Wie das? Muss Gottes Sohn lernen? In den Evangelien gibt es einige wenige Beispiele, im Johannesevangelium bleibt er von Anfang bis Ende derselbe. Das WORT. Der SOHN. Der, der vom Himmel kam.

Bleibt der Hebräerbrief. Der nimmt eine Sonderstellung ein. In dem ist Christus zwar von Anfang an der Mittler, der Sohn Gottes, der Hohepriester, aber er muss lernen. Und zwar „Gehorsam“. Ein schreckliches Wort. Eigentlich unmöglich geworden durch das, was vor 80 Jahren in Europa geschah. Ersetzen wir es durch „Am Willen Gottes orientieren.“ Das bedeutet: Er hat auf die Durchsetzung der eigenen Wünsche verzichtet. Eigentlich denken wir: Er war doch Gottes Sohn. Und damit von Anfang an vollkommen.

Der Hebräerbrief scheint da anders zu denken. Er beschreibt Christus als den Lernenden.

*

An dieser Stelle muss ich gestehen, dass auch ich noch lernen muss. Ich habe noch den Anfang des Hebräerbriefs im Ohr, der den Sohn als den beschreibt, „der der Abglanz von Gottes Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens (ist)“ (Hebräer 1,1) Muss Gott lernen? Hier geraten wir in die Untiefen der Dogmatik, der Trinitätslehre und der Lehre von den beiden Naturen Christi; deshalb nur der Hinweis: hier ist zwar von Gottes Sohn die Rede, aber die Betonung liegt auf dem „Sohn“

Da ist er in keiner besseren Lage als wir. Wahrscheinlich fällt es ihm leichter, sich ganz dem Willen Gottes zu unterwerfen. Er geht ja sogar in den Tod, weil Gott es so will.

Und dann? Dann ist er „erhört“ worden. Er ist auferstanden. Real oder in uns. Das ist (mir) nicht wichtig. Wichtiger ist, dass seine Auferstehung uns die Möglichkeit gibt, selbst von den Toten wiederzukehren. Das Leben neu zu beginnen.

*

Langsam fange ich an zu ahnen, was das heißt, wenn Jesus Christus der Mittler zwischen Gott und den Menschen genannt wird. Als Kind glaubte ich es zu wissen. Später kam mir dieses Wissen abhanden. Jetzt, im Alter, mache ich mich wieder auf den Weg. Es gibt noch so viel, was ich lernen muss.

Bernd Giehl

giehl-bernd@t-online.de

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