Herrscher nicht über Heere …

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Herrscher nicht über Heere …

Herrscher nicht über Heere, sondern über Herzen | Christnacht (24.12.) 2020, St. Marien, Göttingen | Predigt zu Matth. 1,18–25 | verfasst von Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Vielleicht sind Sie enttäuscht, dass unsere Kirche uns dieses Jahr nicht die wunderschöne Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium als Predigttext vorgeschlagen hat, sondern die so ganz andere aus dem Matthäusevangelium. Da steht ja nichts von der mühsamen Reise nach Bethlehem, von dem Stall und von der Krippe, auch nichts von Ochsen und Eseln (die allerdings auch bei Lukas nicht vorkommen). Erst recht fehlen die Hirten auf dem Felde und die strahlende Botschaft der Engel, bei der einem unwillkürlich das herrliche Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach in den Sinn kommt. Stattdessen eine Geschichte, in der es anscheinend in erster Linie nicht einmal um Jesus geht, sondern um Josef. Als der den Verdacht hat, dass seine Braut Maria mit einem unehelichen Kind schwanger ist, will er sich von ihr trennen, um seine Ehre zu retten. Ein Engel hält ihn davon ab: Das Kind sei nicht von einem fremden Mann, sondern vom Heiligen Geist, und das habe schon der Prophet Jesaja im Alten Testament vorausgesagt. Josef solle darum wie geplant Maria heiraten. Im Übrigen solle er das Kind Jesus nennen.

Eine merkwürdig spröde Erzählung. Und vor allem: Es ist Weihnachten 2020. Josefs Skrupel und ihre wunderbare Auflösung, das ist eine komplett andere Welt. Die interessiert doch heute niemanden mehr. „Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen“, das wollen wir heute hören! – Das ist ein verständlicher Einwand. Ich habe ihn mir gut durch den Kopf gehen lassen, mich aber doch entschieden, dem Vorschlag unserer Kirche zu folgen. Ich lade Sie also ein, mit mir Weihnachten einmal von einer ungewohnten Seite zu betrachten.

Zunächst einmal, der erste Eindruck, dass Matthäus Josef zur Hauptperson gemacht habe, trügt. Er hat Josefs Bedenken und deren Auflösung nur zu dem Zweck so ausführlich geschildert, möglichst nachdrücklich auf die besondere Geburt Jesu aufmerksam zu machen. Auf sie allein kommt es ihm hier an, dem Anschein zum Trotz. Er beschreibt diese Geburt freilich als so außergewöhnlich, dass uns das Kopfzerbrechen macht. Er sagt ja, Maria habe ihr Kind nicht auf natürliche Weise von Josef empfangen, sondern durch direktes Eingreifen von Gottes Heiligem Geist. Sie sei also Jungfrau geblieben. So sprechen wir denn bis heute sonntags mit dem alten Glaubensbekenntnis: „Geboren von der Jungfrau Maria.“ Schon längst haben sich viele Christen gefragt: Können wir das wirklich glauben? Nicht umsonst hat es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen evangelischen Kirche einen heftigen Streit unter anderem über genau diesen Punkt gegeben. Dieser Streit hat sogar zur Absetzung etlicher Pastoren geführt. Das ist lange her. Heute fragt sich vielleicht mancher, ob es das denn wert war. Ist so ein biologisches Wunder für unseren Glauben wirklich wichtig?

Um darauf zu antworten, müssen wir uns zwei Dinge klar machen. Einmal: Die Verheißung im Buch Jesaja, auf die sich Matthäus für die jungfräuliche Geburt Jesu bezieht, lautet im Urtext: „Eine junge Frau wird einen Sohn gebären“, nicht: eine Jungfrau. Ganz abgesehen davon hat Jesaja mit dem verheißenen Kind gar nicht Jesus, sondern den König Hiskia gemeint. Allerdings ist die verkehrte Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische kein Zufall. Denn, das ist das Zweite: es gab in der griechischen Antike viele Geschichten von Jungfrauengeburten. So soll zum Beispiel der berühmte Philosoph Platon nicht einen Mann, sondern den Gott Apollon zum Vater gehabt haben. Damit wollte man das Genie des großen Denkers erklären. Ganz entsprechend wollte man bei Jesus darauf aufmerksam machen, dass er in der Geschichte der Menschheit eine absolute Ausnahmegestalt war.

Nimmt man beides zusammen, so können wir sagen: Einerseits dürfen wir getrost davon ausgehen, dass Josef mit Maria verheiratet und ganz normal der Vater Jesu gewesen ist. Andererseits können wir aber auch verstehen, warum Matthäus und die alten Christen auf die jungfräuliche Geburt Jesu so viel Wert gelegt haben. Nicht das Biologische daran war ihnen wichtig. Das ist ein modernes Missverständnis. Was sie in Wirklichkeit sagen wollten, war etwas anderes: Wenn wir Jesus richtig verstehen wollen, dann kommt es nicht auf das an, was Menschen für ihn getan haben, sondern dass Gott ihn gesandt hat. All das, was wir an ihm bewundern, sein Mut, sein Einfühlungsvermögen, seine Weisheit, muss verstanden werden als Gottes Wirken in ihm und durch ihn. Um nichts anderes geht es auch bei unserer Weihnachtsfeier. Weihnachten ist mehr als eine Geburtstagsfeier für einen längst verstorbenen Menschen. Wir feiern Weihnachten, weil mit Jesus Gott in unsere Welt gekommen ist und das auch heute noch tut.

Matthäus will das mit dem Hinweis verdeutlichen, dass Jesus ein Nachkomme Davids gewesen sei. Er hat das in einem unserer Geschichte voraufgehenden Abschnitt  breit ausgeführt, indem er einen umfangreichen Stammbaum für Jesus aufzeichnete. Dieser Stammbaum ist kein beamtenhafter Nachweis biologischer Abstammung. Es gab ja noch gar keine Standesämter und keine Kirchenbücher. Was Matthäus da zum Ausdruck bringen will, ist vielmehr dies: In der großen Zeit von Davids Königtum hat Gott gezeigt, dass er sich um sein Volk kümmert. Wenig später begann zwar die lange, trostlose Leidenszeit der Fremdherrschaft. Aber in Jesu Geburt zeigt sich: Gott löst sein Versprechen ein, dass er sein Volk nicht im Stich lassen wird.

Freilich bekommt dieses Versprechen jetzt einen neuen Sinn. Das besagen die Namen, die dem Neugeborenen beigelegt werden. Und damit kommen wir zur Hauptsache unserer Geschichte. Das ist einmal Jesus, und zum anderen – nicht eigentlich ein Name, sondern ein Ehrentitel: Immanuel. Jesus, hebräisch Jehoschua, bedeutet: Gott hilft, und Immanuel heißt übersetzt: Gott mit uns. Gerade einmal zwei Wörter, nicht mehr. Aber in denen hat Matthäus den ganzen Sinn von Weihnachten zusammengeballt.

Also einmal: Jesus, Gott hilft. In Israel hatte man diesen alten Namen so verstanden, dass Gott diesem Volk wieder einen eigenen Platz unter den Völkern des Orients geben und seine ursprüngliche Größe wiederherstellen werde. Matthäus sagt dazu: Das wird so nicht passieren. Nicht von den Römern, sondern von den Sünden wird er sein Volk erlösen, d. h. von Gottlosigkeit und Gottfremdheit. Jesus bringt Frieden mit Gott. Das ist bei aller Knappheit im Grunde nichts anderes, als was die Engel in der Weihnachtsgeschichte des Lukas verkünden! Man kann es auch so ausdrücken: Ein Herrscher nicht über Heere, sondern über Herzen wird Jesus sein. Die weltgeschichtliche Veränderung beginnt nicht in der Politik, sondern in einzelnen Menschen. Sie bleibt freilich da nicht stehen. Denn daraus folgt eine Veränderung der Verhältnisse zwischen den Menschen. Von Herzen Gott vertrauen hilft uns dazu, von Herzen einander zu vertrauen. Es entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens, die dann auch in Recht und Politik ausstrahlen kann. Das alles wird nicht auf Israel beschränkt bleiben. Das bringt Matthäus dadurch zum Ausdruck, dass er in dem Stammbaum Jesu die Linie weit über David hinaus bis zurück in die Urgeschichte Israels auszieht, bis hin zu Abraham. Abraham galt als Vater auch der nichtjüdischen Gläubigen. Damit bekommt das Wirken Jesu eine weltgeschichtliche Dimension. „Gott will, dass allen Menschen geholfen wird“, wie es ein Schüler des Paulus einmal formuliert hat.

So zieht unsere scheinbar so karge Geschichte immer weitere Kreise. Die zweite Bezeichnung für Jesus, Immanuel, Gott mit uns, soll zum Ausdruck bringen, dass Jesu Wirken nicht nur geographisch auf die ganze Welt ausstrahlt, sondern dass es sich auch auf alle Zukunft ausdehnt. Darum kommt Matthäus ganz am Schluss seines Evangeliums noch einmal darauf zurück, wo der auferstandene Christus zu seinen Jüngern sagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Jesus Christus ist nicht bloß eine große Gestalt der Vergangenheit, sondern durch den Geist Gottes ist er jetzt mitten unter uns, und er wird uns nicht verlassen.

Das dürfen wir nun auch auf uns beziehen, an diesem Weihnachtsfest, das so ganz anders ist, als wir das gewohnt sind. Wir können uns vielleicht ein wenig mit dem Volk Israel in seiner endlos scheinenden Geduldsprobe vergleichen. Der Grund für eine solche Probe ist für uns freilich nicht politische Unterdrückung, sondern die zurzeit grassierende Corona-Epidemie. Wir leiden nicht unter dem Druck einer Besatzungsmacht, sondern unter dem Druck der persönlichen Isolierung, dem erzwungenen Verzicht auf so viele menschliche Kontakte. Wer von uns jetzt alleine leben muss, fühlt sich da wie in Einzelhaft. Für viele von uns bedeutet es auch, dass wir auf die gewohnte große und stimmungsvolle Familienfeier verzichten müssen. Und nun dauert das alles auch noch erheblich länger als bisher angenommen. Das Virus wird nicht einfach durch ein Wunder verschwinden, wie populistische Politiker uns noch immer weismachen wollen. Sondern wie für den Frieden in der Welt, so macht Gott uns auch für die Besiegung dieser Seuche selbst verantwortlich: durch die bekannten Vorsichtsmaßnahmen und dann nach einiger Zeit durch die Beteiligung am Impfprogramm.

Das alles scheint geradezu im Widerspruch zu Weihnachten zu stehen. Aber das muss nicht so sein. Die lästigen Einschränkungen lenken unseren Blick weg von all dem Beiwerk, mit dem wir sonst das Fest ausschmücken. Damit geben sie uns mehr Gelegenheit als sonst, uns auf den eigentlichen Sinn des Festes zu konzentrieren. Christus ist gekommen. Er ist bei uns, und damit ist auch Gott bei uns und gewinnt unsere Herzen für sich. Das ist der eigentliche Grund aller Weihnachtsfreude. Die bringt uns zwar unsere Söhne und Töchter, Brüder, Schwestern und Eltern, die wir so gern einmal wieder alle in den Arm nehmen würden, noch nicht wieder ins Haus. Aber sie gibt uns innere Ruhe und Geduld, bis das wieder möglich ist. Sie gibt uns auch die Kraft für die Selbstdisziplin, die wir brauchen, um durch Masken und Abstand die vielen unbekannten Menschen zu schützen, denen wir auch in dieser Zeit der Kontaktsperren auf den Straßen und beim Einkaufen begegnen. So weltumspannend das Ereignis von Weihnachten ist, wie wir das von Matthäus gehört haben, so wenig spektakulär zeigt sich seine Wirkung bei den allermeisten von uns im persönlichen Leben. Da sind es erst einmal solche kleinen Gesten der Rücksichtnahme, mit denen sich die Liebe Gottes durch uns fortpflanzen will. Gottes Gegenwart fängt klein und unscheinbar an, wie damals mit der Geburt jenes kleinen Kindes in einem entlegenen Teil der Welt. Aber sie beruft weltweit immer mehr Herzen in ihren Dienst.

Amen.

 

Prof. em. Dr. Dietz Lange, Göttingen, E-Mail: dietzclange@online.de

Dietz Lange, geb. 1933, von 1977 bis 1998 Professor für Systematische Theologie und seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien in Göttingen

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