Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

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Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002
Predigt über Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32, verfaßt von Franz-Heinrich
Beyer


 

Liebe Gemeinde,

die gehörten Verse können wir so wahrnehmen, als wenn wir
einem Gespräch zuhören, einem Gespräch zwischen zwei Gesprächspartnern,
einem Gespräch zwischen zwei unterschiedlichen Positionen.

Auf der einen Seite ist eine bestimmte Sicht der gegebenen Situation
herauszuhören. Deutlich ist das Bemühen, das Gegebene zu erklären,
sei es auch noch so bedrückend. Dazu werden Zusammenhänge aufgezeigt
und deutlich gemacht. Alles, was ist hat eine Vorgeschichte, ergibt sich
aus dem Geschehenen – so wird es hier gesehen.

Die Argumentation lässt sich als der Versuch verstehen, von stummer
Verzweiflung oder von aussichtslosem Rebellieren zu einer Annahme des
Gegebenen zu führen. Es ist wie ein Appell an menschliche Einsicht.
Der Eindruck, etwas in seinem Zustandekommen sich erklären zu können,
dieser Eindruck kann nicht nur emotionale Sicherheit ermöglichen,
sondern auch ein gewisses Machtbewusstsein. Ich bin nicht nur Blatt im
Wind, sondern Herr der Situation in dem Sinn, dass ich zu wissen meine,
was geschieht – und warum es geschieht. Darin liegt die Möglichkeit
für ein kontrolliertes Verhalten.

Wäre damit nicht schon ein mögliches Ziel für eine Predigt
beschrieben?
Ich meine schon, dass es so sein könnte. Und ich denke, es gibt in
unserer Zeit nicht wenige Menschen, die das anstreben, ja sich danach
sehnen – Zusammenhänge erkennen zu können, sich für das
eigene Erleben und Erfahren weniger verletzlich zu machen.

Die Worte unseres Predigttextes sind ca. zweieinhalbtausend Jahre alt.
Sie waren gerichtet an die Israeliten, die als Gefangene aus Jerusalem
und Umgebung ins Exil getrieben worden waren. Eine bedrückende Situation.
Die Dauer des Exils ist nicht abzusehen, eine Perspektive ist nicht im
Blick. So bleibt nur die Suche nach Erklärungen. „Stumpf sind
unsere Zähne“; „Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“. Überlieferte
Volksweisheit ist es, die die Deutung der bedrängenden Situation
ermöglicht. Die Gegenwart kann nur akzeptiert werden durch eine Erklärung
von der Vergangenheit her. Abkehr von der Gerechtigkeit, Übertretungen,
Unrechttun, das Recht Gottes nicht anerkennen – alles das und andere Verfehlungen
im Volk Israel werden in der Vergangenheit lokalisiert. Es ist das Versagen
der vorangegangenen Generationen. Und das alles wird jetzt als Ursache
gesehen dafür, dass sich die nachfolgende Generation nun hier im
Exil vorfindet. Es musste ja so kommen; jeder, jede einzelne weiß
sich eingebunden in die Gesamtheit der Großfamilie, ja des gesamten
Volkes. Nach aller menschlichen Einsicht gab es demnach gar keine andere
Möglichkeit für den Lauf der Geschichte.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Es gibt da noch die andere Position,
die in dem Prophetentext zu erkennen ist. Und dass hier ein Prophet zu
Wort kommt ist schon Botschaft für sich, vermag den Ring empfundener
Verlassenheit und Vergessenheit aufzusprengen. Und zu hören ist eine
Botschaft, die all die mühsam erworbene Abgeklärtheit und kontrollierte
Haltung nicht mehr allein gelten lässt, sondern sie ganz und gar
in Frage stellt. Das Sich-Ketten an die Vergangenheit lässt in der
Selbstabgeschlossenheit verharren, ist gleichsam ein Tot-sein, also ein
Nicht-Verhältnis zu Gott. Demgegenüber steht die Frage: „Warum
wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?“. So werden die Israeliten
angesprochen. Etwas wird zu Gehör gebracht, das sich Menschen -damals
sowenig wie wir heute- nicht selber sagen können: Nicht die Vergangenheit
hat das letzte Wort, auch nicht die Zukunft, – sondern vor Gott geht es
um die Gegenwart des Menschen.

Den Hörern dieser Botschaft wird zugemutet, auf sich selbst zu schauen:
Ihr seid nicht anders als die Generation vor euch; Gott stand der Generation
der Eltern nicht ferner als Euch -aber: Ihr könnt jetzt die Chance
wahrnehmen: „Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr
begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist“.

Es ist eine faszinierende Botschaft, die hier hörbar ist. Eine Botschaft
an die Angehörigen des Volkes Israel im Exil. Und wir heute, wir
sind Mit-Hörende. Mit-Hörende, die aber von der verändernden
Kraft dieser Botschaft beeindruckt und fasziniert sein können.

Gerade in diesen Tagen und Wochen wird die öffentliche Diskussion
in unserm Land durch Bezugnahmen auf vergangenes Geschehen bestimmt. Da
sind die Probleme im Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien
etwa. Die Fragen danach, ob und wie Menschen auf der je anderen Seite
schuldhaft handelten. Ist hier eine andere Sicht möglich als die
des altisraelischen Sprichwortes „Die Väter haben saure Trauben
gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“?
Da ist die Wahrnehmung der Vergangenheit in Deutschland, bestimmt durch
den Namen „Auschwitz“ und dessen Aufnahme in die politische
und die literarische Argumentationen. Wir, auch wir Nachgeborenen, können
uns der Wirkung dieser Vergangenheit auf unser Leben nicht entziehen.
Aber einen alttestamentlichen Text, wie den heute gehörten Abschnitt
aus dem Buch des Propheten Hesekiel höre ich als Ermutigung, mich
der Vergangenheit stellen zu können, ohne ihr völlig verhaftet
bleiben zu müssen.

Eine Anzahl von aktuellen Geschehnissen wird vor dem Hintergrund dieses
Bibeltextes in einem anderen Licht sichtbar. Wie etwa ergeht es der Familie,
deren einer Sohn zahlreiche unschuldige Menschen und dann sich selbst
getötet hat und deren Name in allen Medien verbreitet wurde? Die
brennende Kerze auch für den toten Täter bei der Trauerfeier
in Erfurt vor einigen Wochen war ein wichtiges Zeichen, das wohl nur auf
der Basis dieser biblischen Sicht möglich war.

Auch darin wird etwas von dem neuen Herzen und dem neuen Geist beschreibbar,
die Menschen sich machen sollen und machen können. Dazu aber bedarf
es, dass wir solche Worte hören können, mithören können,
wie die heute gehörten und davon unser Leben bestimmen lassen.

Amen

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich.Beyer@ruhr-uni-bochum.de

 

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