Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

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Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002
Predigt über Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32, verfaßt von Peter
Kusenberg


1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die
Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne
davon stumpf geworden“?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht
mehr unter euch umgehen in Israel.
4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören
mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die
er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und
Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht
gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit
willen, die er getan hat.
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott
der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen
und am Leben bleibt?
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut
Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte
der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll
nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde,
die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach
seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen
euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt,
und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt
ihr sterben, ihr vom Haus Israel?
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der
HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Liebe Gemeinde,

an Deutlichkeit fehlt es der Botschaft, die der Prophet seinen Hörern
sagt, wirklich nicht. Kurz und knapp gefasst, heißt es gleich zu
Anfang: jeder, der sündigt, soll sterben. Und weiter: wer umkehrt
und Gerechtigkeit übt, soll leben. Welche der beiden Möglichkeiten
Gott lieber sähe, zeigt der Schluss: „Ich habe keinen Gefallen
am Tod des Sterbenden. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.“

So gesprochen im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt. Jerusalem war zerstört,
der Tempel lag in Trümmern. Die Babylonier hatten die Oberschicht
des jüdischen Volkes verschleppt und zwangsweise umgesiedelt. All
die aufrüttelnden Bußpredigten des Propheten Jeremia waren
vergeblich gewesen. Wie hatte er das Volk und seine Herrscher gewarnt:
vor fragwürdigen politischen Schachzügen, vor Sittenverfall
und Korruption, vor allem aber vor ihrem Liebäugeln mit anderen Göttern.

Doch Jeremia hatte nur taube Ohren gefunden, und so war es zu der Katastrophe
gekommen. Jetzt, nach Jahren fern der Heimat im babylonischen Exil, ging
ein bitteres Sprichwort um unter den Deportierten: „Die Väter
haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon
stumpf geworden.“ Man gab der Vätergeneration die Schuld für
die eigene verzweifelte Lage. Da sie nicht auf Gott und seine Warnung
gehört hatten, war die Strafe gekommen, unter der jetzt die Nachkommen
zu leiden hatten. – Eine Denkweise, die auf den ersten Blick einleuchtend
wirkt.

Aber Schuldfragen zu klären, ist nicht immer einfach, und rasche
Schuldzuweisungen bergen die Gefahr, den einen oder anderen Gesichtspunkt
außer Acht zu lassen. Für mich gibt es zwei Grundformen der
Frage nach Schuld:

Wenn Menschen durch eigenes Verschulden in eine üble Situation geraten,
dann liegt meist die Verbindung von Ursache und Wirkung, von Missetat
und Strafe klar auf der Hand. Ich sehe ein: ich selbst war es, der einen
Fehler gemacht hat, für den ich jetzt wohl oder übel büßen
muss.

Ganz anders aber sieht es aus, wenn mich ein Unglück trifft, für
das ich nicht selbst verantwortlich bin, wenn ich die Strafe für
die Schuld Anderer ausbaden soll. Das sehe ich nicht ein. Wieso ich? Was
habe ich damit zu schaffen? Sollen doch die zur Rechenschaft gezogen werden,
die verantwortlich sind! Es empört mich, bestraft zu werden, weil
Geschwister oder Klassenkameraden etwas ausgefressen haben, oder wenn
ich den Kopf für die Fehler der Arbeitskollegen herhalten soll.

Unschuldig in die Rolle des Sündenbockes geraten zu sein – das drückt
der Satz aus: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber
den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Ein Vorwurf
liegt darin: Warum müssen wir auslöffeln, was die Eltern uns
eingebrockt haben?

Bei denen, die so fragten, lebte auch ein junger Priestersohn namens
Hesekiel. Im Anfang des nach ihm benannten Buches, aus dem der Predigttext
stammt, beschreibt er, wie Gott ihm in eine gewaltigen Vision erscheint
und ihn zum Propheten beruft. „Wächter“ und Warner Israels
zu sein, ist sein Auftrag. Er soll Seelsorger sein für die Entwurzelten
in Babylon. Er soll verhindern, dass ihr Glaube untergeht in der Umgebung
fremder Götter und Tempel.

Und nun hört er wieder die Stimme Gottes: „Was habt ihr unter
euch für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich
lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch
umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter
gehören mir so gut wie die Söhne.“

Eine klares Wort Gottes an die Deportierten, sich nicht als Leidtragende
einer vermeintlichen „Erbschuld“ zu sehen, und zugleich eine
Erinnerung an die Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber Gott: „Jeder,
der sündigt, soll sterben. Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von
allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze
und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und
nicht sterben.“

Wie eine solche „Bekehrung“, eine Umkehr von der Gottlosigkeit
aussieht, ist in den Versen zwischen den einzelnen Abschnitten des Predigttextes
beschrieben. Gerecht genannt wird dort, wer keinen anderen Göttern
dient und die Gebote hält, der mildtätig ist, Recht und Verträge
achtet und keinen Wucher treibt. Verantwortung vor Gott schließt
also Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen ein.

„Bekehrt euch, so werdet ihr leben“, heißt es am Schluss.
Der Weg in die Zukunft, ins Leben besteht im Glauben an Gott und einer
sichtbaren Gestalt dieses Glaubens im Alltag.

Kehren wir mit diesem Satz in die Gegenwart zurück.
Stellen wir uns selbst die Frage: Wo hatte ich in der vergangenen Woche
das Gefühl, unschuldig als Sündenbock für andere herhalten
zu müssen? Oder wem habe ich letzte Woche die Schuld gegeben für
etwas, das mir misslungen ist? Denken wir einmal kurz darüber nach…

(kurze Pause)

Liebe Gemeinde,
„vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“
beten wir in jedem Gottesdienst. Sonntags, im Chor mit anderen, sagt sich
so ein Satz leicht. Aber wie sieht es unter der Woche aus?

Leide ich nicht auch unter jener allzu menschlichen Schwäche, dass
ich die Ursache für alles, was schief geht, was dazwischen kommt,
was mich ärgert oder unglücklich macht, zuerst einmal woanders
und erst ganz zuletzt bei mir selbst suche? Und wehe, wenn es mir gelingt,
den „wahren“ Schuldigen ausfindig zu machen. Ob im Familienstreit,
ob im Straßenverkehr, ob am Arbeitsplatz – der oder die Betreffende
hat für eine Weile bestimmt nichts zu lachen. – Von Vergebung ist
da wenig zu spüren.

Dass wir in einer Zeit leben, die das Ich in den Mittelpunkt stellt und
dem Du oft nur die Rolle von Statisten zuweist, macht das Ganze nicht
gerade leichter. Schön sein, stark sein, erfolgreich sein, „gut
drauf sein“ sind die Markensymbole, die uns tagtäglich eingehämmert
werden, in der Werbung, im Fernsehen. Lauter Siegertypen.

Es ist schwer, dagegen anzugehen, ich weiß. Ich bin nicht perfekt
wie die geschönten, so genannten Vorbilder. Ich habe meine Schwierigkeiten,
Tag für Tag, Aber eins weiß ich:

Mit der Ausrede, dass „die Anderen“ Schuld haben an allem,
was mein Leben beeinträchtigt, komme ich vielleicht vor mir selbst
durch, eine Weile. Möglich, dass ich auch meine Umgebung damit täusche,
eine Weile. Aber wie lange kann ich das Gott vormachen?

„Bekehrt euch, so werdet ihr leben.“ Ein altes, starkes Wort
steht dagegen. Lassen wir uns nicht stören von der strengen Redewendung,
wir können auch ebenso sagen: „Besinnt euch. Sucht keine Sündenböcke
woanders. Überlegt, wo ihr selbst Fehler macht und nehmt euch die
Zeit, darüber nachzudenken, ob ihr so seid, dass Gott sich darüber
freut.“

Ein letztes Mal unserer Predigttext: „Meinst du, dass ich Gefallen
habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr
daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“

Könnte es deutlicher sein, auf wessen Seite Gott steht?

Amen.

Peter Kusenberg
Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de

 

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