Himmelreichkarriere(n

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5. Sonntag nach Trinitatis, 21.07.2019 |Predigt zu Matthäus (9:35-) 10,1.5-10| verfasst von Jochen Riepe |

I

Ja, der ‚Geist der ersten Zeugen‘(eg 241), unsere Wurzeln… ‚Früher war doch alles besser‘, sagt einer, und dann meldet es sich: das schlechte Gewissen, das Gefühl, versagt zu haben. Zugleich aber erhebt sich das ‚gute Gewissen‘ des Glaubens und hält dagegen: Dies ist unsere Zeit. Und auch für uns gilt: ‚Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘.

II

Sie war wohl das, was man eine ‚Karrierefrau‘ nennt. Aufgestiegen aus einfachen Verhältnissen. Fleißig in der Schule, ehrgeizig im Beruf. Gehobene Position. Gutes Gehalt. Gefragt nach ihrem Lebensweg, nach Kindheit und Jugend, betrachtete sie die leicht lädierte Tasse in ihrer Hand und nannte dann zwei Sätze, die zu Hause öfters gefallen seien. Der eine: ‚Du sollst es einmal besser haben‘. Der andere: ‚Vergiß nicht, wo du herkommst‘. Sie habe diese Regeln, Verheißung und Ermahnung in einem, nie vergessen, und ich denke, auch so mancher von uns, besonders die Älteren, werden in einer ähnlichen Atmosphäre aufgewachsen sein. Hoffnung auf Aufstieg und zugleich die Furcht, einander zu verlieren.

III

‚Karriere im Himmelreich‘. Jesus entsendet seine Jünger. Es wird eine Zeit kommen, da er nicht mehr bei ihnen sein wird, eine Zeit, in der sie selbständig das Wort ausrichten und deshalb nach Orientierung fragen werden: Was sollen wir tun? ‚Geht aberund predigt… : Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘. Gottes Reich, Gottes Liebe ist ‚nahe‘, sie verändert unser Leben, und die Gewißheit, die Jesus bestimmte, soll auch den Weg, die Laufbahn, der ihm Nachfolgenden auszeichnen. Wie aber wird die Verkündigung konkret? In verstörender und doch, ja, leuchtender Weise werden die Jünger ermahnt, eben so wie ihr Herr zu handeln: ‚Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzigerein, treibt böse Geister aus…‘

‚Health and Wealth‘, wie man in den amerikanischen Freikirchen sagt, das Wohl von Leib und Seele, Heil und Heilung, gehören zusammen, und wir mitteleuropäische Christen, die wir so stark vom Wort, von Sprechen und Gesprächen, bestimmt sind, wir werden auf einmal an den Leib der anderen und den eigenen gewiesen, auf seine Krankheiten, seine Entstellung, seine Erschöpfung, sein Ausgeliefertsein an böse Mächte. Auch das ginge uns etwas an? Ein fremdes, ein faszinierendes Bild von Kirche.

IV

Als sei es aber des Befremdlichen noch nicht genug, legt Jesus in seiner ‚Jüngerrede‘ noch eins nach. Muß man für die Ausführung dieses Auftrags nicht gründlich vorbereitet und ausgerüstet sein? Ebenso entschieden heißt es aber: ‚Ihr sollt weder Goldnoch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben; auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden,keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert‘.

Das ist provokant: Arm und mittellos, nicht einmal einen Kupferpfennig in der Tasche, ohne belastendes Gepäck, sogar ohne einen Stock, mit dem er sich gegen Räuber und wilde Tiere verteidigen kann, soll der ‚Wanderer‘ im Namen Christi unterwegs sein. Kirche mit den und für die Armen. Nur der Wehrlose, der Angewiesene lebt wirklich mitdem anderen und ist glaubwürdiger Zeuge und Täter des nahenden Gottesreiches. ‚Wanderradikalismus‘ (G. Theißen) hat man diese Bewegung im Urchristentum genannt und bestaunt. Männer und Frauen, die von Ort zu Ort zogen, predigten, heilten und so zu einer Wurzel, zum Anfang oder jedenfalls: zu einem der Anfänge einer Institution wurden, die später wegen ihres Reichtums, ihrer Macht berühmt und berüchtigt wurde und bei uns zu einem der größten Arbeitgeber aufstieg. Hat der Anfang gewirkt? Ging er verloren?

V

Schlechtes Gewissen. Etwas fehlt. Etwas hakt und will nicht passen. Sie hatte ihren Weg gemacht, ihr ging es besser als den Eltern, ihr Tisch war anders gedeckt. Sie konnte es sich leisten, ab und an größere Beträge zu überweisen. Aber da war dieser andere, der zweite Satz, und der konnte in ihr mitunter seine belastende und beschämende Macht zeigen: ‚Vergiß nicht, wo du herkommst‘.

‚Bitte keine Schuldkomplexe! Keiner kann sich seinen Anfang aussuchen‘, mag mancher jetzt denken. ‚Schulden gegen den Anfang‘ (F. Nietzsche) gibt es nicht. Aber lebte sie nicht in zwei Welten? Welche innere Verbindung hatte sie noch zu dem, was man die Herkunft eines Menschen nennt? Waren es lediglich Pflichtbesuche zu Hause, die die Entfremdung nur kaschierten? Diese Wortlosigkeit. Dieser häufig gleiche Wortwechsel. Es passierte ja nicht mehr viel in der Welt der Eltern, und was würden diese von ihrem Leben verstehen? Und dennoch: Jedes Mal, wenn sie zurückfuhr, nahm sie im Herzen etwas mit… dann sang sie laut im Auto oder drehte die Musik auf. Es tat gut, am heimischen Küchentisch zu sitzen mit der gesprungenen Kaffeetasse. Es tat gut, die Hand des Vaters zu halten und von der Mutter gedrückt zu werden… es tat gut, zu wissen, von wem man kommt.

VI

Geht aber und predigt…‘ Karriere ohne Gold und Silber, ohne Stock und Ausrüstung, mittellos, wehrlos – die Menschen, die Armen werden euch aufnehmen… Wanderradikalismus. Romantische Verklärung der Armut und des ungesicherten Unterwegsseins? Was kann der Traum, der ‚Geist der ersten Zeugen‘ denn heute bedeuten? Ein Ausleger des Matthäusevangeliums* stellt fest, die Kirche habe sich von Jesu Jüngerrede nie besonders angesprochen gefühlt. Sie redete sich angesichts seines radikalen Anspruchs buchstäblich heraus: Das mochte für die Jünger damals, die zuvor namentlich erwähnt werden (10,2-4), gelten, aber doch nicht für die Späteren.

Wir sollten dieses Ausweichen bedenken. Heil und Heilung für Leib und Seele, eine asketische, ortlose Existenz, für manche lebenslang, für andere auf Zeit? Man kann ja mit seinen Wurzeln verschieden umgehen. Die einen verdrängen und vergessen sie und zitieren den klugen Mann, der sagte, Vergessen-Können sei eine Bedingung des Lebens. Andere trauern dem Verlorenen nach, kehren zurück und müssen doch resigniert feststellen: ‚Vater und Mutter sind lange tot‘**. Man kann aber auch die Verheißung Christi, ‚bei uns/mit uns zu sein‘ (28,20) ‚alle Tage bis an der Welt Ende‘, beim Worte nehmen, als eine Wurzel des eigenen Lebens im Dank bewahren und in der Kraft des Geistes fruchtbar machen. Vater und Mutter sind nicht mehr da, und wir leben ja heute – das ist unsere Zeit und uns gilt: ‚DasHimmelreich ist nahe herbeigekommen‘.

Papst Franziskus versuchte zu Beginn seiner Karriere als Chef der Weltkirche den Traum einer ‚Kirche für die Armen‘ neu verbindlich zu machen, einer Kirche, ‚die zwar verbeult, verletzt und beschmutzt ist, doch auf die Straße hinausgegangen ist‘*** . Er, der statt im Papstpalast im vatikanischen Pilgerhotel wohnt, sprang gleichsam zurück zu den ‚Wanderern‘ und machte sich mit ihnen gleichzeitig.

VII

Dieses ‚Kurzschließen‘ der Zeiten hat viele Christen angesprochen, aber was bedeutet es konkret? Was ändert sich, wenn wir ihm folgen? Muß diese Kirche nicht selber arm werden, mit den Betroffenen leben, statt sie ‚aus sicherer Position‘ oder gar ‚von oben herab‘ zu betreuen oder zu versorgen? Fühlen sich die wirklich Armen nicht ‚betrogen‘ von schönen Formeln und befürchten, in ihrer Armut gleichsam eingekerkert zu bleiben? Eine Lebens-Frage vieler Bedrückter ist doch: Wie werden wir freie, (aus-) gebildete Brüder und Schwestern, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, die guten Herzens ‚aufsteigen‘, einen bescheidenen Wohlstand leben können und so ihre Heilung, ja, ihre ‚Auferstehung‘, finden können?

Je mehr man fragt, umso verlegener werden wir in der sog. ‚Mittelstands-Kirche‘, die nicht so richtig weiß, wo es hingehen wird, und dabei sorgenvoll über ihr Geld und ihren Fortbestand grübelt. Mit Grund: Schließlich leben viele Menschen davon, daß sie in ihr arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Gemeinden sammeln für die Diakonie und für ‚Brot für die Welt‘, wir haben eine Kleiderkammer. Wir haben Experten und Werke, die professionell und abrechnungsfähig ihren Klienten, den Kranken, den Obdachlosen, den Isolierten und Verarmten beistehen. Das ist Realität. Aber ist es das, was in Jesu Jüngerrede gemeint war? Etwas hakt.

VIII

Schlechtes Gewissen. Früher war alles besser? Aber was genau war besser? Zum ‚guten Gewissen‘ (1.Tim. 1,19)**** des Glaubens gehört: Wir dürfen unsere Realität erkennen und annehmen. Dies ist unsere Zeit! Ja, uns gilt die Verheißung des Auferstandenen! Man kann an den Unvollkommenheiten, den Rissen und am Verlorenen leiden, aber man muß nicht daran zerbrechen. Jesu Auftrag an die Jünger, die Praxis jener Wandercharismatiker, auch die Vision des Papstes, der seine alten Schuhe anbehalten hat, um einen neuen Stil zu leben – sie können uns ‚inspirieren‘. Heil und Heilung. Gottes Geist wird uns gerade so die Kardinalfrage stellen: Wie verhalten wir uns gegenüber denen, an die der Herr uns weist? Die Kranken, Entstellten, Einsamen… Klientel, Kunden‚ ‚Betreuungsobjekte‘, an denen man im Sozialstaat Geld verdient? Oder: Brüder und Schwestern, ja, die uns aufnehmen und trösten?

Ach ja, unsere ‚Karrierefrau‘. Diese Besuche daheim. Der Tisch. Der Becher. Die Hand des Vaters, die Arme der Mutter. Was verpassen wir, wenn wir denen ausweichen, mit denen doch alles begann! Überweisungen sind gut, Spenden auch. Aber der Besuch am Krankenbett, das Gespräch in der Küche, gemeinschaftliches Essen und Lernen, Schularbeitenhilfe und Stellensuche, ein Ausflug, eben ein ‚Gemeinsames Leben‘ (D. Bonhoeffer) – hochgemut und demütig in einem – sind besser.

 

 

*U. Luz, Die Jüngerrede des Matthäusevangeliums als Anfrage an die Ekklesiologie, in: ders., Exegetische Aufsätze, 2016, S. 245ff **J. v. Eichendorff, Der alte Garten (1841)***Lehrschreiben Evangelii Gaudium (2013) ****‘Fides nihil aliud est quam bona conscientia‘ (M. Luther, WA 20; 718,19f; Vorlesungen über Prediger Salomonis und 1.Johannesbrief, 1526/27)

 

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Liedvorschläge: eg 241,1.5.7 (vor der Predigt) ; eg 243,1.5.6 (nach der Predigt); eg 608

Gebet nach der Predigt:

Christus Jesus, im Vertrauen auf die Verheißung deiner Gegenwart bitten wir dich:

Schenk uns deinen Geist, den Hl. Geist, der Verbindung schafft zwischen den Zeiten, den Räumen, den Klassen und den Milieus.

Laß uns in dieser Zeit teilhaben an dem Auftrag, den du einst deinen Jüngern gabst. Zeige uns Schwachen und Kleingläubigen die Menschen, die uns und die wir brauchen.

Schenke uns Gemeinschaft in Liebe und Achtung voreinander.

Demütig und hochgemut wollen wir dir entgegen gehen.

 

 

 

Pfr. i. R. Jochen Riepe
Dortmund, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: Jochen.Riepe@gmx.net
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