Hin-Gabe

Hin-Gabe

Predigt für Karfreitag – III – 2.4.2021 | Jes. 53,3-12 | von Susanne Günther |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. AMEN

Jes. 53,3-12

Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist Gottes Arm offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg, darum haben wir ihn für nichts geachtet.

Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten. Und durch seine Wunden sind wir geheilt.

Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber Gott warf alle unsere Sünde auf ihn. Als er gemartert war, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor einem Scherer verstummt, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Land der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volkes geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei den Gottlosen und bei den Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Mund war. So wollte ihn Gott zerschlagen mit Krankheit.

Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und Gottes Plan wird durch seine Hand gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, der Gerechte, mein Knecht, den vielen Gerechtigkeit schaffen, denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raub haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Gott, gib uns ein Herz für Dein Wort und nun ein Wort für unser Herz. AMEN

Liebe Gemeinde!

Eines der schlimmsten Schimpfwörter, mit dem sich junge Leute heutzutage bedenken können, heißt „Du Opfer“. Damit wird jemanden nicht nur der Stempel aufgedrückt, in seinem Leben nicht zurecht zu kommen, es nicht im Griff zu haben. Sondern gleichzeitig wird der- oder diejenige auch zum Freiwild für andere erklärt, so nach dem Motto „mit Dir kann man es ja machen.“

Tatsächlich ist es so, dass ein Mensch, der einmal von anderen zum Opfer erklärt wurde, dann auch die Häme der anderen auf sich zieht, die gar nichts damit zu tun haben. Kaum ein Außenstehender widerspricht der Verurteilung oder stellt sich gar offen dagegen, aus Angst, selbst ins Visier der Übeltäter zu gelangen. Der Begriff „Mobbing“, ob am Arbeitsplatz oder in der Schule, ist in unseren Tagen allen bekannt. Die Sache als solche ist aber älter, früher nannte man das „Intrige“ – Menschen werden hilflos gemacht, ausgebremst, hintergangen. Das Ganze geschieht so gezielt und geschickt, dass sich kaum etwas nachweisen lässt. Und der oder die Betroffene ist neben den verdeckten Angriffen eben auch noch dem Vorwurf ausgesetzt, falsche Anschuldigungen auszusprechen oder sich nicht gewehrt zu haben: „Du Opfer“. Und tatsächlich tragen solche Opfer sehr viel bei zum Frieden in einer Klasse oder einer Arbeitsgemeinschaft: Weil eben einer immer alles auf sich nimmt, werden die anderen in Ruhe gelassen und können miteinander klüngeln. Mitläufer eben, die dritte Rolle neben Opfern und Tätern.

So lange einer im Blickfeld der Übeltäter ist, kommen wir vielleicht ohne Schaden davon, so mögen sich die Mitläufer denken. Auf diese Weise wird der Geschädigte zum klassischen Sündenbock.

Das Wort „Sündenbock“ ist uralt, es kommt aus der jüdischen Religion und beschreibt den Schafsbock, der geopfert wird als Sühnopfer. Durch dieses Opfer sollen die Sünden, die ein Mensch oder eine Menschengruppe begangen hat, gesühnt werden.

Auch in unserem Predigttext hat dieses Bild Aufnahme gefunden: Der Gottesknecht, der da alles auf sich nimmt, wird mit einem Lamm verglichen, das zur Schlachtbank geführt wird und vor seinem Scherer verstummt. Ein Bild, das zur Entstehungszeit des Textes, wahrscheinlich kurz nach dem babylonischen Exil, also etwa im fünften Jahrhundert vor Christus jedem, geläufig war. Nicht nur das Bild vom Schaf an der Schlachtbank war geläufig. Auch das Bild vom Verlierer. Von Menschen, die alles verloren hatten, in die Verbannung geführt wurden, keine Hoffnung mehr haben konnten. Letzteres war aus eigenem Erleben geläufig, also mehr als ein Bild, das man nur ansieht. Sondern eine Erfahrung, die einen auf Generationen prägt und die Frage offen lässt: Wie konnte das geschehen, warum musste das geschehen?

Statt die Schuld bei sich selbst zu suchen, ist eine andere Lösung naheliegend: Die Sache auszugrenzen, die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben und selbst mit der Überzeugung weiterzuleben: Ich kann ja nichts dafür, ich konnte ja nichts machen.

Mitläufer, Täter und Opfer. Alle drei Sichtweisen sind uns bekannt. Alle drei Sichtweisen haben wir wohl schon einmal eingenommen. In unserem Predigttext geht es um das Opfer. Um den, der alles auf sich nimmt, der sich nicht wehrt. Und dadurch noch mehr Häme auf sich zieht: „Was ist denn das für einer, der sich das alles gefallen lässt, warum macht der so gar keine Anstalten, die Rolle zu wechseln und sein Leben zum Besseren zu wenden?“

Verachtet und krank, nichts wert, da sieht man am besten gar nicht hin. Sonst trifft einen das Unglück noch selbst. Denn, so war die Überzeugung damals: Wer so tief getroffen ist, der hat etwas falsch gemacht. Und das färbt ab auf andere. Unglück grenzt aus, stigmatisiert. Das ist bis heute oft so geblieben.

Immer wieder haben Christen dieses Bild auf Jesus übertragen. Die alten Gottesknechtslieder, es gibt mehrere davon, wurden als Prophezeiung gesehen, die schon 500 Jahre vor Christus auf ihn hinweisen. Martin Luther geht in dieser Deutung sogar so weit, dass er die Worte in seiner Übersetzung angeglichen hat. Sie erinnern sich an den Text aus Jesaja 11, den wir an Weihnachten hören: „Ein Reis wird hervorgehen aus der Wurzel Isais“. Und nun heute: „Ein Reis schoss vor ihm aus, wie ein Wurzel.“

Im hebräischen Urtext stehen dort allerdings unterschiedliche Worte, die man eigentlich einmal übersetzen müsste mit „starker Ast“ und im anderen Fall mit „schwacher Zweig“ – aber schon Martin Luther war überzeugt: „hier ist von Jesus die Rede, dem neuen Zweig aus der alten Wurzel.“ Und hat kurzerhand beides gleich gedeutet.

Es leuchtet ein, dass dieses Bild auf Jesus übertragen wurde. Wenn wir uns seinen Tod ins Gedächtnis rufen, die Bilder, die davon gezeichnet wurden, die Kreuzigungsdarstellungen in katholischen und lutherischen Kirchen, dann sehen wir ihn: Das Opfer.

Geschlagen und von Gewalt gezeichnet. Hilflos.

In unseren pfälzischen, unierten Kirchen allerdings ist das Kreuz leer. Und deutet damit auf etwas hin, was niemand am Karfreitag ahnen konnte, und das überhaupt niemand ahnen kann, der sich mitten im allertiefsten Leid befindet:

Es gab, es gibt, nicht nur einen Ausweg. Sondern das Leid an sich enthält eine Botschaft. Das Leid des Gottesknechts bedeutet, dass es für andere aufwärts geht. „ER trug unsere Krankheit und lud unsere Schmerzen auf sich…die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten.“ So heißt es im Predigttext über diesen namenlosen Unbekannten, der für uns eintritt. Kein Wunder, dass die Worte auf Jesus übertragen wurden.

Es gibt sie, diese Menschen, die für andere eintreten. Die etwas auf sich nehmen, um anderen Erlösung zu bringen.

Mir fällt spontan der russische Systemkritiker Nawalny ein, der in Deutschland in Sicherheit war, nachdem man versucht hatte, ihn zu vergiften. Und statt dort zu bleiben, sich zurück nach Russland begab, wo man ihn sofort ins Gefängnis steckt. Als Begründung für seine Rückkehr gab er unter andrem an, für sein Volk und dessen Rechte eintreten zu wollen. Von Joan Baez, der berühmten Friedensaktivistin, die sogar im belagerten Sarajewo in der kugelsicheren Weste sang, stammt der Satz: „Hingabe – mehr braucht man nicht, um zu beweisen, dass das Leben lebenswert ist“

Es gab sie und hat sie immer gegeben: Hingebungsvolle Menschen. Oft haben sie Erwähnung gefunden, sogar Bewunderung. Vor allem aber haben sie eines geschafft: Sie haben die Rolle gewechselt, haben sich selbst vom Opfer zum „Täter des Wortes“ gemacht. Sie haben sich nicht das Rückgrat brechen lassen, sondern haben gehandelt.

An Karfreitag hat es so ausgesehen, als sei Jesus endgültig besiegt worden. Er hat es wohl selbst so erlebt, davon zeugen seine Worte am Kreuz: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Es gibt genug Situationen in unserem eigenen Leben, wo wir das nur noch so sehen können: „Gott hat uns im Stich gelassen.“ Situationen, in denen es keine Antwort auf die Frage nach dem „woher“ und dem „warum“ gibt. Situationen auch, in denen sich viele von uns abwenden, aus Angst, ebenfalls betroffen zu werden von diesem Unglück. Auch das hat Jesus erlebt. Situationen auch, mit denen man nicht anders umgehen kann, als sie auszuhalten. Viele von uns erfahren den derzeitigen Ausnahme-Corona-Zustand als solche Zeit. Und manche, die etwa auf den Intensivstationen arbeiten, beurteilen das ganz zu Recht so: Sie treten für andere ein, nehmen auf sich, was auf den Schultern anderer liegt.

Aber dieses füreinander Eintreten, unsere Hin-Gabe: Das macht uns von Opfern zu „Tätern des Wortes“. Das macht uns zu Menschen, die nicht mundtot gemacht werden, sondern handeln. Das macht uns zu Menschen, die Gott auf ihrer Seite haben, die nicht verloren gehen. Keiner hätte geahnt, dass dieser Kreuzestod Jesu eine solche Bewegung nach sich zieht, dass noch heute 2030 Jahre später nicht nur davon geredet wird, sondern dass wir immer noch dadurch gerettet werden und dadurch eine Hoffnung haben.

Meine Hoffnung ist, dass wir Menschen in der Nachfolge Jesu die Opferrolle und die Mitläuferrolle nicht mehr nötig haben. Sondern dass wir zu hingebungsvollen Menschen werden, die für ihren Glauben und ihre Mitmenschen eintreten. Wenn wir manchmal zu müde werden, zu ängstlich, zu zweifelnd, dann können wir uns an Jesu Kreuz einfinden. Am Kreuz, das uns zum Zeichen dafür geworden ist, dass es weitergeht. Der, der ganz unten war ist der, der uns Leben möglich gemacht hat. Gottes Knecht, Gottes Magd, mit denen Gott noch ganz viel vorhat. An Ostern haben wir es erlebt, an Ostern werden wir es erleben. AMEN

Suse Günther, *1963
1990-2002 Gemeindepfarrerin in Bruchmühlbach
2002-2009 Krankenhaus Pfarrerin im Krankenhaus Landstuhl
2009-2017 Krankenhaus Pfarrerin in St Ingbert
Seit 2016 systemische Therapeutin (SGsT)
Seit 2017 Krankenhaus Pfarrerin in St. Ingbert und Beratung „Zeit für Dich“ im Dekanat Zweibrücken.

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