In Ordnung bringen

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In Ordnung bringen

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch



Predigtreihe „Facetten gelebter
Frömmigkeit“

„In
Ordnung bringen“, Gunther Wenz


In Ordnung bringen

Das erste Gebot
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht
andere Götter haben neben mir.

Das zweite Gebot
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes,
nicht unnütz gebrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen,
der seinen Namen mißbraucht.

Das dritte Gebot
Du sollst den Feiertag heiligen.

Das vierte Gebot
Du sollst deinen Vater und deine Mutter
ehren, auf daß dir´s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.

Das fünfte Gebot
Du sollst nicht töten.

Das sechste Gebot
Du sollst nicht ehebrechen.

Das siebente Gebot
Du sollst nicht stehlen.

Das achte Gebot
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider
deinen Nächsten.

Das neunte Gebot
Du sollst nicht begehren deines Nächsten
Haus.

Das zehnte Gebot
Du sollst nicht begehren deines Nächsten
Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.

Liebe Gemeinde,

um Ordnung in die Bestände der christlichen
Überlieferung zu bringen, veröffentlichte Martin Luther 1529 zwei
Katechismen, den Großen und den Kleinen. Vorangegangen waren
Katechismuspredigten, die der Reformator in Vertretung des Stadtpfarrers
Johannes Bugenhagen in Wittenberg gehalten hat. Die beiden Katechismen wurden
die mit Abstand erfolgreichsten Schriften der Reformation. Auch Luther selbst
schätzte sie sehr hoch ein: unter allen seinen Werken wollte er neben
„De servo abitrio“, der Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam,
nur die Katechismen erhalten wissen. Den Status einer offiziellen
Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche erhielten sie durch
Aufnahme in das Konkordienbuch von 1580 als dem wichtigsten Lehrcorpus der
Wittenberger Reformation.

Katechese – das läßt an Schule und
Kinderlehre denken. Doch für die Hand von Kindern waren Luthers
Katechismen anfangs nicht gedacht. Der Große Katechismus ist an
Geistliche adressiert, der Kleine richtet sich an die Hausväter namentlich
auf den Bauernhöfen in den kursächsischen Dörfern, um sie zur
Unterrichtung ihres Hausstandes zu befähigen. Das katechetische Grundmotiv
ist Konzentration und Elementarisierung. Die Väter des Konkordienbuchs
haben die Katechismen daher zurecht eine komprimierte Bibel genannt,
„dorin alles begriffen, was in Heiliger Schrift weitläuftig gehandelt
und einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen vonnöten
ist“ (BSLK 769, 7-10).

Was ist einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit
zu wissen nötig? Nach Luther vor allem dreierlei: Was er tun und lassen
soll, was er glauben kann und was er bitten darf (vgl. WA 7,204,13-205,3) Den
ersten Gesichtspunkt thematisiert in beispielhafter Weise der Dekalog, den
zweiten das Credo, den dritten das Vaterunser. Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis
und Herrengebet: Damit sind die drei zentralen Hauptstücke des Katechismus
benannt, denen mit Taufe und Abendmahl zwei weitere ergänzend
hinzugefügt werden. Das erste Hauptstück, welches die Zehn Gebote und
ihre Auslegung beinhaltet, geht nicht nur der Reihenfolge nach den anderen
voran, sondern ist auch in der Sache schlechterdings grundlegend, da es nicht
weniger enthält als das göttliche Grundgesetz für Mensch und
Welt, die Verfassungsordnung der Schöpfung.

Kosmos heißt Ordnung. Ohne Ordnung gibt es
keine beständige Welt, die dem Chaos zu widerstehen vermag. Was aber die
Naturgesetze für die Welt der Natur, das sind die Zehn Gebote für die
Welt der Kultur, ohne die der Mensch nicht Mensch sein und sein Wesen nicht
realisieren kann. Die Menschenwelt im allgemeinen und die Welt jedes einzelnen
Menschen in Ordnung zu bringen und zu erhalten, das ist der Sinn und Zweck der
Zehn Gebote, an welchen die menschliche Kreatur ihren göttlichen
Maßstab findet.

Wohl an denn: Wie lautet das Erste Gebot? Ich bin
der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was
ist das? „Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und
vertrauen.“ (BSLK 507,43f) In diesem Gebot, sagt Luther, sind alle anderen
inbegriffen, es ist deren Haupt und Quellborn, ohne dessen Erfüllung
nichts in Erfüllung geht und mit dessen Erfüllung alles erfüllt
ist. Ich zitiere den Reformator: „(W)o das Herz wohl mit Gott dran ist und
dies Gepot gehalten wird, so gehen die andern alle hernach“ (BSLK
572,12-14). Am Verhältnis zum Ersten Gebot entscheidet sich das Ganze.
Luther hat das formal dadurch unterstrichen, daß er die Auslegungen des
zweiten bis zehnten Gebots stets mit einer Erinnerung an diejenige des ersten
einleitet: „wir sollen Gott fürchten und lieben“ (vgl. BSLK
508,5ff). Das rechte Verhältnis zu Gott ist die Grundlage und
Möglichkeitsbedingung rechten Verhältnisses zu Selbst und Welt.

Was aber ist Gott, und was heißt es, einen
Gott zu haben? „Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen
soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein
Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie
ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Gläuben des Herzens
machet beide Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch
Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist,
da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube
und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest,
das ist eigentlich Dein Gott.“ (BSLK 560,10-24) Woran Du Dein Herz
hängst, das ist Dein Gott. Der Gottesbegriff markiert die
Unbedingtheitsdimension unseres Daseins. Nicht so, sagt Luther, daß die
Alternative Gott oder Nichtgott in unserer Wahl stünde: einen Gott hat
jedermann. Atheismus im strengen Sinn ist keine menschliche Möglichkeit,
Religion vielmehr ein anthropologisches Universale; sie gehört zum
Menschsein des Menschen konstitutiv hinzu. Nicht ob der Mensch sein Herz an
etwas hängt, ist deshalb die entscheidende Frage, sondern an wen oder was
er es hängt: an Gott oder an einen Abgott. Zwischen Gott und Götze
kategorisch zu unterscheiden: das ist es, was das erste Gebot gebietet.

Wenn ein Endliches für Unendliches, ein
Bedingtes für unbedingt erklärt wird, haben wir es stets mit
Götzendienst zu tun. Luther nennt als ein Beispiel den Mammonsdienst und
die Vergottung materieller Güter. Aber auch soziale Werte wie Klugheit,
Ehre oder bürgerliche Anerkennung, ja nicht zuletzt religiöse Gehalte
stehen in Gefahr, vergötzt zu werden. Auch Mitmenschen können auf
unstatthafte Weise verhimmelt und zu Idolen verklärt werden, womit man
sowohl ihnen als auch sich selbst unrecht tut. Denn gerecht zu werden
vermögen sich Menschen untereinander nur, wenn sie sich als endliche Wesen
begegnen. Jede Menschenvergottung ist inhuman, sei es daß sie Kindern,
Eltern, Ehepartnern oder wem auch immer gegenüber geschieht. Wir
können menschlich leben nur, wenn wir weder die anderen noch uns selbst
vergotten.

Letzteres ist nach Luther nicht nur die
größte Gefährdung des Menschen, die Selbstvergottung ist
zugleich die Gefahr, der wir alle je auf unsere Weise erliegen: Sein zu wollen
wie Gott, nicht endlich, sondern unendlich, nicht einer unter anderen, sondern
ein und alles. Mehr oder minder bewußt wollen wir alle die innerste Mitte
sein, um die sich alles dreht, der letzte Grund und das letzte Ziel allen
Seins. Das ist die Sünde Adams, das peccatum originale, die Ursünde.
Dem steht das Erste Gebot mahnend und warnend entgegen: Selbst- und
Weltvergottung ist eine grundverkehrte Haltung, die Böses und Übles
bewirkt und zuletzt sich selbst zugrunderichtet. Das höchste Gut ist
allein Gott, und Gutes zu wirken vermag nur, wer sein ganzes Herz an den einen
Gott und nur an ihn hängt.

Vorausgesetzt ist dabei: Es gibt einen absolut
verläßlichen Grund jenseits von Selbst und Welt, der Grund und
Bestand verleiht, wenn Ich und Du und alle Dinge zunichte werden. Dieser
absolut verläßliche Grund ist der Schöpfer Himmels und der
Erden, der aus dem Nichts ins Sein zu rufen vermag. Auf ihn allein und ganz zu
vertrauen ist gut und die Ursache aller Güte. Glaube, will heißen:
vertrauensvolle Ganzhingabe und Gottes einige Gottheit gehören zusammen.
Wo Gott nicht das ganze Herz und alle Zuversicht gehört, da hat man den
einigen Gott verloren; wo die Einzigkeit Gottes angetastet wird, da ist der
Glaube falsch. „Frage und forsche dein eigen Herz wohl“, mahnt
Luther, „so wirst Du wohl finden, ob es allein an Gott hange oder nicht.
Hast Du ein solch Herz, das sich eitel Guts zu ihm versehen kann, sonderlich in
Nöten und Mangel, dazu alles gehen und fahren lassen, was nicht Gott ist,
so hast du den einigen rechten Gott. Wiederümb hanget es auf etwas anders,
dazu sich’s mehr Guts und Hülfe vertröstet denn zu Gott, und
nicht zu ihm läuft, sondern fur ihm fleugt, wenn es ihm ubel gehet, so
hast du ein andern Abegott.“ (BSLK 566,47-567,8).

„Ich bin der Herr, Dein Gott“: Mit
dieser Selbstvorstellung Gottes als meines Herrn beginnt das Erste Gebot. Gott
selbst ist es, der gebietet und den Grund notwendiger Befolgung der Gebote
darstellt. Die Gebote zu befolgen bedeutet entsprechend zunächst und im
wesentlichen nichts anderes, als Gott meinen Herrn sein zu lassen. Nichts in
der Welt ist mein Herr, aber auch ich bin nicht absoluter Herr meiner selbst,
sondern mein Herr ist einzig und allein Gott. Aus diesem vertrauensvollen
Glauben folgt nicht Unfreiheit, sondern Freiheit. „Domini sumus“,
sagt Luther: Wir sind Herren, weil wir des Herren sind. Gott, der Herr, will,
daß wir seine freien Kinder seien und uns als Menschen unserer
Gotteskindschaft erfreuen. Freuet Euch und feiert, daß Euere Namen im
Himmel geschrieben sind: Der Inhalt des Zweiten und Dritten Gebotes ist damit
bündig umschrieben. Wir sollen Gottes Namen und den Feiertag heiligen: Was
ist das und wo geschieht das? Der Name Gottes wird geheiligt, wo Gottes
Gottheit anerkannt wird, wo wir Gott unseren Herrn sein lassen und ihn als
seine Kinder beim Namen nennen: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde
Dein Name.“ Ist Gottes Name nicht an sich selbst heilig? Ja, sagt Luther,
„aber wir bitten in diesem Gebet, daß er bei uns auch heilig
werde.“ (BSLK 512,29f) Geheiligt wird Gottes Name, wo wahrgenommen und
geglaubt wird, daß er unser himmlischer Vater sei. Solcher Glaube ist uns
im Dekalog geboten und um solchen Glauben bitten wir im Vaterunser in dem
Bewußtsein, daß nur Gott selbst ihn zu geben vermag, aber auch
tatsächlich zu geben gewillt ist: Vater unser im Himmel. Was ist das?
„Gott will damit uns locken, daß wir glauben sollen, er sei unser
rechter Vater und wir seine rechte Kinder, damit wir getrost und mit aller
Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“
Jesus Christus, der uns das Vaterunser gelehrt hat, ist als der ewige Sohn des
Vaters die Gewähr der Wahrheit des Herrngebets. Das Vaterunser trägt
in diesem Sinne die Gewißheit seiner Erfüllung in sich. Wem aufgeht,
daß Gott unser Vater ist, dessen Gebete sind erfüllt und die Gebote
haben für ihn nicht länger den Charakter fremder Gesetzgebung,
sondern den der eigenen Lebensbestimmung.

Doch will eben diese segensreiche Einsicht
beständig und gemeinsam erbeten sein, und eben deshalb sind wir heute
hier, um dem Dritten Gebot entsprechend den Feiertag zu heiligen. Indem wir
Gottes Namen anrufen, um ihn unsern Herrn sein zu lassen, geben wir unsere
eigenen Allmachtsansprüche auf und relativieren zugleich die
Ansprüche der Welt und anderer Menschen uns gegenüber. Das ist gut
und heilsam so. Am Sonntag unterbrechen wir unser Wirken und die Wirklichkeit
des Werktags. Wir falten die Hände, um unserem Tun Einhalt zu gebieten, um
alle Sinne auf Grund und Ziel menschlichen Handelns zu richten. Gottesdienst
ist Sammlung: Indem wir uns auf Gott konzentrieren, kommen wir recht eigentlich
erst zu uns selbst, um der ganzen ungeteilten Fülle unseres Daseins und
der Einheit der Welt inne zu werden, die sich im Alltagsgeschäft ins
Diffuse zu verflüchtigen droht. Indem wir Gottes eingedenk sind, werden
wir den engen Schranken des Alltäglichen entnommen und vom Endlichen zum
Unendlichen erhoben. All dies tut uns not. Wir bedürfen der
religiösen Muße als eines Selbstzwecks, um des Sinnes und Zieles
unseres Tuns und Handelns gewahr zu werden. Der Sonntag ist der Sinngrund des
Werktags. Nota bene: Die Gebote gebieten uns, was wir tun sollen, das ist
richtig. Doch geben uns die drei ersten, die man die Gebote der ersten Tafel
genannt hat, bemerkenswerterweise keine Handlungsanweisungen im eigentlichen
Sinn. Sie gemahnen uns vielmehr zur Besinnung. Denn um recht handeln zu
können, bedarf es zuallererst der Gelassenheit des Glaubens, der Gott Gott
sein läßt, meinen Herrn, unseren Herrn, den Herrn aller Welt,
Schöpfer Himmels und der Erden, den Vater seines einigen Sohnes Jesu
Christi, in dessen Geist wir alle Kinder Gottes heißen und es
tatsächlich sind.

Betreffen die Gebote der ersten Tafel insbesondere
das Gottesverhältnis des Menschen, so beziehen sich die folgenden vor
allem auf sein Verhältnis zu sich selbst sowie auf sein Verhältnis zu
Mitmensch und Welt in dem gegebenen irdischen Dasein. Das Vierte Gebot der
Elternehrung eröffnet die Gebote der zweiten Tafel und hat nach Luthers
Urteil zugleich als „das erste und hohiste“ (BSLK 586,48f) zu gelten:
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es Dir
wohlergehe und Du lange lebest auf Erden.“ Warum, so fragt man sich, wird
diesem Gebot ein so hoher Stellenwert noch vor dem Tötungsverbot
eingeräumt? Ich habe mir die Antwort auf diese Frage so zurecht gelegt:
Unser leibhaftes Dasein ist in keiner Weise von uns selbst gewirkt und doch die
elementare Voraussetzung all unseres Handelns. Wir sind auf die Welt gekommen,
ohne daß wir dies verursacht oder auch nur mitverursacht hätten; wir
sind da, ohne diese eigens gewollt zu haben und ohne um unsere Einwilligung
gebeten worden zu sein. Das schiere Faktum unseres Daseins ist in diesem Sinne
für uns kontingent. Nichtsdestoweniger ist es die Grundbedingung
sinnvoller Existenz, sich bejahend zu diesem kontingenten Faktum zu verhalten.
Dazu fordert uns das Vierte Gebot auf.

In unseren Eltern wird uns die Kontingenz unseres
Daseins, welche allen leibhaften Selbstvollzügen innewohnt, exemplarisch
vorstellig. Das Gebot der Elternehrung gebietet uns sonach vor allem, uns
anerkennend und wohlwollend zu dem unserer Erkenntnis und unserem Willen
zugrundeliegenden Tatbestand unseres In-der-Welt-Seins zu verhalten. So gesehen
sind wir die Elternehrung uns selbst schuldig. Elternehrung und elementare
Selbstanerkennung gehören zusammen und lassen sich nicht trennen. Damit
ist nicht gesagt, daß wir uns von unseren Herkunftszusammenhängen
nicht emanzipieren sollten und dürften. Nein, Elternehrung schließt
mögliche Elternkritik und den Willen zur Selbständigkeit, den gute
Eltern nicht hemmen, sondern fördern werden, durchaus ein. Aber
Emanzipation wird zur Unfreiheit, wo sie die elementare Grundabhängigkeit,
die mit unserem leibhaften Dasein als solchem gesetzt ist, abstrakt zu negieren
sucht. Wo dies geschieht, schlägt Elternhaß allzuschnell in
Selbsthaß um und gibt sich als dessen Reflex zu erkennen. Davor will uns
das Vierte Gebot bewahren, indem es uns gebietet, in unsern Eltern das Faktum
unseres Auf-die-Welt-Gekommen-Seins und leibhaften In-der-Welt-Seins zu ehren
und uns, jawohl, in elementarer Leibhaftigkeit selbst zu lieben. Nur wer in
solch elementarer Weise sich selbst in seinem leibhaften Dasein zu lieben und
als gottgewollt anzuerkennen bereit ist, wird auch seinen leibhaften
Nächsten und die gemeinsam gegebene kreatürliche Welt als gottgewollt
anerkennen und lieben können. Selbstliebe und Nächstenliebe sind
keine Gegensätze; im Gegenteil, sie sind konstitutiv aufeinander bezogen:
„Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Auf die elementarste Form der Anerkennung, die dem
Mitmenschen bedingungslos gebührt, ist das Fünfte Gebot bezogen, das
dessen Tötung verbietet. Es ist evident: Die unbedingte Achtung vor der
Unversehrtheit der leibhaften Personalität des Mitmenschen ist die
Grundvoraussetzung jedweden menschenwürdigen Umgangs. Wer sich an Leib und
Leben seines Nächsten vergreift, zerstört ein unendliches Gut. Doch
genügt es nicht, im Verhältnis zum Mitmenschen von Gewaltanwendung
Abstand zu nehmen. Wie Luther sagt: „Wir sollen Gott fürchten und
lieben, daß wir unserm Nähisten an seinem Leibe keinen Schaden noch
Leid tun, sondern ihm helfen und fodern in allen Leibesnöten.“ (BSLK
508,31-34) Wie stets so zielt Luthers Gebotsauslegung auch hier auf eine nicht
nur äußerliche, sondern herzliche Anerkennung der Gebote, deren
Gehalt er ausdrücklich ins Positive wendet, so daß es nicht
länger nur um Schadensabwehr für den Nächsten, sondern um
Mehrung und Förderung seines Nutzens zu tun ist. Nächstenliebe ist
produktiv, weil sie Lust am Anderssein des andren hat. Sie will den andern
nicht nur als Dublette meiner selbst, sondern als den, welcher ich nicht bin,
nie war und auch nie sein werde. Die Liebe liebt das Individuelle, das
Einmalige, das Unwiederholbare; sie ist das Medium der Wahrnehmung
prinzipieller Individualität meiner selbst sowohl als auch meines
Nächsten.

Es liegt in der Konsequenz dieser Einsicht,
daß als mein Nächster nicht nur und nicht in erster Linie der Mensch
im allgemeinen in Betracht kommt, sondern insonderheit ein bestimmter Mensch
bzw. eine bestimmte Gruppe konkreter Menschen. Als der nächste
Nächste hat dabei, mit Luther zu reden, mein ehelich Gemahl zu gelten,
„welchs mit (mir) ein Fleisch und Blut ist“ (BSLK 611,6f). Es ist
hier nicht die Zeit und nicht der Ort, eine reformatorische Ehelehre zu
entwickeln, so sehr dazu aktueller Anlaß und aktuelle Notwendigkeit
bestünde. Nur ein Aspekt sei eigens erwähnt: Zwar erschöpft sich
der Sinn der Ehe keineswegs in der Fortpflanzung des Menschengeschlechts,
welche zum primären Ehezweck zu erklären mehr als
äußerlich wäre. Doch darf der Gesichtspunkt geordneter
Generationenfolge andererseits nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man zu
einem angemessenen Verständnis der Ehe gelangen will. Denn das
Verständnis der Ehe droht gründlich verfehlt zu werden, wo man sich
unbedacht dem Kult romantischer Zweisamkeit überläßt. Ehe und
Familie gehören zusammen. Jeder Mensch ist Kind von Eltern. Auf diesen
für unser leibhaftes Dasein in der Welt schlechterdings grundlegenden
Sachverhalt ist nicht nur das Vierte, sondern auch das Sechste Gebot bezogen,
indem es uns gemahnt, mit der Unverbrüchlichkeit der Ehe auf die
alternativlose Notwendigkeit einer geordneten Generationenfolge zu achten. Ich
behaupte nicht, daß sich die Ordnung der Generationenfolge nur im
Zusammenhang der Ehe gewährleisten läßt. Behauptet ist
allerdings, daß der grundsätzliche Wille zur Generationenfolge und
die Bereitschaft zur Sorge um die Nachkommenschaft gottgegebene Pflicht jedes
Menschen ist. Gute Eheleute nenne ich daher solche, die Elternschaft gemeinsam
und beständig zu verantworten bereit sind, was ohne verläßliche
und dauerhafte Bindungen nicht möglich ist.

Geht es im Vierten, Fünften und Sechsten
Gebot um Herkunft, Schutz und Weitergabe leibhaften Menschenlebens in dieser
Welt, so thematisieren die verbleibenden Gebote sieben bis zehn den weiteren
sozialen Kontext menschlichen Daseins und zwar im Hinblick auf die Frage des
Eigentums, der Wahrheit und zu vermeidender Selbstsucht und Begehrlichkeit:
„Du sollst nicht stehlen.“ „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
wider deinen Nächsten.“ „Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.“
Wir Menschen neigen dazu, alles in die eigene Verfügung zu nehmen. Dieser
uneingeschränkte Verfügungswille kann zu einer Sucht werden und ist
es tatsächlich geworden. Konkupiszenz nennt die christliche Tradition den
Trieb selbstsüchtigen Begehrens, der alles, was ist, ins Eigene zu
überführen und seiner Andersheit zu berauben bestrebt ist. Man
muß nicht dem Hausstand seines Nachbarn hinterherstellen, um diesen
unseligen Trieb bei sich selbst zu entdecken. Man muß kein notorischer
Lügner sein, um an sich einen fatalen Hang wenn nicht zu Verlogenheit und
Verrat, so doch zu Gerede und Geschwätz, zu Verstellung und falschem
Schein und dazu zu bemerken, sich der Wahrheit im eigenen Interesse zu
bemächtigen. Man muß schließlich auch kein Dieb und kein
Einbrecher sein, um wahrzunehmen, daß ein selbstsüchtiger Wille zur
Macht in uns auf rücksichtslose Steigerung des eigenen Vermögens und
der eigenen Potenzen aus ist, statt das Eigentum des Nächsten zu achten
und seine Möglichkeiten zu fördern.

Die Gebote sagen uns, was solch
selbstsüchtige Begierde in Wahrheit ist: Sünde, nämlich das, was
in sich verkehrt und ganz und gar nicht in Ordnung ist. In Ordnung gebracht
werden kann das Verkehrte nur durch Buße, durch Erkenntnis der Sünde
und Reue des Herzens, durch Sündenbekenntis und Beichte sowie durch
leidende und tätige Besserung. Rechte Buße hinwiederum ist
möglich nur im Vertrauen auf das Evangelium von der Rechtfertigung des
Sünders aus Gnade, wie es im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des
göttlichen Geistes offenbar ist.

Amen

Prof. Dr. Gunther Wenz


de_DEDeutsch