Jakobus 1, 12-18

Jakobus 1, 12-18

 


Invokavit,
17. Februar 2002
Predigt über Jakobus 1, 12-18, verfaßt von Gerhard Müller

„Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er
bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen
hat denen, die ihn lieb haben. Niemand sage, wenn er versucht wird, daß
er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen,
und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeder, der versucht wird,
wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die
Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde, die Sünde aber,
wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Irret euch nicht, meine lieben
Brüder. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab,
von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel
des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch
das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.“

Liebe Gemeinde!

Andere Seligpreisungen kenne ich besser. Gern erinnere ich mich an die
Seligpreisungen Jesu in der Bergpredigt. Da heißt es zum Beispiel:
„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit;
denn sie sollen satt werden“ (Matthäus 5, 6). Das sind Worte,
die mir einleuchten. Vielleicht geht es Ihnen genauso. Denn wir leiden
unter Ungerechtigkeit und setzen uns ein für Frieden, Gerechtigkeit
und Bewahrung der Schöpfung. Wir sehen, wieviele Menschen hungern
und dürsten. Damit sie satt werden, spenden viele von uns . Aber
warum ist selig, glücklich, gepriesen, wer „Anfechtung erduldet“?
Manche werden sich schon an der Sprache ärgern: „Selig ist der
Mann…“ Frauen gibt es für den Verfasser des Jakobusbriefes
wohl nicht? Denn wenn es schon Anfechtung geben soll, warum leiden dann
nur Männer unter diesem Nachteil? Oder genießen sie darin gar
einen Vorzug? Selbst wenn wir uns dahingehend verständigen, daß
hier nicht nur Männer, sondern alle Menchen gemeint sind und daß
selig der Mensch ist, „der die Anfechtung erduldet“, dann sind
wir der Sache, um die es geht, noch nicht näher gekommen. Wer sich
für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einsetzt,
der ist selig, glücklich. Er ist dem Heil und der Heilung näher
als jene, die das nicht tun, sondern die am Krieg verdienen, die Ungerechtigkeit
zu ihrem Vorteil nutzen oder die sich nicht darum kümmern, was aus
unserer Welt wird. Sie wurde früher häufig „Mutter Erde“
genannt. Damals wußten viele nämlich noch, daß wir Menschen
von dem leben, was die Natur gedeihen läßt.

Aber warum ist der Mensch, der die Anfechtung erduldet, selig? Die Anfechtung
versucht uns doch auf Wege zu locken, die ins Verderben führen können.
Wir sind in der Stunde der Anfechtung hin- und hergerissen von den verschiedensten
Gefühlen, Verlockungen und Hemmungen. Wer sich in solchen Situationen
bewährt, der wird gepriesen, der wird als selig, als glücklich
bezeichnet. Aber gibt es das heute überhaupt noch, Anfechtungen?
Wir bestimmen doch selbst, was wir wollen. Wir verwirklichen, was uns
gut dünkt. Dabei soll uns niemand dreinreden. Schon gar keine Moral
soll versuchen, sich uns in unseren Weg zu stellen. Wir sind schließlich
unseres Glückes Schmied! Was frühere Generationen für eine
Versuchung hielten, begrüßen viele heute als die Möglichkeit
der Entfaltung, als einen Aufbruch zu neuen Ufern. Wir wollen die Zeit
auskaufen. Selbstverwirklichung und Anfechtung schließen sich aus:
Wir entscheiden nach eigenem Geschmack. Da kann uns nichts anfechten.
Vielmehr sagen wir „Ja“ zu unserem Weg.

Doch – reden wir uns das alles ein und verwechseln wir Traum und Wirklichkeit?
Wahr ist, daß wir in unseren neuen Freiheiten nicht glücklicher
geworden sind, obwohl wir uns nach Kräften darum bemüht haben.
Etwa die sexuelle Revolution in unserem Land, die sich seit über
dreißig Jahren durchgesetzt hat, ist bei nicht wenigen zu einem
belastenden Leistungsdruck verkommen, der in unserer Leistungsgesellschaft
nun wahrlich ja auch sonst nicht fehlt. Je mehr wir erreichen, desto deutlicher
erkennen wir unsere Grenzen. Wir sind überhaupt nicht so frei, wie
wir uns das gewünscht und gedacht hatten. Wir sind vielmehr beladen
mit Lasten, die sich auf unsere Schultern legen – Lasten der Gesellschaft,
in der wir leben, wie auch persönliche Beschwernisse. Wir hatten
dagegen revoltiert, irgendetwas anzuerkennen, was unsere Freiheit zur
Selbstverwirklichung einschränkt. Widerstrebend mußten wir
lernen, wie eng unsere Grenzen sind: die Grenzen unserer Zeit, unserer
Gesundheit, unserer Veranlagungen. Die Hochgestimmheit ist gewichen. Sie
droht in Angst, Verzweiflung oder Krankheit umzuschlagen. Aus uns, die
wir die Welt erobern und bestimmen wollten, sind Menschen geworden, die
eingebunden sind in Zwänge, die eingeschränkt sind in ihren
Fähigkeiten und Möglichkeiten. Natürlich war das immer
so. Alle Menschen mußten sich zurechtfinden in ihrer Welt und Zeit.
Aber wir hatten dies gekonnt verdrängt. Jetzt jedoch kehren die Grenzen
zurück, die wir auch nicht zeitweise überwinden können:
Grenzen der Kraft, der Zuversicht und häufig auch der Hoffnung.

Da vermag die Rede von der Anfechtung neu hilfreich zu sein. Der heutige
erste Sonntag in der Passionszeit hat als Thema die Versuchung, die Anfechtung.
Im Evangelium lesen wir heute von der Versuchung Jesu. Plastisch und drastisch
heißt es da, wie der Teufel Jesus von Nazareth verführen will
(Matthäus 4, 1 – 11). Und die heutige Epistel aus dem Hebräerbrief
faßt zusammen: Jesus Christus wurde uns gleich; er vermag mit uns
zu leiden in unserer Schwachheit. Er wurde sogar versucht in allem wie
wir (Hebräer 4, 14 – 16). Wenn wir nun in Anfechtung geraten, sollen
wir uns bewähren, wie es im Jakobusbrief heißt. Wir sollen
nicht wie ein Blatt im Winde sein und jeder sich bietenden Möglichkeit
nachgeben oder ihr gar nacheilen, weil wir meinen, wir verpaßten
sonst etwas. Vielmehr vergeuden die ihre Zeit, die das Wichtige nicht
von Allotria zu unterscheiden vermögen. Manche mögen denken,
Anfechtung und Versuchung seien Themen, die während der Karnevalszeit
passend gewesen wären. Am Anfang der Passionszeit zeigt die Frage
nach der Versuchung aber eine viel tiefere Dimension: Es geht darum, ob
wir unser Leben verfehlen oder ob wir – wie es in unserem Predigttext
heißt – „die Krone des Lebens empfangen“. Nur wer sich
bewährt in der Anfechtung, wird selig, glücklich gepriesen.

Aber warum werden wir nicht überhaupt vor Anfechtung bewahrt? Gott
ist doch allmächtig. Er müßte und sollte uns schwierige
Situationen ersparen. Das ist ja die Kehrseite der Anfechtung, der Versuchung:
Wer ihr erliegt, gerät häufig in große Schwierigkeiten.
Geschieht dies, legt es sich nahe zu sagen: Daran bin ich nicht schuld!
Andere haben mich hineingezogen, oder Gott hat das alles zugelassen oder
sogar bewirkt. Dagegen heißt es in unserem Text: Stehe zu dem, was
du getan hast! Wir sind es schon selbst, die wir entscheiden, die wir
standhaft oder nachgiebig sind. Später die Schuld abschieben zu wollen,
ist kindisch und nutzlos. Nein: wenn die Begierde aufblüht, wie sich
eine Schwangerschaft entwickelt, dann „gebiert sie die Sünde“.
Und das Ende der Sünde ist nicht der Genuß, sondern der Tod.
Es ist zulässig, ja richtig, Gott zu bitten, er möge uns nicht
in Versuchung führen; das tun wir im Vater Unser. Martin Luther hat
diese Bitte so formuliert:
„Führ uns, Herr, in Versuchung nicht,
wenn uns der böse Geist anficht;
zur linken und zur rechten Hand
hilf uns tun starken Widerstand
im Glauben fest und wohlgerüst‘
und durch des Heilgen Geistes Trost.“
Aber wer trotzdem in eine versuchliche Situation geraten ist, weil er
ungesehen etwas „mitgehen“ lassen könnte oder weil er oder
sie über einen anderen Menschen gerade gut herziehen kann (oder was
immer es sein mag), der soll sich nicht „von seinen eigenen Begierden“
reizen und locken lassen.

Den Anfängen falscher Entwicklungen zu wehren, ist ein guter und
alter Grundsatz, der auch hier beachtet werden sollte. Gott versucht uns
nicht. Wir sind es schon selbst, die wir unseren Neigungen nachgeben,
obwohl Gewissen und Verstand sagen: „Laß das bleiben!“
Gott kann auch nicht zum Bösen verführt werden von uns: Keiner
und keine vermag ihn zu veranlassen, das Böse zu tun – kein Mensch
und kein Teufel. Gott bleibt sich treu. Das unterscheidet ihn von uns.
Er ist anders als wir, ganz anders. Immer wieder möchten wir sein
wie Gott – seit Beginn der Menschheitsgeschichte ist das so (1. Mose 3,
4 – 6). Wir möchten die uns gesetzten und uns auch schützenden
Grenzen überwinden – und müssen doch immer wieder lernen, daß
nur Gott ohne Raum und Zeit ist. Aber er ist denen zugewandt, „die
ihn lieb haben“ und die sich in Anfechtung bewähren.

Von ihm kommt „alle gute Gabe“. Er ist der „Vater des
Lichts“. Er hat es geschaffen und die Finsternis vom Licht getrennt
(1. Mose 1, 3 – 5). Wir dagegen leben im Wandel, im Wechsel von „Saat
und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1.
Mose 8, 22). Gott aber ist beständig. Bei ihm gibt es keinen Wechsel
von Licht und Finsternis. Er bleibt verläßlich; er wird nicht
launisch, müde oder verdrossen. Er ist nicht heute himmelhochjauchzend
und morgen zu Tode betrübt. Nein – er handelt, wie er es zugesagt
hat. „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab“.
Daran können wir uns halten. Er hat sich unser angenommen; er hat
– so heißt es in unserem Text – „uns geboren nach seinem Willen
durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe
seien“. Wir, die wir die Letzten im Schöpfungsgeschehen waren,
sind die Ersten geworden. Das Wort der Wahrheit, die gute Botschaft, das
Evangelium hat uns neu gemacht und erneuert uns täglich. Dafür
danken wir ihm. Wir verzichten auf das übliche Selbstmitleid, durch
das wir Gott und der Welt die Schuld zuzuschieben versuchen für das,
was wir uns selbst eingebrockt haben. Wir geben statt dessen Gott die
Ehre, der sich unser annimmt – auch in und durch die Anfechtung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Landesbischof i.R. Prof. Dr. Gerhard Müller
Sperlingstr. 39, D-91056 Erlangen
Tel. 091 31 – 49 09 39

 

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