Jakobus 2,1-13

Home / Kasus / 18. So. n. Trinitatis / Jakobus 2,1-13
Jakobus 2,1-13

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


18.
Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2000

Predigt über
Jakobus 2,1-13,
verfaßt von Hans
Joachim Schliep


„Liebe Brüder, haltet den
Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem
Ansehen der Person.
2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit
einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein
Armer in unsauberer Kleidung,
3 und ihr sähet auf den, der herrlich
gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten
Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich
unten zu meinen Füßen!,
4 ist’s recht, daß ihr solche
Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
5
Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen
in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er
verheißen hat denen, die ihn liebhaben?
6 Ihr aber habt dem Armen
Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und
euch vor Gericht ziehen?
7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der
über euch genannt ist?
8 Wenn ihr das königliche Gesetz
erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht;
9 wenn ihr aber die
Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als
Übertreter.
10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und
sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.

11 Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13-14): »Du sollst nicht
ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht
töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du
ein Übertreter des Gesetzes.
12 Redet so und handelt so wie Leute, die
durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.
13 Denn es wird ein
unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan
hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.“

Liebe Gemeinde!

„Frei von allem Ansehen der Person“. Diese
Aussage spricht mich an. Ja, es ist gut, wenn Menschen so miteinander umgehen:
Keine/r wird zurückgesetzt – keine/r wird vorangesetzt. Niemand wird
„hochgejubelt“ – und niemand wird „niedergemacht“. Jede/r wird gleich geachtet,
alle haben die gleichen Rechte und Chancen, keine/r stellt sich über
eine/n andere/n. Es wird endlich ernst damit gemacht, dass Menschen – bei allen
Unterschieden – die gleiche Würde zukommt. Was mich von anderen
unterscheidet, begründet weder, dass ich besser, noch, dass ich schlechter
bin.

Was meinen wir heute mit „Person“? Den ganzen
Menschen in seinem Wesenskern, das, was er ganz für sich selbst ist, was
ihn im Blick auf sich selbst und anderen gegenüber ausmacht, das
Unantastbare und Unverfügbare, das Ureigene, was einem menschlichen Wesen
eignet. Als der Jakobus-Brief geschrieben wurde – etwa im Jahr 100 nach
Christus – bezeichnete man als „persona“ die Maske, die ein Spieler im Theater
trug. Diese Maske zeigte in Tragödie, Komödie oder Mysterienspiel,
welche Rolle jemand gerade spielte. Dahinter konnten sich die Spielenden in
ihrem besonderen Charakter verbergen. Ein ganz anderes Verständnis von
Person. Aber verbindet man das alte und das moderne Verständnis von
„Person“, wird der Sinn noch klarer. „Ohne Ansehen der Person“ – das heisst:
Schau‘ hinter die Maske in das wahre Gesicht, aber achte das Besondere, das
Geheimnis dieses Menschen, seine/ihre Würde, lerne das Gesicht eines
Menschen mit seinen schönen und hässlichen Zügen aushalten,
vielleicht sogar lieben. Sich also von keiner Maske blenden lassen, ebenso
wenig anderen die Maske vom Gesicht reißen, um sie bloßzustellen.
Auch freiwillige Selbstentblößung – wie in „Big Brother“ – hat hier
keinen Platz.

Die menschliche Würde, sagt Immanuel Kant,
ist der Wert, der keinen Preis kennt. Und das hat mit dem christlichen Glauben
zu tun: Gott ist für alle Menschen da. Sie alle sind Gottes
Geschöpfe. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Das ist spätestens
klar geworden, als Jesus Christus am Kreuz sein Leben hingab. Er starb nicht
gegen irgendjemanden, sondern für uns alle.

„Frei von allem Ansehen der Person“. Dieser
Grundsatz gehört zu den Grundfesten unserer Kultur, vor allem unserer
Rechtskultur: Urteile sind nur ohne Ansehen der Person zu fällen. Was
eine/r wirklich getan hat, das allein ist ausschlaggebend. Alles andere
interessiert nicht, wenn Recht wirklich Recht sein soll. Unsere Kultur speist
sich aus mancherlei Strömungen. Aus biblischer, jüdisch-christlicher
Quelle aber entspringt ein unverwechselbarer, unversiegbarer Strom, der
unaufhaltsam fließt: „…frei von allem Ansehen der Person“. Weil der
Mensch ein gutes Ansehen bei Gott immer schon hat. Er muss es sich nicht erst
erwerben. In der Taufe kommt zum Ausdruck, dass ihm Würde, Freiheit und
Sinn unverlierbar und unteilbar geschenkt sind. Begreifen wir als Kirche,
welchen kulturellen Schatz wir pflegen im Sakrament der Taufe? Begreift unsere
Gesellschaft, woher dieses Herzstück unseres sozialen Lebens kommt:
„…frei von allem Ansehen der Person“?! Nicht wegzudenken aus unserem
gesellschaftlichen Leben – und nicht auszudenken, wenn man diesen Grundsatz
wegdenkt.

Aber muss man denn dauernd wiederholen, was
eigentlich allen klar ist, worauf alle wert legen – zumindest, wenn es um sie
selbst geht, wie sie behandelt werden möchten? Auch wenn wir’s
schon oft gehört haben: Was da im Jakobus-Brief steht, ist unverzichtbar
und muss immer wieder gesagt werden. Es ist ja auch in bitterer Erfahrung
abgerungen. Denn das kann ich mir gut vorstellen, was da beschrieben ist: Kommt
eine/r, stattlich und hochmögend, und wird an einen hervorgehobenen Platz
gesetzt. Nun, auch in der christlichen Gemeinde gibt es VIP’s. Die sollen
anständig, angemessen behandelt werden. Wenn unsere Bischöfin kommt,
lasse ich sie nicht in der hintersten Ecke sitzen. Und Gleichheit ist nicht
Gleichmacherei. Aber Werturteile soll ich damit nicht verbinden. Das wäre
ein Urteil „mit bösen Gedanken“ (Vers 4)!

Mich hat einmal ein Mensch tief beeindruckt,
dessen scharfen Verstand und glasklares Urteil ich richtig gefürchtet
habe. Aber als er, der sich wegen einer Krankheit kaum noch bücken konnte,
meine Kinder auf der Straße begrüßte, ging er so in die Knie,
dass er ihnen in die Augen sehen konnte. Auf Augenhöhe miteinander sein,
darauf kommt es an. Seit dieser Begebenheit habe ich diesen Mann mit anderen
Augen gesehen. Denn ich hatte mein Urteil über diesen so klar Urteilenden
schon fertig – und hatte mich in meinem Urteil, er sei ein harter,
unzugänglicher Mann, schon über ihn erhoben.

Es geht also nicht nur um das äußere
Ansehen, wie es der Jakobus-Brief beschreibt. Es geht um subtile, kaum merkbare
innere Regungen. Es geht auch um einen Blick in das Innere unseres kirchlichen
Lebens. Der Verfasser des Jakobus-Briefes – vielleicht war er ein
kenntnisreicher, erfahrener Kirchenvorsteher (Presbyter)? – wagt diesen Blick.
Ich ertappe mich immer wieder, dass ich diejenigen, die besonders viel in der
Gemeinde tun oder geben, in den Vordergrund schiebe. Sie verdienen es auch,
wenn andere dadurch nicht abgewertet werden. Aber ich – ich übersehe
möglicherweise die anderen, die einen stillen Dienst leisten.

Die christliche Gemeinde als
Bewährungsfeld für einen Umgang miteinander, in der jede „Person“
wirklich eine Rolle spielt, wirklich gleichgeachtet wird, gerade weil es zugeht
„frei von allem Ansehen der Person“! Es ist keineswegs immer so. Aber es kann
immer wieder so werden, wenn wir uns an Jesus Christus orientieren.

Was gehört neben die Bibel? Die Zeitung.
Ich lese den Satz, der Glaube sei freizuhalten „von allem Ansehen der Person“.
Und wenig später lese ich in meiner Tageszeitung (Hannoversche Allgemeine
Zeitung vom 14.10.2000, Seite 1), dass sich Deutschlands Datenschützer
für das „Recht auf Nichtwissen“ als unverzichtbaren Teil des „Grundrechts
auf informationelle Selbstbestimmung“ ausgesprochen haben. Worum geht es
konkret? Neuerdings verlangten britische Versicherungen, so wird berichtet, von
einem neuen Kunden immer häufiger einen Gentest, bevor sie bereit seien,
mit ihm eine neue Lebens- und Krankenversicherung abzuschließen. Die
Datenschützer verschließen sich nicht gegen
versicherungs-ökonomische Argumente. Aber sie halten es für
inakzeptabel, wie die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte
Bettina Sokol zitiert wird, „dass man sich mit Hilfe eines Gentests als
höherwertiger Mensch präsentieren kann“. Sie warnt davor, dass sich
Arbeitsplatzsuchende mit Hilfe eines Gentests Vorteile gegenüber
Mitbewerbern verschaffen. Und Arbeitgebern, so die Datenschützer, sei zu
untersagen, bei Stellenbesetzungen einen Gentest zu verlangen. Machen die, wenn
man es überhaupt so sagen darf, „besseren“ und „schlechteren“ Gene
„bessere“ oder „schlechtere“ Menschen? Da tut sich also ein hochaktuelles,
hochbrisantes Konfliktfeld auf!

„Frei von allem Ansehen der Person…“. Auch
ich kann versicherungs-ökonomische Argumente nachvollziehen. Aber wenn ich
ernst nehme, was da im Jakobus-Brief steht, kann ich die deutschen
Datenschützer nur unterstützen. Der Mensch ist verantwortlich
für das, was er aus sich macht. Billige Entschuldigungen sind keine Sache
des christlichen Glaubens. Aber können wir verantwortlich gemacht werden
für das, was uns mitgegeben ist von Anfang an, für unsere genetische
Grundausstattung, auf die wir nun wirklich keinen Einfluss haben, die wir aus
Gottes Hand empfangen? Was zu einem guten Teil unsere Unterschiede
begründet, begründet in keiner – aber auch in gar keiner – Weise
einen Unterschied in Würde und Wert.

Wenn wir nun weiterlesen im 2. Kapitel des
Jakobus-Briefes, dann scheint sich der Verfasser selbst zu widersprechen. Da
werden „die Reichen“ als Leute bezeichnet, „die Gewalt gegen euch üben und
euch vor Gericht ziehen“, – und „die Armen“ werden ganz nahe herangerückt
an das Reich Gottes. Wie ist das zu verstehen?

Die Gratwanderung, die der Verfasser des
Jakobus-Briefs da vollzieht, zeigt an, wie schwierig es unter uns Menschen,
auch unter Christinnen und Christen ist, hier die Balance zu halten. Es
fällt uns einfach schwer, richtig zu urteilen und dabei das Gleichgewicht,
die Augenhöhe zu wahren. Darum wird die Gemeinde daran erinnert, wie sehr
sie selbst, als „Arme“, die alles nur von Gott empfangen können, beschenkt
ist mit der Nähe Gottes. Und jetzt weiß sie wieder: Die Nähe
Gottes in Jesus Christus achtet das Ureigene, Besondere eines jeden Menschen,
sie lässt die Unterschiede als Reichtum erkennen, aber sie macht
Vorrangstellungen überflüssig. „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst“. So wird hier Jesus zitiert. „Wie dich selbst“ heißt dann: „er
ist wie du“, im Glauben gleichen Ranges und Standes. Denn heiliger als durch
die Taufe werden wir nicht. Sie bringt uns im Verhältnis zu uns selbst und
zu den Menschen, die mit uns sind, ins Gleichgewicht.

Doch wie schnell wird unter Menschen dieses
Gleichgewicht gestört?! Der Verfasser des Jakobus-Briefs orientiert sich
an Jesus, der, ohne „die Reichen“ abzuwerten, sich „den Armen“, den
Unbeachteten und Ungeachteten, besonders zuwandte, sie aus dem Schatten ins
Licht holte. So stellte er das Gleichgewicht wieder her, das unter Menschen, im
Alltag und harten Gedränge des Lebens, schnell verloren gehen kann. Wenn
das geschieht, dann sind Christenleute verpflichtet, wieder für
Gleichgewicht und Augenhöhe zu sorgen.

Mit großem Erschrecken, mit tiefer
Beschämung erleben wir in diesen Tagen, wie die Würde von Menschen
wieder einmal mit Füssen getreten wird: die abscheulichen Angriffe und
Übergriffe auf jüdische Friedhöfe und Synagogen in unserem Land.
Ich dachte, das könnte nach der organisierten Unmenschlichkeit des
Nazi-Systems nicht mehr vorkommen. Aber es hört und hört nicht auf!
Es muss aufhören, dass unsere deutschen Mitbürger/innen
jüdischen Glaubens so verletzt werden! Wir verstehen den Jakobus-Brief
richtig, wenn wir uns auf- und herausfordern lassen, allen derartigen
Übergriffen Einhalt zu gebieten!

Zum Schluss werden in diesem Abschnitt des
Jakobus-Briefes einige der „Zehn Gebote“ zitiert. Sie gelten alle gemeinsam und
in gleicher Weise. Kein Gebot ist wichtiger als das andere. Ich kann mir nicht
das eine herausgreifen, das mir gerade gefällt, und das andere
vernachlässigen. Und diese Gebote stellen das „Gesetz der Freiheit“ dar.
„Gesetz der Freiheit“? Passt das denn zusammen: die Freiheit und das Gesetz?
Engt nicht jedes Gesetz die Freiheit ein?

Nur auf den ersten Blick! Die Gebote sind ein
Beispiel dafür, dass ich meine eigene Freiheit verliere, wenn ich die
Freiheit der anderen missachte. Jeder Übergriff auf die Rechte anderer
zieht meiner eigenen Freiheit und Sicherheit den Boden unter den Füssen
weg. Denn dadurch kommt das Gleichgewicht aus dem Lot, gehen
Verlässlichkeit und Vertrauen verloren. Mir wird es am deutlichsten, wenn
die Liebe zur Wahrheit verletzt, wenn „falsch Zeugnis“ gegeben wird. Welcher
Schaden ist entstanden, als in den letzten Wochen Uli Hoeness über
Christoph Daum herzog – und alles auf einer unwahren, sensationslüsternen
Pressemeldung beruhte?! Der Jakobus-Brief drückt das – im
übertragenen Sinn – so aus: Wo ich es an Barmherzigkeit fehlen lasse, an
Herz und Einsicht für die Sache des anderen Menschen, ist „ein
unbarmherziges Gericht“ die Folge, fehlt es also auch an Herz und Einsicht
für meine Sache.

Im Grunde weiß das jede/r. Es ist
schließlich eine Sache der Erfahrung und der vernünftigen Einsicht.
Aber sie muss immer wieder erkannt und auch eingeschärft werden. Zur
Freiheit gehört Gewissensbildung und Gewissensbindung.

„Frei von allem Ansehen der Person“. Jesus
Christus ist noch einen Schritt weitergegangen: Er hat von seiner eigenen
Person abgesehen, hat sein eigenes Leben hingegeben. Damit wir in gutem Ansehen
bei Gott stehen. Damit wir andere so ansehen und annehmen, wie es ihnen als
Menschen Gottes zukommt – jenseits ihrer Masken, ihres äußeren
Gehabes, sie weder größer noch geringer machend als sie sind, umso
mehr das Geheimnis ihres eigenen, besonderen Lebens achtend. Dieses Geheimnis
steht bei Gott.

Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev.
Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax: 0511 –
52 75 99
E-Mail:
Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

Anmerkung: Es ist zu überlegen, ob
der ganze Text vorgelesen werden soll. In zwei vorgezogenen, allerdings nur
nach Stichworten gehaltenen Predigten – am 15.10.2000 in der Ev.-luth.
Marienkapelle Hannover-Wülferode und in der Ev.-luth. St. Johanniskirche
Hannover-Bemerode (mit vier Taufen im Gottesdienst: Kinder im Alter von 10, 8,
3 und 1) – habe ich ihn einmal bis Vers 9 und einmal nur bis Vers 4 vorgelesen
und die jeweils fehlenden Verse dem Inhalt nach ergänzt („Gesetz der
Freiheit“). Die Verse 10 bis 13 sind zwar dem Sinn nach klar, beim Hören
verwirren sie aber zunächst doch und erschweren den Zugang, während
Vers 8 und 9 noch Anklänge an das Evangelium Markus 12,28-34 hat. Der
gedankliche Schlüssel zu diesem Text, der in der heutigen Situation
homiletisch genutzt werden kann, liegt m. E. schon in Vers 1: „…frei von
allem Ansehen der Person“. Durch diesen Ansatz- und Schwerpunkt verschieben
sich aber die Gewichte in der Predigt zugunsten des ersten Teils.


de_DEDeutsch