Jakobus 5,13-16

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Jakobus 5,13-16

Beten Sie? | 19. So.n.Trinitatis | 15.10.23 | Jakobus 5,13-16 | Verena Salvisberg |

Beten Sie? Am Abend, vor dem Essen, in Not, aus Dankbarkeit, im Gottesdienst… Beten Sie?

Liebe Gemeinde

Genau das legen uns die Worte des Jakobusbriefs ans Herz: Beten. Beten in allen Lebenslagen.

Das ist tätiger Glaube. Lebendiger Glaube.

Leidet jemand, der bete. Ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen, ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.

Wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung, das Leiden, Schmerzen an Körper und Seele, diese Zeiten gibt es im Leben. Und auch die anderen Tage, an denen wir fröhlich sind, gut aufgelegt. Und es gibt Krankheiten, akute und chronische. Schnupfen und lebensbedrohliche Infekte.

Beten in allen Lebenslagen. So die Empfehlung.

Gerichtet sind diese Worte aber nicht nur an einen Einzelnen, eine Einzelne, sondern an eine Gemeinschaft, in der es immer solche gibt, die frohen Mutes sind. Und Gequälte. Leidende. Kranke.

Die Empfehlung oder das Gebot zu beten richtet sich an diese Gemeinschaft. Füreinander beten. Mir kommt das vor wie eine Beschreibung der glaubenden Gemeinde. So zeigt sich das, in diesem Miteinander von Leiden, Jubeln und Krankheit. In diesem Füreinander in Leiden, Jubeln und Krankheit.

Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.

Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.

Wem fiele da nicht das Sakrament der Krankensalbung ein? Beten, salben mit Öl, Sünden vergeben. Und die Institution, die meint, dieses Sakrament verwalten zu können. Die Kirche, die meint, Vorschriften erlassen zu können, wer es spenden darf und wer nicht. Was für ein Missverständnis!

Nein, wer sich rufen lässt ans Krankenbett, weiss, dass es keine Legitimation von aussen braucht.

Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen.

Das Gebet hat grosse Macht,
das ein Mensch verrichtet mit seiner ganzen Kraft.
Es macht ein bitteres Herz süss,
ein trauriges Herz froh,
ein armes Herz reich,
ein törichtes Herz weise,
ein zaghaftes Herz kühn,
ein schwaches Herz stark,
ein blindes Herz sehend,
eine kalte Seele brennend.
Es zieht den grossen Gott in ein kleines Herz und
treibt die hungrige Seele hinauf zu dem Gott der Fülle.

So die mittelalterliche Mystikerin Mechthild von Magdeburg[1]

Das Gebet hat grosse Macht.

Man könnte meinen als Pfarrerin lerne man das im Studium oder spätestens im Vikariat. Wie beten geht. Wie man das richtig macht.

Bei mir waren es zwei Frauen aus der Gemeinde. Die haben mich beten gelehrt.

Die eine, Olga, war ziemlich betagt. Sie besuchte alle Anlässe, die unsere Kirchgemeinde für Senior/innen anbot. Zusammen mit ihrem Mann nahm sie am sonntäglichen Gottesdienst teil. Zur goldenen Hochzeit hatten sie ihre Söhne, die Tochter und die Enkelkinder zu einer Segensfeier in der Kirche eingeladen. Voll Freude und Dankbarkeit nahm das Ehepaar nach fünfzig Jahren noch einmal Platz auf den Traustühlen. Wir stimmten ein in ihre Lieblingschoräle. Nun danket alle Gott. Lobe den Herrn. Wer nur den lieben Gott lässt walten.

Danach erzählte Olga immer wieder von diesem Tag. Nicht lange darauf erkrankte sie schwer. Ihre Schmerzen am ganzen Körper fesselten sie ans Bett. Sie konnte nicht mehr aufsitzen, nicht mehr stehen und gehen, nur liegen. Es gab keinen schmerzfreien Tag mehr in ihrem Leben.

«Sprechen kann ich noch», sagte sie, als ich sie besuchte. Und dann erzählte sie von diesem schönen Tag des Hochzeitsjubiläums. Bei jedem Besuch erzählte sie mir davon. Ihre Augen leuchteten.

«Und beten kann ich noch». Das gebe ihr Kraft. Und helfe, die Schmerzen zu ertragen.

Also beteten wir. Zusammen und abwechslungsweise. Psalmen und spontane Gebete. Das Unser Vater. Immer wieder. Und ich lernte, dass beten nicht machen heisst, sondern hören. Ich lernte, dass es nicht wichtig war, die treffenden Worte zu finden. Zusammen begaben wir uns in diesen Raum des Betens. Ich für sie? Sie für mich?

Das Gebet hat grosse Macht…
Es zieht den grossen Gott in ein kleines Herz und
treibt die hungrige Seele hinauf zu dem Gott der Fülle.

Solches habe ich von Olga gelernt.

Barbara, meine andere Lehrmeisterin in Sachen Gebet, war eine freiwillige Mitarbeiterin in der Frühlingsferienwoche für Kinder und beim alljährlichen Krippenspiel. Sie hatte selber zwei liebenswürdige Buben, die Jahr für Jahr dabei waren, zuerst begleiteten sie ihre Mutter, dann nahmen sie selber am Programm teil und später engagierten sie sich als Hilfsleiter. Wir kannten uns gut. Barbara vertraute mir oft ihre Sorgen und Nöte an, ihre Angst um die Jungs. Ob sie es wohl schafften in der Schule. Ob sie eine Lehrstelle finden. Ob sie sich würden behaupten können im Leben.

Eines Tages kam der Anruf. «Du musst kommen». Es stellte sich heraus, dass Barbaras Ungeschicklichkeit, die sie seit einigen Wochen plagte, eine schlimme Ursache hatte: ALS. Amyotrophe Lateralsklerose. Eine unheilbare Krankheit, die binnen weniger Jahre, so die Prognose, zum Tod führen würde. Und so war es dann auch. Nach zwei Jahren starb sie, die besorgte Mutter, die gleichaltrige Freundin.

«Du musst kommen!», hatte sie am Telefon gesagt. Sie wollte, dass ich für sie betete. Sie hoffte auf ein Wunder. Sie glaubte an die Kraft des Gebets. Sie klammerte sich an die Heilungsgeschichten der Bibel und Berichte von heutigen Wunderheilern.

War es da meine Aufgabe, meine Bedenken zu formulieren? Sie zu enttäuschen? Sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen? Ich konnte das nicht. Ihre Sehnsucht, ihr Wunsch, ihre Hoffnung auf Heilung haben mich berührt.

Und so habe ich sie begleitet. In charismatische Heilungsgottesdienste. In die offene Kirche zum Handauflegen. An eine Veranstaltung eines Wunderheilers. Oft war das gar nicht einfach. Mit der Zeit konnte sie nicht mehr gehen. Nicht mehr trinken. Die Hände nicht mehr bewegen. Auf oft abenteuerliche Weise gelangten wir zu diesen Orten und Veranstaltungen, von denen sie sich alles versprach. Manchmal war es auch lustig, wenn wir den hindernisfreien Eingang einer Kirche nicht fanden oder wenn sich einer ihrer Buben auf ihren Schoss setzte und sie im Rollstuhl herumkurvte. Ja, es gab trotz allem auch viel zu lachen.

Eines blieb die ganze Zeit: Ihre wild entschlossene Hoffnung auf das Wunder. Ihr beharrliches Gebet.

Und als sie den Kampf gegen die Krankheit verloren hatte, öffneten wir den Brief, den sie für uns geschrieben hatte, und ich las und verstand erst jetzt. Menschen werden nicht immer so gesund, wie sie sich das wünschen. Trotzdem passiert etwas. Das Gebet ist der Anfang des Wegs zur Heilung. Vielleicht anders als wir uns das vorstellen. Wenn ich mir erlaube, krank zu sein. Wenn ich meine Wunden zeigen darf und meine Sehnsucht leben.

Barbara schrieb in ihrem Abschiedsbrief von ihrer grossen Dankbarkeit für das Leben, das sie haben durfte. Für ihren Partner, ihre Buben, ihre Freundinnen. Die Sorge um ihre Lieben hatte sie abgelegt. «Und jetzt geht es ohne mich – und es geht», schrieb sie, und «danke all denen, die mit mir zusammen an die Kraft des Gebets geglaubt haben und glauben».

Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.

Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Von Barbara und von Olga habe ich viel gelernt von dieser Kraft. Da waren nicht nur die Worte, sondern Taten, Reisen, Berührungen, Hände auflegen, salben, lachen und weinen, singen und verstummen.

Die Krankheit macht einsam. Durch ihre Bitte, für sie zu beten, überwanden die beiden Frauen die Isolation, traten in Beziehung zu ihren Glaubensgeschwistern und zu Gott.

Das Gebet hat grosse Macht,
das ein Mensch verrichtet mit seiner ganzen Kraft.
Es macht ein bitteres Herz süss,
ein trauriges Herz froh,
ein armes Herz reich,
ein törichtes Herz weise,
ein zaghaftes Herz kühn,
ein schwaches Herz stark,
ein blindes Herz sehend,
eine kalte Seele brennend.
Es zieht den grossen Gott in ein kleines Herz und
treibt die hungrige Seele hinauf zu dem Gott der Fülle.

Und Sie? Beten Sie!

Amen

Pfrn. Verena Salvisberg

Merligen

verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Regionalpfarrerin seit 2023, vorher Gemeindepfarrerin in Laufenburg und Frick und Roggwil BE

[1] M.v.M. Offenbarungen, Buch V, Abschn. 13. Hier zitiert nach: Friedrich Heiler. Das Gebet: Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. Ernst Reinhardt Verlag, München 1921 (3. Aufl., 1. Aufl. 1919), S. VI, digitalisierte Ausgabe im Internet Archive

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