Jesaja 12, 1-6

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Jesaja 12, 1-6

Nachspielzeit der Gnade | 14.Sonntag nach Trinitatis | 18.09.2022 | Jes 12,1-6 | Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den 14.Sonntag nach Trinitatis steht Jes 12,1-6:

„Zu der Zeit wirst du sagen:

Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich.

Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest.

Siehe, Gott ist mein Heil,

ich bin sicher und fürchte mich nicht;

denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.

Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen

aus den Brunnen des Heils.

Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen!

Machet kund unter den Völkern sein Tun,

verkündiget, wie sein Name so hoch ist!

Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen.

Solches sei kund in allen Landen!

Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion;

denn der Heilige Israels ist groß bei dir!“

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Der Prophet Jesaja, stets besonnen und barmherzig gestimmt, hätte sich wohl gefühlt unter den Abiturienten und Studierenden, die jeden Freitag in den Fußgängerzonen für eine radikal andere Umweltpolitik auf dem gefährdeten blauen Planeten demonstrieren. Die skandierten Parolen hätte er sorgfältig gelauscht. Über den skurrilen Humor auf den Plakaten hätte er geschmunzelt:

Rettet die Welt, es ist die einzige mit Bier!

Oder: Es gibt keinen Planeten B.

Oder: Macht ihr eure Hausaufgaben, dann machen wir unsere.

Die Schüler machen sich selbst zu Lehrern, sie verteilen Verhaltensnoten und Zusatzaufgaben für Politiker und Manager, weil die Jüngeren sich sehr zu Recht um die Zukunft sorgen.

Viele Entwicklungen der Gegenwart schießen wie von selbst in eine düstere, katastrophische Zukunft. Zukunftswerkstätten analysieren erschreckende Megatrends: einen Anstieg der globaler Erwärmung um mehrere Grad; heiße Sommer, die den Kreislauf alter Menschen überlasten und die Gefahr von Hautkrebs steigern; heftige Gewitter und Starkregenereignisse mit Überschwemmungen, die niemand für möglich gehalten hätte; lange Trockenheit im Süden, die weitere Fluchtbewegungen auslöst. Dazu kommen Bevölkerungswachstum, Trinkwasser- und Energiemangel und nach dem Coronavirus wahrscheinlich weitere Epidemien mit noch unbekannten Virusvarianten.

Sorge um die Zukunft ist zum Gegenstand harter politischer Auseinandersetzungen geworden. Die Konfliktlinien schlängeln sich entlang der Generationen, auch wenn viele Großmütter und -väter längst die Partei der empörten Enkel ergriffen haben und mit ihren Rollatoren bei den Demos mitmarschieren.

Jesaja, der ein brillanter theologischer Zukunftsdenker war, hätte sich für den ökologischen und politischen Streit um die Zukunft brennend interessiert, auch für die Szenarien, welche die Wissenschaft hochgerechnet und veröffentlicht hat. Wenn Staaten und Gesellschaften weitermachen wie bisher, dann wird in fünfzig oder hundert Jahren eine Katastrophe ausbrechen. Wenn die Politiker ein wenig ändern würden, dann könnte sich alles um zwanzig Jahre verschieben. Wenn sie jetzt radikal umsteuern würden, dann gäbe es vielleicht noch eine kleine Chance…

Jesaja hätte gestaunt über die vielen Möglichkeiten, über die Zukunft politisch zu streiten und sie wissenschaftlich vorherzusagen. Dabei gehörte er zu denen, die die ungeheuren Zeitdimensionen von Zukunft und Vergangenheit des Universums, vom Urknall bis zur ungeheuren Ausdehnung des Kosmos ins Unvorstellbare, noch gar nicht kannten. Für Jesaja, dem weder Geschichtsschreibung noch Zukunftsforschung zur Verfügung standen, bewegte sich die eigene Zeit in Alltagsdimensionen: Vermutlich kannte er seine Großeltern, vielleicht seine Urgroßmutter; vermutlich wurde er so alt, daß er seine Enkel noch kennen lernte. Dahinter dehnte sich für Jesaja eine Leere aus, die sich der Vorhersage, ja der Versprachlichung entzog.

Die meisten Menschen, egal ob sie zur Zeit Jesajas oder im modernen Kohlenstoffzeitalter leben, haben ein Bedürfnis, sich vertrauensvoll und sicher im Leben einzurichten und böse Zufälle weitgehend auszuschalten. Jesaja gehörte zu den ersten Propheten, die zwei aufregende Entdeckungen machten. Zum einen sah er, daß Gegenwart und Zukunft miteinander verschränkt sind. Die Schrecken der Gegenwart, für Jesaja Schrecken des Krieges, der Eroberung, des Gebietsverlustes, können sich in die Zukunft fortsetzen. Oder sie können in der Zukunft aufgehoben werden zu einem staunenswerten Friedensreich. Was sich in der Gegenwart noch als großer Konflikt darstellt, das kann in der Zukunft aufgelöst werden. Und er sah zweitens, daß das, was ich gerade neutral Zufall genannt habe, auch von dem Gott bestimmt ist, von dem Gott, der diese Welt geschaffen und Israel aus Ägypten in seine neue Heimat geführt hat. Und Jesaja sah schon: Es gibt nur eine Schöpfung, es wird keine Schöpfung B geben. Und das führte ihn zu neuen Glaubensgedanken über die Zukunft.  Menschen können die Zukunft nur sehr unvollkommen berechnen. Das ist allein Gott vorbehalten. Aber Menschen spielen sich im Glauben auf Gottes Pläne ein.

Liebe Schwestern und Brüder, ich sehe Jesaja als eine Art Trendscout des Glaubens. Seine erfahrungs- und hoffnungsgesättigte Zukunftsforschung beruht auf mehreren Glaubenseinsichten:

Der Prophet wollte eine theologische Alternative bieten zu allen Formen der Zukunftsvorhersage, die es sich zu einfach machen. Was er über die Zukunft sagte, das enthielt nichts von der Scharlatanerie der Vogelflugdeuter, der Astrologen und vor allem nicht der Verschwörungstheoretiker und neuerdings so genannten Querdenker. Die Bibel kennt zwar Unheilspropheten, aber wer das Unheil zu einem bestimmten eigensüchtigen Zweck verkündet, der entlarvt sich allzu schnell als falscher Prophet, der Umstände, Situation und Phänomene nur für seine eigenen Zwecke ausbeutet. Mit dem Gott der Bibel hat das alles nichts zu tun. Und dennoch bleibt jeder Glaubende vor die Aufgabe gestellt, zwischen wahrer glaubwürdiger und falscher Prophetie zu unterscheiden. All diese Arten von falscher Vorhersage entlarven sich als Humbug. Sie machen es sich zu einfach. Jesaja dagegen bringt die politischen Verhältnisse und Gottes Willen zusammen; er respektiert die Offenheit der Zukunft, redet nicht von Ereignissen, die mit Sicherheit eintreten. Jesajas Prophetie ist zu unterscheiden von Besserwisserei.

Die politische Dimension von Jesajas Prophetie darf nicht unterschätzt werden. Er spricht in seinen Worten nicht von Einzelschicksalen, sondern vom Ergehen des Volkes Israel. Zukunft ist keine individuelle, sondern eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit. Wer die politische Lage verbessern will, muß über Reformen und Zukunftsprogramme reden, er darf sich nicht auf das Tun der einzelnen beschränken. Damit rückt Jesaja in große Nähe der Schülerdemonstranten. Sie eröffnen eine Perspektive, die über die Generationen von Urgroßmüttern zu Urenkeln hinausreicht – mit guten Gründen. Jesaja redet über die Politik Israels, über Könige und die Hauptstadt Jerusalem, über Nord- und Südreich. Diese Politik ist bezogen auf den Gott, der die Welt geschaffen hat und der sie erlösen will, das Volk Israel, aber auch auf die übrigen, größeren und mächtigeren Völker, die nach Jesaja  einmal zum Berg Zion ziehen werden, um ihn gemeinsam zu loben und zu preisen. Es wird regiert, pflegte der große Schweizer Theologe Karl Barth zu sagen, und dieses Wort gilt auch heute im Angesicht aller, die kriegerische „Spezialoperationen“ wieder als Mittel der Politik einsetzen.

Jesaja scheut sich nicht, von Gottes Zorn zu sprechen. Bis heute ist diese Rede vom Zorn Gottes verpönt. Die Theologen haben sich angewöhnt, den sogenannten Tun-Ergehens-Zusammenhang scharf zu kritisieren. Alles Negative, eine Krankheit oder ein Unfall, wird dann als eine Konsequenz einer vorher begangenen Schuld gesehen. Moralisierend wird dieser Zusammenhang nur auf einzelne Menschen bezogen. Bei Jesaja aber ist etwas anderes gemeint. Zorn ist nicht der Ausdruck für ein direktes theologisches Handlungsprogramm Gottes. Mit seinem Zorn verfolgt Jesaja nicht die Zwecke schwarzer Pädagogik, keine göttliche Erziehung mit dem Rohrstock. Zorn ist zuerst ein Gefühl. Und auch Gott muß Gefühle haben können. Die Menschen geben Gott genügend Anlaß, sich zu ärgern, ohne daß man alles Böse auf den Zorn Gottes zurückführt. Im übrigen: Wenn Gott Geschichte, Politik und einzelnes Leben vorherbestimmen würde, dann wäre es für Gott gar nicht nötig, zornig zu werden, denn dann hätte er auch alles Schlechte vorherbestimmt. Jesaja gibt sich große Mühe, die Offenheit der Zukunft nicht einfach zu überspielen. Eine bestimmte Politik kann diese oder jene Folgen haben. Gott ärgert sich oder er ärgert sich nicht. Und – siehe der nächste Punkt, der gleich folgt – Gott bleibt nicht zornig. Sein Zorn geht auch wieder vorüber.

Gottes Trendscout Jesaja hat mit dem Predigttext kein Zukunftsszenario skizziert, sondern ein Gebet geschrieben. Er beschreibt die Zukunft des Volkes Israel nicht auf dem Wege einer Abschätzung der Folgen falscher Politik, sondern auf dem Weg eines Dialogs zwischen den Menschen und Gott. Im Gebet, und nur im Gebet, kann Jesaja sagen: Die Zukunft Israels und der Welt liegt in Gottes Hand, und die Menschen haben jeden Grund, ihm für diese Zukunft dankbar zu sein. Eigentlich ist es gar nicht möglich, über ein biblisches Gebet zu predigen. Viel besser wäre es, in die alten Worte der Dankbarkeit Jesajas mit einzustimmen. Die Predigt kann hier nur den einen Zweck erfüllen, sich auf das Beten zu besinnen und dazu hinzuleiten.

Jesaja stilisiert sich nicht zum Unheilspropheten. Er ist kein Apokalyptiker, kein Unheilsprophet und kein Schwarzmaler. Mit dem Gebet will er ausdrücken, daß Gottes Heilszusage einmal über alles Böse und Schreckliche triumphieren wird. Zum einen wird damit gesagt: Gottes Zorn ist nur ein Teil von Gottes Gefühlen. Keines dieser Gefühle, schon gar nicht sein Zorn darf verabsolutiert werden. Das Gebet Jesajas stimmt ein in die Zuversicht auf die Verheißungen Gottes. Am Ende der Zeiten soll diese Welt erlöst werden. Niemand sollte sich dadurch versucht fühlen, die Hände in den Schoß zu legen und sich nicht mehr um Politik, Ökologie und eine bewohnbare Erde zu kümmern. Das Gebet Jesajas führt tröstend zurück in die Gewißheit, daß Gott mit der Welt, die er geschaffen hat, gute Pläne verfolgt. Was sich Menschen im Gebet zu eigen machen, wird auch, da bin ich ganz sicher, irgendwann Auswirkungen auf ihr politisches und ökologisches Handeln haben.

Jesajas Gebet ersetzt nicht die Politik, aber es gibt ihr ein Fundament aus Geborgenheit. Unter dem Handeln der Menschen, dem politischen, sozialen und individuellen, liegt eine Gewißheit. Diese Gewißheit ist davon bestimmt, daß wir in der Zukunft auf nichts anderes als die Erfüllung von Gottes Verheißungen treffen. Wegen dieser Verheißungen kann man sagen und beten: Gottes Gnade und Barmherzigkeit werden in die Zukunft verlängert. Amen.

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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