Jesaja 12, 1-6

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Jesaja 12, 1-6

14. Sonntag nach Trinitatis | 18.09.2022 | Jes 12, 1-6 | Gert-Axel Reuß |

Vorbemerkung: Lesung des Predigttextes im Rahmen der Predigt.

Liebe Gemeinde,

 

„Zuversicht könnten wir brauchen, Gott.

Und Stärke, die aus der Liebe wächst.“

– so lautet der Anfang eines Gebets, das mir seit einem halben Jahr nicht mehr aus dem Kopf geht.[1]

 

Gebannt verfolge ich wie viele andere die Nachrichten aus der Ukraine in einer seltsamen Mischung von Gefühlen, die getrieben sind von einer Sehnsucht nach einem „Früher“, welches in Wahrheit eine allenfalls graduell bessere Welt abbildet. Die schrecklichen Nachrichten von Krieg und Gewalt haben mich eben nicht so schockiert, wie sie es in den zurückliegenden Monaten getan haben.

 

„Zuversicht könnten wir brauchen, Gott.

Und Stärke, die aus der Liebe wächst.“

 

Der Zweckoptimismus des ukrainischen Präsidenten geht mir dabei gehörig auf die Nerven. Zugleich fordert er mich heraus. Und zwar viel umfassender, nicht beschränkt auf das Beten für den Frieden. Könnte in der krisenhaften Zuspitzung unseres Alltags, könnte in der Sorge der Menschen um materielle Sicherheit und die eigene Gesundheit nicht auch eine Chance liegen – nein: eine Aufgabe?!! Zunächst einmal nur für mich alleine, in meinem ganz persönlichen Glauben: Wie schaue ich auf diese Welt? Was ist die Grundmelodie meines Lebens? Welche Zukunft erwarte ich? Was hoffe ich? Und wofür will ich mich einsetzen, mein Engagement in die Waagschale werfen?

 

Ich denke dabei vor allem an eine Grundhaltung, die man früher schlicht „Gottvertrauen“ genannt hat. Oder – im Sinne Dietrich Bonhoeffers – „Optimismus“. Der hatte formuliert: „Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, … die die Zukunft … für sich in Anspruch nimmt.“[2]

 

In dieser Situation lese ich ein Gebet aus dem Buch des Propheten Jesaja, das in der Lutherbibel „Danklied der Erlösten“ überschrieben ist:

 

1 Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. 3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. 4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! 5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! 6 Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!

 

Liebe Gemeinde,

 

es klingt verrückt, denn dieses Gebet ist 2.500 Jahre alt. Hier spricht einer aus der Zukunft zu uns. Der Prophet ruft uns heraus aus unserer Gegenwart, heraus aus den Problemen unseres Alltags, heraus aus den Krisen unserer Zeit und lässt uns darauf zurückblicken. „Alles, was dich bedrückt und besorgt, ist überwunden.“ so ruft er uns zu. „Gottes Zorn ist verraucht. Mit Dankbarkeit werdet Ihr auf die Wende blicken, die Gott Eurem Leben gegeben hat.“

 

Es versteht sich von selbst, dass Jesaja[3] diese Lebenswende nicht individualistisch sondern universal versteht. Aus dem „Du“ wird ein „Ihr“: „Machet kund unter den Völkern sein (Gottes) Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist.“ (V. 4b)

 

Aber es schadet ganz und gar nicht – ja, vielleicht hilft es sogar – dass diese Lebens-Wende einen persönlichen Anfang hat. Ja, ich bin davon überzeugt, dass Glaube und Gottvertrauen auch von ganz wenigen ausgehen können und ansteckend wirken. Beispiele dafür gibt es genug. Wie wäre es, wenn wir solch ein Beispiel wären?

 

Zu den kostbaren Erfahrungen meines Berufes als Pastor gehört es, älteren Menschen zu begegnen, die dankbar auf ihr gelebtes Leben zurückblicken. „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade.“ Hat eine mir einmal mit auf den Weg gegeben mit Blick auf manche Brüche und auch auf enttäuschte Hoffnungen, von denen sie mir auch erzählt hatte. Könnte solche Dankbarkeit nicht auch bei uns angetroffen werden? Wie würde diese Welt aussehen, wenn wir absichtslos und ungewollt Dankbarkeit verströmen? Haben wir nicht schon heute allen Grund dazu?

 

Mehr, als dass wir lieben und hoffen, braucht es nicht. Wo Liebe und Hoffnung sind, verwandelt sich die Welt.

 

Ja, manchmal sind wir es, die dazu ‚verwandelt‘ werden müssen. Die herausgerufen werden müssen aus dem Trott unseres Alltags. Die durch den Propheten quasi in die Zukunft katapultiert werden, damit sich Perspektiven neu öffnen und sie jetzt wieder anfangen zu lieben und zu hoffen. Dadurch, dass sie das Träumen nicht verlernt haben (oder wieder neu gelernt haben), beginnen sie, ihr Leben anders zu gestalten: ‚erlöst, befreit‘[4].

 

„Was kommen wird, steht dahin. Nicht zweifelhaft aber ist, dass die Erde Menschen braucht, die über das Jetzt hinauszuschauen verstehen, die die Vergangenheit und ihre Geschichten nicht vergessen; denen die Zukunft und ihre Menschen nicht gleichgültig sind; die wahrnehmen, wo das Leben nicht ist, wie es sein soll, und die davon singen, wie Gott das Leben meint und will.“[5]

Liebe Gemeinde,

 

mehr, als dass wir heute lieben und hoffen, braucht es nicht. Wir werden es erleben – und erleben es doch schon jetzt – dass Liebe und Hoffnung diese Welt verwandeln. Wir erleben es zusammen mit den Geflüchteten aus der Ukraine, die zu uns gekommen sind, dass sie hier bei uns aufatmen und neue Kraft schöpfen. Wir erleben es in vielen Einrichtungen der Diakonie und in unseren Gemeinden, in Friedensgebeten und Kirchenkonzerten. Mendelssohn-Bartholdys „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“ (Psalm 91, 11) mag manchen etwas kitschig erscheinen. Die Kraft dieser Musik und des vertonten Wortes schafft – so empfinde ich es – einen Schutzraum für die Seele. Nicht, dass ich vor allem Unglück bewahrt werde, sondern dass ich in allem, was mir widerfahren mag, behütet bin – das ist seine Botschaft.

 

„Zuversicht könnten wir brauchen, Gott.

Und Stärke, die aus der Liebe wächst.“

 

Ja, liebe Gemeinde, die Klage braucht auch Zeit und Ort unter uns. Und Manches ist nur schwer auszuhalten, so beklagenswert ist es. Dass es vor Gott ausgesprochen werden kann, ist notwendig und hat tröstende Kraft – ja, es ist geradezu die Voraussetzung, damit Zuversicht neu aufblüht und wir wieder wahrnehmen können, dass Liebe stärker ist als der Tod. Aber so ist es doch!

 

Lasst uns Gott dafür danken, lasst es uns weitersagen. Lasst uns Botinnen und Boten der Hoffnung sein. Lasst uns nicht aufhören, von einer menschlichen Welt zu träumen und dazu beizutragen, dass diese Welt menschlicher wird.

 

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

[1] gefunden in: Friedensgebet zum 24.2.2022, Liturgische Bausteine, Ev. Kirche von Westfalen, online abgerufen am 12.09.2022

[2] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Gütersloh 1998, Seite 36, gekürzt – Wer mag kann auch ungekürzt zitieren. Das Zitat ist im Internet leicht aufzufinden.

[3] Ich gebe dem Propheten einen Namen, auch wenn die Exegese den Text als nach-exilisch identifiziert.

[4] Hanns Dieter Hüsch, Ich bin erlöst, vergnügt, befreit … – Das Gedicht eignet sich, im Rahmen der Begrüßung in diesem Gottesdienst vorgelesen zu werden.

[5] Ulrike Wagner-Rau; in: Volker Drehsen, Wilfried Engemann u.a. (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 2000/2001, Bd. V / 1,  Stuttgart 2000, S. 273

Ulrike Wagner-Rau schlägt in ihrem Beitrag außerdem vor, das Lied EG 99 „Christ ist erstanden“ zu singen – einem Vorschlag, dem ich mich gerne anschließe. Wir werden das im Abendmahlsgottesdienst im Ratzeburger Dom an der Stelle der Liturgie tun, wo sonst das Agnus dei steht.

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