Johannes 5,1-15

Johannes 5,1-15

14. Sonntag nach Trinitatis | 18.09.2022 | Joh 5,1-15 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Christiansen |

Da kommt ein Weg, wo kein Weg ist.

Wenn sich unsere Augen müde gestarrt haben auf den Weg in die Zukunft, an die wir geglaubt haben und die sich einfach nur für uns verschließt in Trauer oder Verlust oder weil das Leben plötzlich ganz anders wurde als wir gedacht hatten – wenn unsere eigene Hoffnung vergeblich ist, dann schafft Gott unerwartet einen neuen Weg. Einen Weg durch das hindurch, von dem wir niemals glaubten, dass wir das überstehen könnten.

Davon erzählt die Geschichte aus dem Alten Testament von den Israeliten, die gefangen waren zwischen Pharao und seinen Kriegern und dem Roten Meer und die keinen anderen Ausweg sahen als den zurück in die Knechtschaft in Ägypten. Plötzlich öffnete sich das Meer. Der unmögliche Weg wurde der Weg in die Zukunft.

Und so ist die Geschichte vom lahmen Mann am Teich Betesda, der 38 Jahre lang auf den einzigen Weg gestarrt hatte, von dem er träumen konnte. Dass er sich eines Tages selbst zum Mirakel der Heilung hinscheppen konnte. Aber das kann er nicht. Das geschieht nicht. Stattdessen geschieht etwas anderes. Der Weg kommt selbst zu ihm. Ein Mensch, der zu ihm spricht und ihn dazu bringt, sich zu erheben.  „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“

Die Erzählung von dem lahmen Mann können wir sowohl als Spiegel hören als auch als ein Licht. Als einen Spiegel in dem Sinne, dass es von uns selbst handelt, von unserem Leben – und als ein Licht in der Weise, dass es von Jesus handelt und was er bedeutet, nicht nur für jeden einzelnen von uns, sondern für die Welt und für die ganze Geschichte.

Wenn wir es als einen Spiegel hören, dann fällt es nicht schwer, sich in die Lage des lahmen Mannes zu versetzen. Ein Mann, der sich verzweifelt danach sehnt, wie andere Menschen zu werden und ein Leben zu bekommen. Deshalb liegt er da am Teich Betesda und richtet seine Augen mit starrem Blick auf das Wasser, das er nicht erreichen kann. D er Teich Betesda war eine Art Heilungszentrum mit besonders heilendem Wasser. Für einige.

Da hat der lahme Mann 38 Jahre lang am Rade des Lebens gelegen, mit der Aussicht auf Glück und Heilung, die stets anderen zuteilwurde. Unten am Teich schnurrt das Glücksrad lustig, das Wasser kommt in Bewegung, und der Glückliche, der zuerst hinabkommt zu dem Wirbel, dessen Lottozahl gezogen wird, der ist der Gewinner – the winner takes it all. Und da sind stets unendlich viele Verlierer. Der Lahme verliert jedes Mal, und er weiß es. Er kann das Wasser nicht mit eigener Hilfe erreichen, und andere Hilfe hat er nicht, aber er kann auch nicht mit eigener Hilfe diesen grausamen Ort verlassen, das sogenannte Haus der Barmherzigkeit. Er ist gefangen, wie die Israeliten, zwischen der versklavenden Vergangenheit und einer Zukunft, die sich nicht öffnen will.

Und plötzlich steht da ein Mann an seiner Seite – nach 38 Jahren – und fragt ihn, ob er gesund werden will.

Diese eine Frage kann verschieden ausgelegt werden, wenn wir die Geschichte erzählen. Oft legt man das Gewicht auf das erste Wort, und dann ist es plötzlich eine Geschichte davon, dass der Lahme in Wirklichkeit nicht gesund werden will. Er will sich nur vom Leben fernhalten und die Verantwortung nicht auf sich nehmen, aber Jesus ruft ihn auf, das Leben zu wollen. Diese Gewichtung passt gut zu unserer verbreiteten liberalistischen Moral, die besagt, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und dass es in irgendeinem Sinne die eigene Schuld des Mannes ist, dass er da 38 Jahre lang liegt, weil er offenbar nicht genug Willen hat. Er hat nicht genug Willen gezeigt. „Wenn du nur willst, hast du Erfolg“, und: „Gott hilft dem, der sich selbst hilft“ und ähnliche Weisheiten.

Das Problem mit dieser Betonung des Willens ist, dass dabei leicht der Verdacht entsteht, dass man sich auf andere bezieht als sich selbst: Die anderen sind es, die nicht richtig wollen, die nicht vom Leben ergriffen sind und die Sache nicht selbst in die Hand nehmen. Aber nicht alles kann der Wille überwinden. Es gibt Krankheit, Trauer und Schuld, Dinge, die man getan und gesagt hat, oder Verletzungen, die man erlitten hat, die ich nicht ohne weiteres abwischen kann, indem ich sage: „Ich will“. Ich will, dass ich nicht krank bin, ich will, dass ich den, den ich liebe, nie verletzt und sein Leben zerstört habe, ich will, dass ich meine Kinder nie versäumt habe, ich will eine andere Geschichte haben, ich will, dass er mich lieben soll – ich will – nicht sterben.

Da sind Zustände, und das sind die grundlegendsten im Leben, wo es nicht genügt zu wollen, wo es direkt gleichgültig ist, was ich will oder nicht will: Geburt und Tod, Krankheit und Heilung, die Liebe und die Vergebung eines anderen.

Ich glaube nicht, dass Jesus den Ton auf das Wollen gelegt hat (wenn das überhaupt im Aramäischen, der Sprache Jesu, betont werden kann). Eher liegt der Ton auf gesund– als ein Angebot, das was der Mann nicht aus eigener Kraft oder eigenem Willen erlangen kann.

Der lahme Mann aber kann nur die Frage als eine Frage nach seinem eigenen Willen oder seinen Möglichkeiten hören. Er hat auf das gestarrt, was er nicht kann, und er weiß, dass es gleichgültig ist, was er will oder nicht will. Deshalb gibt er Jesus die Antwort: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich an den Teich bringt“. Und vielleicht ist das auch sein innerster Schmerz. Nicht die Lähmung, nicht die 38 Jahre mit dem festen Blick auf die Bewegung des Wassers, sondern dass er keinen Menschen hat. Keiner will ihm helfen.

Wenn Jesus nun die Spielregeln befolgt hätte, hätte er ihn unter den Arm genommen und dafür gesorgt, dass er das nächste Mal der erste sein wird. Aber Jesus bricht die Spielregeln und schafft einen anderen Weg. Und deshalb ist die Heilung, die geschieht, nicht ein Mirakel – die Mirakel geschehen unten am Teich in voller medialer Öffentlichkeit.

Jesus kommt ganz sanft von einer unerwarteten Seite und beginnt ein Gespräch, das zu neuem Leben führt. Die Heilung des Lahmen ist eine neue Schöpfung – ein Wort aus einer anderen Welt, ein Wort, das schafft, was es sagt: „Steh auf, nimm dein Bett und geh“. Das ist ein Schöpferwort.

Unabhängig von dem, was der Lahme glaubt oder will oder kann oder hat.

Auf dieses Wort hin steht er auf und nimmt sein Bett.

Hier ist die Geschichte nicht mehr Spiegel für uns, sondern Licht.  Denn Johannes, der Erzähler der Geschichte, sorgt dafür, dass wir die Worte: „Nimm dein Bett und geh“ hören, denn sie erscheinen drei Mal in der Erzählung. Das ist weil wir hören sollen, dass diese Worte nicht nur einem bestimmten Mann gelten, dem in einem anderen Sinn Glück widerfuhr – sondern Worte, die uns gelten. Steh auf, nimm dein Bett und geh.

Das sind Worte wie „Steh auf“, „Werde Licht“, „Sei guten Muts“, „Fürchte dich nicht“, „Friede sei mit dir“. Worte, die wir uns nicht selbst sagen können, sondern die wir hören müssen, von anderen gesagt, und in allen Dingen von Gott. Wir sind darauf getauft, dass diese Worte uns gelten, denn die Taufe bedeutet, dass wir in die Geschichte Jesu und das Gespräch mit ihm unser ganzes Leben lang einbezogen sind – sowohl in den Zeiten, wo wir gesund sind und viele Lasten tragen können, als auch in den Zeiten, wo wir wie der lahme Mann daliegen, gelähmt vom Leben, von Trauer, von Schuld.

Immer klingt es still und stetig: „Steh auf, nimmt dein Bett und geh“. Nicht weil du kannst, sondern weil Gott will. Da ist immer ein Bett, dass getragen werden soll. Für den lahmen Mann waren das seiner Erinnerungen an 38 Jahre Lähmung – aber es war auch Leben. Für uns andere kann das die Vergangenheit sein, Erinnerung an das, was war, wonach wir uns zurücksehnen, und das, was wehtut. Das schlechte Gewissen über das, was wir versäumt haben, und das war wir falsch gemacht haben, und die Furcht davor, das alles zu spät ist.

Das gehört dazu, aber wir sind nicht mehr daran gebunden darin zu bleiben. Wir können unsere Vergangenheit mit in eine neue Zukunft tragen. Wir können erhobenen Hauptes gehen und am Leben als freie Menschen teilhaben.

Für jeden Menschen, der getauft worden ist, beten wir: Der Herr bewahre deinen Eingang und Ausgang von nun an bis in Ewigkeit“. Der Herr wird mit dir sein auf deinen Wegen, wo sie  auch hinführen -ein und aus hinauf und hinab – und wenn sie einmal an das Rote Meer kommen, das Tod heißt, und wie keinen Ausweg mehr sehen, gerade dann steht Jesus an unserer Seite und sagt: „Fürchtet euch nicht, ich bin mit dir alle Tage bis an das Ende der Welt. Deshalb: Erhebe dich, steh auf und werde Licht“. Amen.

Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

Email: mch(at)km.dk

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