Jesaja 35

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Jesaja 35

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Advent, 10.
Dezember 2000

Predigt
über Jesaja 35, verfaßt von Eckhard Gorka


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und
der da kommt – Jesus Christus. amen

Der Sprecher steht in einer Börsenkulisse.
Die Graphik hinter ihm erinnert an das aufstrebende Profil eines Alpenmassivs.
In kurzen, präzisen Sätzen zeichnet er den Kursverlauf des Tages.
US-Zinssenkungen werden erwartet. Das baldige Ende des
Präsidentschaftsgerangels heizt die Erwartungen zusätzlich an. Die
Anleger geraten in einen Kaufrausch. Stabile Verhältnisse lassen die
künftigen wirtschaftlichen Aussichten glänzend erscheinen. Am
Mittwoch konnte der Technologie-Index Nasdaq den höchsten Tagesgewinn
aller Zeiten verzeichnen. Millionen Menschen nahmen die Bewegung der Kurse
wahr, ohne selbst davon zu profitieren. Mit diesem Phänomen lebt die Welt
viel länger, als es die Börse gibt.

Am Sonnabend vor dem ersten Advent haben fast 3,5
Millionen Fernsehzuschauer die Ziehung der Lottozahlen verfolgt. Knapp drei
Stunden später sehen 1,7 Millionen Menschen das „Wort zum
Sonntag”, immerhin. Obwohl nur wenige im Lotto gewinnen können, ist
die Zahl der Zuschauer rund doppelt so hoch wie beim „Wort zum
Sonntag”, bei dem viel mehr Menschen viel mehr gewinnen können, als
nach der Ziehung der Lottozahlen. Die Gewinnerwartungen sind eben recht
unterschiedlich. Millionen Menschen nehmen die Bewegung der Zahlen wahr, ohne
selbst davon zu profitieren. Mit diesen Phänomen leben Gläubige viel
länger, als es Fernsehen gibt.

Jede und jeder von Ihnen ist heute morgen aus ganz
eigenen Motiven zum Gottesdienst gekommen. Jede und jeder kommt mit
unterschiedlichen Gewinnerwartungen. Eine Liedzeile, die eigene Stimme im Chor
der anderen, eine Lesung, die Zusage der Vergebung, ein Banknachbar, der
freundlich-vertraut grüßt, der Herrnhuter Stern, ein schönes
Gebet, die Atmosphäre, die es nur Sonntagmorgens und nur hier gibt – jedes
einzelne Element kann vorhandene Gewinnerwartungen ein- oder neue
auslösen. Der heutige Predigttext ist besonders dazu geeignet, Erwartungen
zu steigern. Mit diesem Phänomen lebt Kirche, wenn sie die Bibel liest.

Im Jesajabuch heißt es:

Stärket die müden Hände und macht
fest die wankenden Knie! Saget den verzagten Herzen: „Seid getrost,
fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der
da vergilt, kommt und wird euch helfen.” Dann werden die Augen der Blinden
aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen
springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es
werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren
Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es
dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen
haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige
Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm
gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.

Es wird da kein Löwe sein und kein
reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die
Erlösten werden dort gehen.

Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen
und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte
sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird
entfliehen. (Jes 35, 3-10 Lutherübersetzung)

Gute Aussichten! Menschen wird neue Kraft
verheißen. Blinde sehen, Taube hören, Lahme springen wie Hirsche.
Stumme loben Gott. In der Wüste bricht Wasser hervor und verwandelt sie in
fruchtbares Land. Brunnquellen sprudeln und verdrängen den heißen
Sand. Ein heiliger Weg ist dort, wo vorher wilde Tiere nach Beute suchten. Die
Erlösten Gottes kommen nach Zion. Ewige Freude und Jauchzen sind dort zu
hören. An dem heilsamen Ort haben Schmerz und Seufzen keinen Raum mehr.

Das ist eine Verheißung, die zu Gott lockt
und den Glauben attraktiv macht. Attraktiv für Menschen, die nicht nur
ihren eigenen Vorteil im Sinn haben. Nichts gegen Börsenhaie und
Lottokarpfen, wer weiß denn, ob sie nicht Arme an ihrem Glück
teilhaben lassen?

Jesaja zeichnet eine politische Vision. Von Gott
kommt das Heil, das ein ganzes Volk ergreift. Wohlbemerkt das Volk Israel. Das
muss uns bewusst sein. Diese Heilsankündigung galt nicht zuerst uns
Christen in n.n. Sie galt und gilt denen, die am Fuß des Zion leben und
auf die Einlösung, den sichtbaren Erfolg der Heilsprophetie warten. Der
Respekt vor Gottes befreiendem und erwählenden Handeln zeigt auch die
Grenze der Übertragbarkeit dieser Vision.

Es gibt freilich auch einen Grenzdurchgang. Jesus
hat mit einem Zitat aus dieser Jesaja-Passage Johannes dem Täufer auf die
Frage geantwortet: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen
anderen warten? Das Matthäus-Evangelium hält weder ein Ja noch ein
Nein fest, sondern die Worte Jesu: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr
hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein
und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.

Die Umwandlung von den Hoffnungsbildern der Bibel
zur Wirklichkeit der Welt liegt ganz in Gottes Händen, Jesaja weiß
das. Was uns als Traum erscheint, ist Gott leicht möglich. Die Zukunft ist
sein Land. Die Adventszeit ist reich an Bildern und Symbolen für das Licht
in der Dunkelheit. Jesaja kennt und nennt das feine – leicht zu störende –
Gleichgewicht. Die politische und die religiöse Dimension der
Verheißung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie wird
in ihrer Wirkung gestört, wenn man einseitig die Verherrlichung eines
weltverhafteten Menschen daraus ableiten wollte. So ginge sie zu Lasten Gottes.
Und sie wird in ihrer Wirkung ebenso gestört, wenn man einseitig die
Verklärung eines weltvergessenen Gottes daraus ableiten wollte. Sie ginge
so zu Lasten der Menschen. Wer die Verheißung rein diesseitig liest, hat
ebenso nur die halbe Wahrheit begriffen wie jener, der sie rein jenseitig
versteht. Das zukünftige Heil folgt einer zweifachen Perspektive: Es kommt
alles auf Gott an, und Gott kommt alles auf sein Volk an. Ich höre einen
doppelten Impuls: Erwartet alles von Gott und tut währenddessen das
Menschenmögliche.

Konkretion 1:

Die Veränderung der Welt gelingt nicht ohne
veränderungsbereite Menschen. Und dennoch: Kein noch so erneuerter Mensch
hebt die alte Welt aus den Angeln. Diese Erfahrung begegnet uns jeden Tag,
manchmal schon morgens im Spiegel. Gegen alle Versuche, durch menschliche
Eingriffe „Freude und Wonne” an die Stelle von „Schmerz und
Seufzen” treten zu lassen, schrieb ein Soziologe schon vor 100 Jahren:
„Man stelle sich eine Gesellschaft von Heiligen, ein vollkommenes und
musterhaftes Kloster vor. Verbrechen im heutigen Sinn des Wortes werden dort
unbekannt sein; dagegen werden Vergehen, die dem Durchschnittsmenschen heute
verzeihlich erscheinen, dort dasselbe Ärgernis erregen wie gemeine
Verbrechen.” (Emile Durkheim)

Wenn der ideale Mensch zur Normalität
geworden ist, dann wird das, was heute als normal gilt, künftig als
Übel definiert und geächtet. Die Chancen, durch genetische,
chirurgische oder soziologische Eingriffe dem unglücklichen Patienten
Menschheit zu helfen, stehen nicht besonders gut. Spätestens, wenn wieder
einmal die Soziologie stärker war als die Biologie, stellen wir
nüchtern fest, dass wir Schwierigkeiten haben, eine menschenfreundliche
Welt per Verabredung zu schaffen, und dass wir das Reich Gottes schon gar nicht
herstellen können. Jesaja wusste das längst. Gegen die resignative
Perspektive, dass das Bleibende vergeht und die Vergänglichkeit kommt,
darf er eine Hoffnung in der Welt aussetzen: Das Vergängliche vergeht und
das Bleibende kommt. Jesus erweitert die Verheißung des Jesaja um die
Auferstehung der Toten. Wir können auch dort auf Gott zählen, wo
unser Augenschein ihn am wenigsten erwartet. Gott ist mit dem
vergänglichen Menschen unterwegs. Erwartet alles von Gott und tut
währenddessen das Menschenmögliche.

Konkretion 2:

Die Ankündigung der Heilung menschlicher
Gebrechen setzt nicht nur Gottes Erbarmen voraus, sondern zunächst, dass
der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, Blindheit, Taubheit, Lähmungen
und Dürre als heilungsbedürftig ansieht. Krankenheilungen und
Schöpfungserneuerung sind Vorzeichen der Nähe Gottes. Die
Erfüllung wird noch eine andere Dimension annehmen: Auch die nicht
Genannten, die Gesunden, werden eine Veränderung spüren. Seit Jesus
die Verheißung des Jesaja zu einer zentralen Deutung seines Auftrages und
seiner Verkündigung gemacht hat, ist die Bahn, die „heiliger
Weg” heißen wird, als Straße der Weltverwandlung und
Menschheitserneuerung zu erkennen. Da geraten jene Menschen in den Blick, die
jetzt abseits unserer Boulevards in den Elendsvierteln der Welt leben
müssen. Da geraten jene Menschen in den Blick und auf die Einladungsliste
Gottes, die die denkbar geringsten Gewinnerwartungen hegen. Das alles haben wir
von Gott zu erwarten und können das Menschenmögliche dazu tun: Die
unerträgliche Spaltung der Menschheit in arm und reich wahrnehmen, die
himmelschreiende Ungerechtigkeit bekämpfen, die Verwüstung
menschlichen Lebensraumes verhindern. Nach Lage der Dinge werden unsere Erfolge
nicht so überwältigend sein, dass wir als Wegbereiter der Menschen
Gottes Wort und Verheißung nicht mehr bedürftig wären.

Konkretion 3:

Es gibt sie doch: Die guten Vorzeichen. Es gibt
doch nicht immer nur Hauen und Stechen, sondern auch deren Ende. Es gibt nicht
nur Kriege, sondern auch Friedensschlüsse und die Heimkehr der Gefangenen.
Es gibt nicht nur Konflikte, sondern auch Versöhnung früherer Feinde.
Es gibt nicht nur Apartheid, sondern auch das Ende der Apartheid. Es gibt nicht
nur die Trennung Deutschlands, sondern auch den Fall der Mauer und neue
Freiheit. Wie oft deuten wir den guten Ausgang eines Streits als Eingreifen
Gottes. Und wie leicht sind wir bereit, diese Deutung zu verlassen, wenn der
eben geschlossene Frieden brüchig wird, die Versöhnung der Feinde ins
Stocken gerät, das Ende der Apartheid neue Gewalt freisetzt oder die
Wiedervereinigung Mentalitätsunterschiede deutlich werden lässt und
obendrein Geld kostet. Wenn ich die Verheißung des Jesaja richtig
verstehe, dann macht sie uns ausdrücklich Mut, Gott in diesen
Heilungsprozessen am Werk zu sehen. Warum kommt uns so schnell der Respekt vor
diesem Werk Gottes abhanden? Warum lassen wir Blindheit, Taubheit, Lähmung
und Wüste zu, wo wir eben jubelnd einen neuen Weg einschlugen? Die
Verheißung des Jesaja enthält die kritische Anfrage, ob und wo wir
Gottes Weg mit der Welt im Wege stehen. Ob wir, um das eingangs gebrauchte Bild
aufzunehmen, überhaupt eine tragende Gewinnerwartung haben und unseren
Einsatz wagen. Erwartet alles von Gott und tut währenddessen das
Menschenmögliche. Gott erträgt es, dass sein Werk missachtet wird,
wie lange werden Menschen diese Missachtung ertragen?

Konkretion 4:

Der 10. Dezember 2000 ist zum Tag der
Menschenrechte erklärt worden. Die Evangelische Kirche in Deutschland
(EKD) hat an die Religionsfreiheit erinnert, ihre Notwendigkeit, ihre
Verletzlichkeit, ihren Beitrag zur Würde der Menschen. Bei aller Skepsis
gegenüber der Reichweite solcher Thementage ist doch auch klar, dass
Erinnerungstage dann am wenigsten Gewinn bringen, wenn man sie überhaupt
nicht erst wahrnimmt. Dass wir heute gemeinsam diesen Gottesdienst feiern,
unseren Glauben öffentlich bekennen, unserem Glauben vielfältigen
Ausdruck geben können in Gebäuden, Symbolen, Signalen bis hin zum
„Wort zum Sonntag” im öffentlichen Fernsehprogramm ist Folge
einer Freiheit, für die Menschen lange gestritten haben, viele immer noch
streiten müssen und von der viele Glaubensgeschwister träumen. Zur
Liste der Länder, in denen das Recht auf freie Religionsausübung
nicht gegeben ist, gehören Saudi-Arabien, Griechenland, Kolumbien, China,
Pakistan, Indonesien. Die Liste ist längst nicht vollständig. Und sie
führt zunächst nur jene Länder auf, die die Religionsfreiheit
und damit die Menschen und ihren Glauben in elementarer Weise verletzen.
Vielfach werden religiöse Gruppen unterdrückt, weil sie den
herrschenden Ideologien gefährlich werden können. Menschen werden
ausgegrenzt, weil sie die Vorläufigkeit menschlicher Ordnungen durchschaut
haben und ihr Glaube den Mächtigen gefährlich werden kann. Ich sage
„ihr” Glaube, weil es nicht immer unser Glaube ist. Wir wollen heute
für bedrohte Gemeinden Fürbitte halten, wollen um Religionsfreiheit
auch für Andersgläubige und die Menschenrechte für
Andersdenkende beten. Das heißt nicht, dass wir den Wahrheitsanspruch des
Evangeliums aufgeben, sondern dass wir der Mission Jesu auch dort treu bleiben,
wo der Herr der Kirche die Barmherzigkeit des Samaritaners lobt. Es steht uns
gut an, vor Gott zur Sprache zu bringen, dass Christen unter Opfern und
Tätern zu finden sind: verfolgt wurden und werden und selbst zu Verfolgern
geworden sind. Wenn wir heute an Länder denken, in denen Christen in der
Verfassung schon schlechter gestellt sind oder der Bau von Kirchen unter Strafe
steht, dann sagen wir es nicht fingerzeigend. Religionsfreiheit ist auch in
unserem Land ein kostbares und schützenswertes Gut, das gesetzlich bewahrt
und im Alltag der Menschen bewährt sein will. Gott alles zuzutrauen und
das Menschenmögliche zu tun, weist immer über uns hinaus.

2. Advent. Wir bereiten uns auf den zweiten und
letzten Advent Jesu Christi vor. Wir haben keinen Anlaß zur
Untätigkeit. Auch wer keine Gewinnerwartung hat, wird Ohrenzeuge der
Verheißung dessen, den wir mit Christus Vater nennen. Dass Gott
barmherzig ist, heißt nicht, dass er nichts von uns erwartet. Die
Wartezeit will gefüllt sein. Der Weg, auf dem wir sicher sind, wird von
Gott her angelegt. Zu viele Menschen nehmen die Bewegung wahr, ohne von ihr zu
profitieren: Menschen ohne Hoffnung auf Veränderung, ohne Wagemut, ohne
Gewinnerwartung. Schon immer hatten mehr Menschen Interesse an der Ziehung der
Lottozahlen als am Wort zum Sonntag. Obwohl beim Wort zum Sonntag des Jesaja
mehr Menschen mehr gewinnen können als nach der Ziehung der Lottozahlen.

Um das Warten auf bessere Zeiten und ein besseres
Leben zu füllen gilt: Erwartet alles von Gott und tut währenddessen
das Menschenmögliche.

amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als
unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. amen

Landessuperintendent Eckhard Gorka

Michaelisplatz 3 a
31134 Hildesheim
Eckhard.Gorka@evlka.de


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