Jesaja 35, 3-10

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Jesaja 35, 3-10

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Advent, 10.
Dezember 2000

Predigt
über Jesaja 35, 3-10, verfaßt von Anna-Katharina Szagun


Predigtext Jes 35,3-10 in der Übersetzung
nach Buber-Rosenzweig:

Erschlaffte Hände stärket,
festiget
wankende Knie,
sprecht zu den Herzverscheuchten,
Seid stark,

fürchtet euch nimmer,
da, euer Gott,
Ahndung kommt,
das
von Gott Gereifte,
er selber kommt
und befreit euch!

Dann werden Augen von Blinden erhellt,

eröffnet Ohren von Tauben,
dann springt wie ein Hirsch der Lahme,

die Zunge des Stummen jubelt.
Wasser brachen ja in der Wüste
hervor
und Bäche in der Steppe,
der Samumsand wird zum Weiher,

das Durstige zu Wassersprudeln,
ein Viehlager in der Schakale Heimat,

ein Gehöft für Rohr und Schilf.

Eine Dammstraße wird dort sein, ein Weg,

Weg der Heiligung wird er gerufen,
nicht kann auf dem ein Makliger
wandern.
Selber ER geht ihnen voran,
dass auch Toren sich nicht
verlaufen.
Nicht wird dort ein Löwe sein,
reißendem Tier ist
er unersteigbar,
nichts wird dort gefunden.

Gehen werden ihn die Erlösten,
die von
IHM Abgegoltenen kehren zurück,
sie kommen nach Zion mit Jubel,

Weltzeit-Freude ist um ihr Haupt,
sie erlangen Wonne und Freude,

Gram und Seufzen müssen entliehen

Die Zeit der großen Visionen sei vorbei,
heißt es: Pragmatismus ist angesagt: Auf dem Boden der Tatsachen bleiben,
nüchtern rechnen statt großen Träumen zu folgen, das garantiert
Sicherheit und Wohlstand. Mit Wohlstand kann man sich die vielen kleinen
privaten Träume finanzieren, vom Früchtetraum-Joghurt bis zum
LBS-Traumhaus. Die Wahlausgänge zeigen, dass nicht wenige so denken. Wenn
man Jugendliche oder Erwachsene nach ihren Träumen von gelingendem Leben
fragt, kommen meist Antworten zu einem privaten Glück: Eigenheim, 2
Kinder, Auto und vielleicht ein Hund. Auf darüber hinausgehende Visionen
mag man sich nicht einlassen. Sind die Utopien einer besseren Welt nicht
grausam gescheitert, z.B. das Friedensreich des Sozialismus? Nein, Träume
von einer besseren Welt lohnen sich nicht, denn die Menschen und ihre
Strukturen sind nun mal schlecht und daran wird sich nichts ändern…

Der Predigttext scheint in eine der unsrigen
verwandte Situation hinein gesprochen zu sein. Erschlaffte Hände, wankende
Knie, Angst, Desillusionierung: Herzverscheucht nennt sie der Text.
Zurückgekehrt aus dem babylonischen Exil hat sich die Realität als
widerständig-brutal entpuppt, gemessen an den Träumen vom gelobten
Land. Es kam alles nicht so, wie man sich das ausgemalt hatte. Die große
Entzauberung fand statt, die Ent-Täuschung: Und da sitzen sie nun mit
wankenden Knien, erschlafften Händen, Herzverscheuchte. Die nichts mehr
anpacken mögen, stell’ ich mir vor, weil es ja doch nichts bringt,
weil man – so allein – doch sowieso nicht ausrichten kann gegen die Regierenden
und die Umstände, die allemal stärker sind als ich Winzling: Gesetze,
Strukturen, Denk- und Handlungsgewohnheiten, Sachzwänge, die Macht und die
Gier der Gegner, aber auch der Egoismus, die Trägheit und Müdigkeit
von uns selbst, alles spricht gegen die Vision einer besseren Welt für
alle. Damals wie heute. Darüber herzverscheucht und schlaff zu werden, wen
wundert es?

Ich wüsste gern mehr von den zerbrochenen
Träumen der Herzverscheuchten und von ihrem Umgang mit Visionen. Was sind
das denn für Wünsche und Träume, die ihr aus dem babylonischen
Exil mitbrachtet? Waren die Hoffnungsbilder, die wirklich hätten tragen
können? Erwachsene Hoffnungsbilder? Oder eher Schlaraffenland-Illusionen?
Alles Wünschbare wächst mir im Land von Milch und Honig so zu – der
allmächtige Papa wird’s schon richten?

Unser Text schweigt dazu. Aber er setzt angesichts
von Desillusionierung, Resignation und Apathie weder auf Kopf-Hoch-Appelle noch
auf nüchternen Pragmatismus. Er stellt ein altes Hoffnungsbild neu vor
Augen: Warum? Vielleicht weil dem Verfasser längst klar war (worauf uns
heute die konstruktivistische Weltsicht neu aufmerksam macht), dass es weniger
die Tatsachen selbst sind, die unsere Wirklichkeit bestimmen, als unser Blick
auf sie. Erst durch die Bedeutung, die wir den Dingen geben, werden die Dinge
zur Wirklichkeit. Diese Bedeutungszuschreibung aber geschieht aus unserer
Innenwelt heraus, dem Reich unserer Erfahrungen, Hoffnungen, Wünsche,
Phantasien. Deshalb entscheidet sich am Inhalt unserer Träume wesentlich
unser Umgang mit der Realität. So, wie der Mensch mittels
zerstörerischer Wünsche und Phantasien die Welt vernichten kann, so
kann er sie mittels heilender Wünsche und Phantasien auch neu gestalten.
Sofern er zum Pendler zwischen zwei Welten wird, meint Michael Ende in der
>Unendlichen Geschichte<: „Es gibt Menschen, die können nie nach
Phantasien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben
immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantasien und kehren
wieder zurück… Und die machen beide Welten gesund“. Pendler zwischen
Phantasien und Alltagswelt können die Welt verwandeln: Sind das die
Erlösten des Textes? Erlöst von ihrer sie lähmenden Weltsicht
und so beflügelt von ihrem Phantasien, dass sie auch daran arbeiten?
Welches Phantasien spricht mich so an, dass ich daran arbeiten mag? Welches
Phantasien zeichnet unser Text?

Mir fällt auf, dass auch im Text das
Neuwerden der Sinnlichkeit – in Wahrnehmung wie Ausdruck – vorn steht: Wenn
Gott kommt.

Dann werden Augen von Blinden erhellt,

eröffnet Ohren von Tauben,
dann springt wie ein Hirsch der Lahme,

die Zunge des Stummen jubelt.
Wasser brachen ja in der Wüste
hervor
und Bäche in der Steppe,
der Samumsand wird zum Weiher,

das Durstige zu Wassersprudeln,
ein Viehlager in der Schakale Heimat,

ein Gehöft für Rohr und Schilf.

Menschen sehen neu, hören neu, werden neu
beweglich und sprachfähig. Neue sinnliche Lebendigkeit sprudelt. Weil die
Quelle allen Lebens bisherige Wüsten zu Gärten werden lässt.
Dort, wo niemand mehr etwas erwartete, wo nur Öde, Gewalt und Gestank
herrschte, grünt neues Leben. Gefahrlos können die Erlösten
ihren Weg ziehen. Ein wunderbarer Traum, denke ich. Mir vorzustellen, dass
diese geschändete Mutter Erde, besudelt mit Müll, Gift und Blut,
wieder frei atmen und blühen könnte. Ach, wenn das doch möglich
wäre! Wenn auch Menschen neu sehen und hören könnten, ihre
apathischen Lähmungen hinter sich ließen! Ach ja:

Wer es könnte
die Welt hochwerfen

dass der Wind
hindurchfährt
(Hilde Domin)

Lieber Text, möchte ich sagen, du
überforderst mich mit deinem Bild. So viel Hoffnung hab’ ich nicht.
Als Pendler zwischen deinem Phantasien und meiner Alltagswelt soll ich
vermutlich dein Bild täglich klein arbeiten. Das überfordert mich.
Woher soll ich den Mut und die Kraft zu so einer so grandiosen Hoffnung nehmen?
Sieh dir diese brutal-sinnlose Welt doch an! Aber du überforderst mich
nicht nur. Du irritierst mich auch. Im nächsten Abschnitt lese ich
nämlich:

Ein Dammstraße wird dort sein, ein Weg.

Weg der Heiligung wird er gerufen,
nicht kann auf dem ein Makliger
wandern.
Selber ER geht ihnen voran,
dass auch Toren sich nicht
verlaufen.

Nur für Reine! Nur für Heilige. Betreten
für maklige Durchnittsmenschen verboten. Ich darf also nicht ‘rein in
deine Idylle. Du denkst an ein abgegrenztes Paradies für die
religiöse Elite? Elite-Paradiese kennen wir schon: Künstliche
Untermeerstädte, Traumschiff Enterprise, in Science-Fiction ist alles
schon da. Und gelebt wird Ähnliches auch: Maschinengewehrbewachte
Ferienclubanlagen in der Dritten Welt. Deutschland sauber halten durch
Asylanten-Schutzwälle und Entsorgung von Müll und Gift ins Ausland.
Drinnen Naturkost und biologisch einwandfreie Baustoffe, draußen
dürfen Müllberge, Hunger und Elend wachsen. Dass wir so denken und
handeln, schlimm genug. Aber nun präsentierst du, Jesaja, mir auch so eine
exklusive Vision? Du irritierst mich. Oder hab’ ich dich falsch
verstanden?

Deine Phantasien: Eine Neuschöpfung der
Sinne, die Verwandlung von Wüsten zu Gärten, ein vor Raubtieren
geschützter Weg, auf dem Menschen ohne Makel in Gerechtigkeit, Frieden und
Freude miteinander unterwegs sind. Wie kann ich solch grandioses Hoffnungsbild
mit der Wirklichkeit zusammen denken, – so zusammendenken, dass es
sinnstiftende Kraft für mich werden kann?

Meine Welt ist zu weit weg von deinen Phantasien,
sag ich zum Text, schau selbst: Ganz abgesehen von globalen Zerstörungen
sehe ich vorurteilsbeladene Wahrnehmung, Lähmungen und Jammern rundum,
weder ich noch die anderen sind rein und schön. Sobald jemand ernsthaft
etwas verändern will, stürzt sich eine wütende Meute auf ihn:
Der Weg der Erneuerung ist mitnichten geschützt.

Kennst du Dürrenmatt? Höre ich den Text.
Der sagt: „Die Welt ist schrecklich und sinnlos… das Böse eine Tatsache,
die immer vorhanden ist… die Hoffnung, ein Sinn sei hinter all’ diesem
Unsinn, hinter all’ diesem Schrecken, vermögen nur jene zu bewahren,
die dennoch lieben“. Nur die, die dennoch lieben, entfalten die Kraft zum
Widerstand gegen das Böse, nur sie können – so aussichtslos es immer
erscheinen mag – das Hoffnungsbild umsetzen, so dass aus Wüsten
Gärten werden…

Das klingt gut, sag ich zum Text. Aber du
verschiebst mein Überforderungsproblem damit bloß. Wo nehme ich denn
diese Liebe her, aus der das andere wächst? Und wie kann ich denn die
lieben, die brutal und scheußlich sind und deinem Phantasien
entgegenarbeiten? Du mutest mir Absurdes zu.

Du hat etwas Wichtiges übersehen, sagt der
Text. Schau genau hin:

Da, euer Gott,
Ahndung kommt,
das von Gott
Gereifte,
er selber kommt
und befreit euch!

Selber ER geht
voran,
dass auch Toren sich nicht verlaufen…

Du bist nicht allein auf der Strecke, sagt der
Text. Schau, die Quelle des Lebens geht mit, befreit dich zu neuer Wahrnehmung,
macht dich beweglich. Du weißt doch, was es mit dir macht, wenn andere
– statt Defizite an dir zu suchen – dich als jemanden ansehen, der
Wertvolles beitragen kann? Was alles könnte rings um uns an Pendlern
aufblühen, wenn unser Blick nicht mehr auf’s Maklige fixiert
wäre? Einen Menschen lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn
gemeint hat. Hat nicht einer schon gezeigt, welche wunderbaren
Veränderungen möglich sind? Maria Magdalena z.B., Paulus, der
ehemalige Zöllner Levi… Kommen wir nicht aus einer mehr als
zweitausendjährigen Pendlerbewegung? Und ist uns nicht vorgelebt worden,
dass es zur Verwandlung der Wirklichkeit einer mit Geschwistern geteilten
Vision bedarf? Wer seine Vision nicht teilt, muss verzweifeln, – an sich und
anderen irre werden, – wird aggressiv-fanatisch oder apathisch enden:
Herzverscheuchte. Eine Vision zu teilen heißt aber Auseinandersetzung,
geschwisterliches Ringen um Ziele und Wege. Wie viel offenes Ringen
könnten wir wohl aushalten, wenn wir die Makelbrille abnähmen? Wenn
wir aneinander das von Gott Gemeinte sähen, die Knospen? Einer hat es uns
vorgemacht. Und uns versprochen, dass er dabei ist, wo nur zwei oder drei
versammelt sind…

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als
alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.

Prof. Dr. Anna-Katharina Szagun
Lehrgebiet
Religionspädagogik
Theologische Fakultät
Rostock
Schröderplatz 3-4
18057 Rostock
Email:
anna-katharina.szagun@theologie.uni-rostock.de


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