Jesaja 38,9-20

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Jesaja 38,9-20

Auf dem Absatz kehrtmachen | 19. Sonntag nach Trinitatis | 10.10.2021 | Predigt über Jesaja 38,9-20 | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich an einige Ihrer gemischten Gefühle vor einem Krankenbesuch? Ich kläre mich meist schon bei der Planung, ob ich es freundlich durch einen kurzlebigen Blumenstrauß sagen möchte oder besser einen „Besuch mit Buch“ mache, mit guten Gedanken auf längere Sicht. Je näher ich dann auf das besagte Zimmer zukomme, bewegen mich Fragen wie: Wird unser Gespräch eher schwermütig verlaufen, oder eher optimistisch? Doch nach dem Besuch, bereits im Treppenhaus oder auf dem Weg zum Parkplatz, spüre ich manchmal eine Erleichterung. Denn ich konnte Veränderungen mitfühlen bei dem Patienten, den ich besuchte. Die schwierige Diagnose bewirkte bei ihm auch eine Geduld. Und seine zuerst scheue Dankbarkeit durchzog sogar ein Hauch Genesungslust. Und mir? Mir selbst tat das Gespräch gut, beim Abschied gab es beidseitig so eine Art Zuspruch; vielleicht sieht man sich ja wieder, wer weiß.

Die Bibel macht uns für ähnliche Erfahrungen Mut mit einem wahrhaft königlichen Beispiel. Denn der Todkranke ist Hiskia, König von Israel, und der ihn besucht, ist Jesaja, einer der Groß-Propheten. Dazu meint unser Bauchgefühl: König geht ja noch klar, aber ich als Prophet? Geht’s auch eine Nummer kleiner? Doch der Reihe nach.

Hiskia regiert außenpolitisch mutig. Er wehrt sich gegen die Übermacht der Assyrer und kämpft gegen die Philister. Als aufgrund einer Belagerung des Nordens viele Binnen-Migranten in Jerusalem einwandern, lässt er einen Teich anlegen und eine Wasserleitung bauen. Auch im Gottvertrauen ist er eindeutig, sowohl im Tempel wie auch außerhalb. Er verbietet, vor Götterstatuen zu opfern und lässt diese zerstören. Am Kölner Dom hat ihn ein Steinmetz dargestellt, wie er eine Sonnenkönigin zertritt, die eine Strahlenkrone trägt. Hiskia also als Urahne der Heiligen Drei Könige! Ein Landesvater der Qualitätsklasse eines David. (1)

Aber seine todesnahe Krankheit ist ihm schier unerklärlich. Er beschreibt sie in einem späteren Psalm so: Mein Webfaden ist wie abgeschnitten, meine Knochen wie von Löwenzähnen zermalmt, meine Klage ein jämmerliches Taubengurren. Hiskia ist darin gewiss, dass ihn kein blindes Schicksal trifft, vielmehr findet er Hilfe in dem Bekenntnis: Der Herr hats mir gegeben, der Herr hats mir genommen. Deswegen betet er mit letzter entschiedener Kraft: Herrgott, tritt für mich ein! So betet Hiskia mit gemischten Gefühlen, sterbend, aber zugleich Gott einfordernd.

In diese Situation hinein besucht ihn Jesaja. In verliehener Gewissheit spricht er seinen todesnahen König an. Gott sagt Dir: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben.

Da dreht sich Hiskia zur Wand und betet: Mein Gott, denke doch an meine Überzeugungen! Erinnere dich, wie ich vor dir in Treue und ungeteilten Herzens gewandelt bin und habe getan, was dir gefallen hat. Wobei er bitterlich weint.

Nun sind wir normal Sterblichen ja selten bei einer solchen Situation am Königshof dabei. Doch uns berichten davon zwei Zeugen. Einer von ihnen (2) bleibt sozusagen als Sitzwache beim präfinalen Patienten, der andere (3) geht Jesaja nach und sieht: Jesaja ist noch nicht aus der inneren Stadt hinausgegangen, da stoppt er und macht auf dem Absatz kehrt. Was der Augenzeuge auf Entfernung beobachtet, kann dann der Ohrenzeuge hörend nachvollziehen. Denn Jesaja kommt zum König Hiskia zurück und sagt ihm: So spricht der HERR, der Gott deines Vaters David: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Siehe, ich will deinen Tagen noch fünfzehn Jahre zulegen und will dich samt dieser Stadt erretten aus der Hand des Königs von Assyrien und will diese Stadt beschirmen. Und den verblüfft herumstehenden Heilkundlern befiehlt er: Bringt einen Umschlag aus Feigen! Den bringen sie, und Jesaja fixiert ihn auf Hiskias Geschwür, was dessen komplette Genesung einleitet. (4)

Er kann alsbald aufstehen und formuliert in der Sprache der Psalmen, wie er sich gefühlt hat und wie dankbar er ist. Bald danach kommen Gesandte aus Babylonien, ihnen gegenüber riskiert er eine große Offenheit, wobei er aber im Stillen hofft: „Es wird doch wohl Friede und Sicherheit sein, solange ich lebe!“ (39,8)

 

Liebe Gemeinde,

das Feigenpflaster können wir uns gut vorstellen. Ich bekam als Kind von einem Homöopathen Verbände mit frischem Wirsingsaft verschrieben, was die Narbenbildung begrenzte. Schon im Altertum heilte man mit Feigen und ihren Gerbstoffen und B-Vitaminen. Zerdrückt kamen sie in ein Leinentuch, das dann z.B. auf Geschwüren fixiert wurde. So tiefenwirksam dieses Naturheilkunde-Verfahren auch ist, ich verstehe es als Hinweis auf andere tiefgreifende Gedanken in der Hiskia-Geschichte. Ein interessanter Gedanke liest sich in seinem großen Psalmgebet so: Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe… Allerdings fügt er diesem Dank noch ein leidenschaftliches Argument hinzu: Denn die Toten loben dich nicht, …und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. (38,17) Hiskia argumentiert in seiner Sterbegewissheit gegen Gott, dass die, die er sterben lässt, ihn ja nicht mehr verehren können. Er appelliert an Gottes „Eigeninteresse“ (5) und für Martin Luther wäre es sogar einer „Niederlage Gottes“ gleichgekommen, „die er mit dem Tod eines so wertvollen Zeugen einstecken müsste.“ (6)

Diese provozierende Direktansprache Gottes ist kennzeichnend für den alttestamentlichen Glauben. Selbst der Tod kann die allumfassende Verehrung Gottes nicht unterbrechen. Da hilft es uns Christen nicht, „ganz nüchtern“ festzustellen: „Hiskia kennt noch kein Ostern.“ (7) Denn damit wären wir fein raus und würden das Problem nur durchreichen an Christus, unseren Experten für Auferstehung. Aber sich zu diesem Thema mit Gott zu streiten, ist ja der entscheidende Hoffnungsschritt weiter als nur todesmutig zu sein. Also suche ich noch weitere Spuren, wie die alttestamentliche Hiskia/Jesaja-Geschichte uns erreichen will. Und ich sehe zwischen markanten Sätzen hier und da auch Körperbewegungen.

Hiskia dreht sich zur Wand

Die erste ist, dass sich Hiskia auf seinem Bett zur Wand dreht. Er dreht sich weg von seinen Beratern. Von den Militärs, die Übermacht verkörpern, von den Ärzten, die Ohnmacht verkörpern, und im Übrigen auch vom Propheten, der durchaus Vollmacht verkörpert. Hiskia dreht sich zur Wand auf der Suche nach einer eigenen Klarheit, auf die er sich fokussieren kann. (8) Das überfordert ihn zwar, was sein bitterliches Weinen zeigt, doch mit letzter Kraft erreicht er durch diese Wand hindurch Gott mit seinem Schrei: Mein Gott, denke doch an meine Überzeugungen! Des Hiskia Drehung zur Wand ist eine ausdrucksstarke Bewegung.

Jesaja geht noch einmal zurück

Hiskias Körperdrehung und sein Gebet sind die letzten Eindrücke, die Jesaja mitnimmt. Er verlässt mit gemischten Gefühlen das Sterbezimmer, durchquert den Flur und strebt durch den Innenhof raus aus dem Palast. Doch auf Gottes Geheiß kehrt er um, geht zurück und sucht ein zweites Mal den Patienten in seinem Palliativzimmer auf. Des Jesaja Richtungswechsel macht die Geschichte wieder offen. Denn nun richtet er dem König einen anderen Gottesbescheid aus, der voraussetzt, dass Gott sich ihm ganz neu zuwendet.

Gott macht eine heilsame Kehrtwende

Gott selbst neigt sich herab, indem er ins Wort findet, das Leben schafft. Jesaja zitiert ihn wörtlich: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Siehe, ich will deinen Tagen noch fünfzehn Jahre zulegen und will dich in deiner Regentschaft beschirmen. Gottes Kehrtwende ist eine Abkehr von seiner Schroffheit, seine Zuneigung hilft Hiskia körperlich, seelisch und politisch wieder auf. Auch Jesaja betrifft sie existentiell. Es sind schon andere Überbringer von Sterbenachrichten getötet worden. Jesaja aber wird noch gebraucht. Ebenso wie die anderen Propheten, wie z.B. der Johannes der Offenbarung. Der sah, wie die sich selbst zerstörende Welt von Gottes Neuem Himmel und Neuer Erde geborgen wird. Wobei ein erstes Zeichen der Zuwendung Gottes ist, dass er alle Tränen abwischt. Gottes Kehrtwende ist wirklich wirksam.

 

Nun sind wir nicht direkt befugt, wie Jesaja aufzutreten, aber wir entdecken uns im Treppenhaus oder im Innenhof. So ein Feigenpflaster ist ja schnell besorgt und wir werden auch den Mut bekommen, es unserer sterbenskranken Welt aufzulegen bei unseren großen Themen wie der „Klimaneutralität“ oder der „Verkehrswende“. Es gibt für uns noch einen zweiten Auftrag, als nur großes Unheil anzusagen. Dabei spüren wir, dass nur eine beidseitige Ehrlichkeit uns voranbringt zwischen der großen Neu-Orientierung und der eigenen Umkehr-Mobilität.

Nach einigen unserer Besuche kennen wir die Versuche für einen zweiten Anlauf gut. So ziehen wir uns nach einem verkorksten Gespräch zunächst zurück, bis wir einen neuen Anlauf wagen. Nach einer Gottesbeschimpfung holen wir erst einmal frische Luft, bis wir vielleicht nach Jahren ein zweites Zuhören riskieren. Nach einem strittigen Dialog brauchen wir Abstand, bis wir Neues sagen können, weil wir etwas überhört hatten. Nach einem Besuch, in dem wir über unsere Segensgeste überrascht waren, warten wir ab, bis wir zurückgehen und sicherstellen, dass wir nicht übergriffig sein wollten. Ähnliche Szenen kennen wir als Besucherinnen und Besucher, aber auch als Besuchte, dann aus der Patientenperspektive. Uns tut es insgesamt gut, für Kehrtwendungen und zweite Begegnungen locker zu bleiben, auch wenn uns um den eigenen Trost bange werden könnte. Und in dem Fall, dass wir uns rigoros zum Gebet zur Wand drehen, werden wir wieder froh werden, weil einer kommt und uns zum Aufstehen verhilft. Amen

 

(1) Neben Hiskia steht zB. die Königin von Saba (2) 2. Kö 20 berichtet von der Hofszene; (3) Jes 38 hat nur den Audio-Bericht; (4) R.Schimon b.Gamaliel: „Jesaja legt etwas Unreines auf etwas, das verunreinigt wurde“ – zitiert nach M. Gardei; Predigtmeditationen; (5) B. Janowski: Anthropologie des AT S.246; (6) Chr. Hardmeyer nach B. Janowski S.249 Anm 108;  (7) in: Predigt des Universitätspfarrers in Greifswald, ohne Namen und Datum; (8) „Auf die Medizin übertragen könnte man ein Gebet ja auch als submaximale Fokussierung auf ein Patientenanliegen verstehen“ – in: Universitätspredigt von Prof. Dr. Michael Freitag 5.11.2017 – St. Lamberti Kirche, Oldenburg

 

Vorschlag Lieder:

EG 383: Herr, du hast mich angerührt

Singt Jubilate 128: Da wohnt ein Sehnen tief in uns

Singt von Hoffnung 119 Behüte, Herr, die ich Dir anbefehle (L. Zenetti; Mel EG 65 Von guten Mächten)

Singt von Hoffnung 106: Ich bin in guten Händen (Ps 23; Chr. Zehendner Mel EG 295 Wohl denen, die da)

 

Vorschlag als Lied, Meditation oder Gebet:

(Text: Ulrich Tietze; Mel EG 294: Nun saget Dank und lobt den Herren)

 

  1. Zu dieser Welt gehört das Leiden,

Gehört der Tod, der nahe ist.

Lasst Hoffnung uns in Worte kleiden,

dass du, Gott, uns Begleiter bist.

So häufig sind wir die Erschrocknen

Und wissen weder aus noch ein.

Doch einmal werden Tränen trocknen,

und Gott wird uns ganz nahe sein.

 

  1. Ein Lächeln mag uns dann begleiten

und Gottes hingestreckte Hand

inmitten aller Dunkelheiten

auf unserm Weg ins Hoffnungsland.

Gott wird mit Leid uns nicht verschonen

auf dieser Welt. Oft trifft es hart.

Doch einmal wird er bei uns wohnen,

berührbar und als Gegenwart.

 

  1. Wir leben jetzt noch im Dazwischen,

und wahrer Trost ist oft weit fort.

Doch einst die Tränen abzuwischen,

verspricht uns Gott. Und er hält Wort.

Das Leben wir uns neu umfassen

im andern Raum, mit neuer Zeit.

Gott wird dann nie mehr uns verlassen

und gibt für immer uns Geleit.

 

de_DEDeutsch