Jesaja 38,9–20

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Jesaja 38,9–20

Hiskia, König von Juda – gläubig und politisch besonnen | 19. So. n. Trinitatis, 10.10.2021 | Predigt zu Jesaja 38,9–20 | verfasst von Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

Hiskia (725–696 v.d.Z.)[1] ist König von Juda mit der Hauptstadt Jerusalem. Er wird, von ihm selbst so empfunden, von todbringender Krankheit befallen, die ihm JHWH zufügte. Die düstere Nachricht wird vom Propheten Jesaja übermittelt. Doch Hiskia findet sich nicht damit ab; er klagt JHWH sein Leid und beruft sich dabei auf seine Ergebenheit und Treue im Glauben. JHWH lässt sich davon erweichen und lässt Jesaja diesmal eine frohe Botschaft überbringen: Sein Leben wird verschont und ihm obendrein noch fünfzehn Jahre hinzugefügt, und Jerusalem soll Angriff und Eroberungswillen der Assyrer heil überstehen.

Hiskias Klagegebet wandelt sich am Ende in ein Lob- und Dankgebet; ausdrucksvoll und authentisch klingen seine Worte (Jes 38,17):[2] „Sieh, Bitteres gereichte mir zum Frieden, Bitteres. Doch du hast dich an meine Seele (an mich) gebunden, hast mich bewahrt vor dem Grab der Verderbnis. Wahrlich, du hast all meine Sünden hinter dir (hinter deinem Rücken) gelassen.“

Wovon wir hörten, ist die Klage des Einzelnen über die schier unerträgliche Not in einer schweren, unheilbar erscheinenden Krankheit. Dem Tode nah, bäumt sich Hiskia dagegen auf und hat den fast ungeheuren Mut, seinem und Juda‘s Gott sein gottesfürchtiges Leben (Glaube und Rechtschaffenheit) vorzuhalten (Jes 38,3). Am Ende seiner Klage (38,15) wird ihm bewusst: Er (Gott) selbst hat es getan! „Wie ein Löwe zermalmt er all meine Knochen“ (38,13).

Man mag an das weisheitliche Buch Hiob denken, doch Hiob hatte unsäglich viel mehr zu erleiden, fühlte sich völlig ungerecht und grausam „von Gott“ behandelt, haderte mit „Gott“ und stritt mit ihm heftig. Im Anhang zum Buch wird erzählt, dass Hiob als gläubiger, gottesfürchtiger Mann rehabilitiert und reichlich belohnt sowie „entschädigt“ wurde, sofern man überhaupt für den grausamen Verlust der Familie, insbesondere der eigenen Kinder entschädigt werden kann!

Hiskias Leiden wird weniger dramatisch erzählt, wirkt aber nicht weniger ernsthaft. Vor allem klingt im Gebet (Psalm) des Königs von Juda etwas an, von dem viele Psalmen in der hebräischen Bibel tönen: Es handelt sich um den Zusammenhang, der auch in Erzählungen durchschimmert, zwischen Sünde und Krankheit – Krankheit als Erziehungsmittel durch „Gott“ oder gar als Bestrafung. Noch heute gibt es sogar Exegeten, die meinen, dass Hiskia (erst) „durch die Erfahrung der Rettung Gottes aus seiner Bitterkeit“ befähigt ist, „dieses heilsame Wort zu hören.“ Sie sehen den „Zusammenhang von körperlicher Genesung und spiritueller Erneuerung“.[3] Dagegen meint Joachim Begrich: „Hier den Gedanken des erzieherischen Leidens zu suchen, der Züchtigung zur Besserung, geht nicht an.“[4]

Dieses Denken wird bereits im Hiobbuch massiv infrage gestellt, viel später aber erst im Evangelium nach Johannes in beeindruckender und konsequenter Weise verworfen. Eine Episode aus dem Leben des Nazareners erzählt (Joh 9,1–3), wie Jesus einen Mann sieht, der von Geburt blind ist. Sogleich fragen Jesu Jünger: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde?“ Der Meister antwortet: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“

In diesem Kontext wird der Zusammenhang zwischen Lebenswandel (in Sünden) und Krankheit noch erheblich erweitert und gesteigert, indem sogar die starke Einschränkung eines Menschen durch das angeborene Fehlen des Gesichtssinnes, diese enorme Behinderung, ausgerechnet von Jüngern des Rabbi Jesus als Folge eines sündigen Verhaltens oder gar Lebens beurteilt wird.

Man sollte stets darauf hinweisen, dass „Sünde“ im Hebräischen und im Griechischen primär nichts Moralisches, in gewissem Sinn auch nichts primär Spirituelles oder Religiöses bedeuten muss. Vielmehr meint das griechische Wort „hamartía“ Zielverfehlung (ursprünglich beim Bogenschießen). Ziele kann jeder Mensch im Leben (mehrmals) verfehlen,[5] ohne deshalb als unmoralisch oder als ungläubig oder gar als kriminell gelten zu müssen. Freilich kann man schon falsch beurteilt oder gar verurteilt werden, wenn man auch nur anders ist, anders denkt oder etwas aus dem Rahmen einer Gemeinschaft fällt. Diesen Eindruck gewinnt man „leider Gottes“ auch in Kirchengemeinden, wo man sich schwer tut, einem Fremden und vor allem dem Fremden als solchen wahrhaft zu begegnen.

Diese zwischenmenschlichen Probleme beschäftigen Hiskia nicht, den Erzählungen in der Bibel nach ist er außen-, aber auch innenpolitisch sehr engagiert. Geschickt paktiert er mit assyrischen Königen, indem er sich (wie sein Vater Ahas) mal als ihr Vasall[6] ergeben anpasst oder hohe Tribute leistet oder aber stark opponiert, indem er sich einer Koalition von Nachbarstaaten anschließt[7] und sich auch mit Ägypten anfreundet. Der amtierende assyrische König Sanherib hat aber aufständische Stadtstaaten in Palästina erobert,[8] doch gerät er unter Druck durch die erstarkenden Ägypter. Außerdem muss er die Grenzen seines Gebiets sichern. Offenbar Gründe genug, dass er sich zwar Juda als Vasall und mit Auflagen von nun nicht gerade niedrigen Tributen gefügig machen kann, dass er sich aber nicht in gewünschtem Maße auf eine Eroberung Jerusalems konzentrieren kann. Es gibt aber noch andere Ursachen für Sanheribs Scheitern, Gründe für die Bewahrung Jerusalems.

Zuvor kann sich das Nordreich mit Samaria als Hauptstadt nämlich nicht mehr gegen die Assyrer behaupten und ist dem Niedergang ausgeliefert. Davon aber profitiert das Südreich Juda, weil viele Flüchtlinge ins Land, vor allem nach Jerusalem fliehen. Zudem erblüht Jerusalem wirtschaftlich. Man hat Grabanlagen entdeckt, „wo sich erstmals vornehme und aufwendig gestaltete Felskammergräber z.T. mit Inschriften finden lassen.“ Nun gehört „auch Juda zu den zentral verwalteten Staaten“, in denen sich Schriftlichkeit in Form von Inschriften, Siegel und Siegelabdrücken findet.“ Man erkennt „eine deutliche Urbanisierung“. Im Land werden Keramikgefäße massenhaft produziert; Vorratskrüge sind mit Stempelaufdruck versehen; auf denen findet man in Konsonantenschrift auf Hebräisch lmlk („für den König“), z.T. als Emblem eine geflügelte Sonne oder ein Skarabäus (königliche Insignien). „Sie lassen auf eine zentral organisierte Verwaltung der Steuern und Abgaben und auf gesteigerte Öl- und Weinproduktion schließen.“[9]

Die wirtschaftliche Prosperität Judas verdankt sich der Kooperation mit dem assyrischen Reich, das den internationalen Handel auf gesicherten Verkehrswegen ermöglicht. Der kluge König Hiskia lässt wegen der Bedrohung durch die Großmacht Assyrien die Schutzmauern der Stadt enorm erweitern und einen Tunnel graben, den man zu einem großen Teil noch heute begehen kann. Dieser Tunnel dient als überlebenswichtiges Wasserreservoir, indem er die Gihon-Quelle mit dem Siloah-Teich verbindet.[10] Diese dauerhafte Versorgung mit Trinkwasser ist von außen nicht angreifbar und stärkt die Kraft der Einwohner in Jerusalem durchzuhalten.[11]

Tatsächlich kann Sanherib die Stadt nur belagern, aber (701 v.d.Z.) nicht erobern. Jerusalem ist also gerettet; die Einwohner sehen darin ein deutliches Eingreifen JHWHs, ihres Gottes, wie er auch ihren König Hiskia von tödlicher Krankheit erlöst und geheilt hat. Die ganze Stadt reagiert überschwänglich; man hält sich fortan für unbezwingbar, weil JHWH ihren „Fortbestand auf Dauer garantiere“. Die Folgen solchen Glaubens („Gottvertrauens“) sind fatal. Juda wird flächenmäßig stark verkleinert; Jerusalem verliert wirtschaftlich und verkehrstechnisch wichtige Gebiete wie z.B. ein agrarisches Zentrum mit beachtlicher Jahresproduktion von ca. 1000 Tonnen.[12]

Nachdem Sanherib einige Städte, darunter auch die gut befestigte und florierende Stadt Lachisch, erobert hatte und nun auch Jerusalem einzunehmen drohte, bleibt Hiskia keine Wahl, als sich ihm zu unterwerfen. Die als „Rettung“ erscheinende Verschonung Jerusalems entpuppt sich als ein dubioser Erfolg. Juda wird später noch Teil des babylonischen Reiches. Aber in Jerusalem setzt man durch die Erfahrung von 701 voraus, dass die feindlichen Truppen „der Stadt nichts anhaben könnten.“ Falsche Propheten verkünden „den immerwährenden Frieden und die Unbezwingbarkeit Jerusalems“.

Der Prophet Jeremia schlägt Alarm, aber seine Warnungen finden kein Gehör. Jerusalem kann der militärischen Wucht der nächsten Großmacht, der Babylonier, nicht mehr standhalten. Mit dem Ausbleiben der Tribute an die Babylonier wird Jerusalem 597 bzw. 586 v.d.Z. „erobert, ein Teil der Bevölkerung deportiert und bei der zweiten Eroberung die ganze Stadt von Nebukadnezar dem Erdboden gleichgemacht.“[13]

Die Schriftsteller der hebräischen Bibel haben sich natürlich bei der Komposition und Redaktion ihrer Texte „etwas“ dabei gedacht; im Falle der Erzählungen, die sich um „Hiskia“ ranken, hat man eruiert: „Die ausführliche Darstellung der Erkrankung Hiskias während der Belagerung der Stadt und seine wunderbare Rettung (…) hat legendäre Züge und beruht auf späterer Tradition“. Sie verbindet Hiskias persönliche Geschichte (Krankheit und Gesundung) mit der bedrohlichen Situation Jerusalems und seiner Befreiung.[14] Die Textkomposition (sowie Paralleltexte,[15] assyrische Zeugnisse, archäologische Funde) zeigen aber großenteils historische Glaubwürdigkeit. Es ist aber auch klar, dass der König von Juda, Hiskia, sukzessive aufgewertet werden sollte „als von Gott begnadeter Herrscher (…), der die Stadt vor dem Feind bewahrte, ihren (importierten) Kult reformierte und als schwerkranker Mann dem Tode knapp entging.“[16]

Solche Erhebung oder Verherrlichung gibt es nicht nur aus dem Bereich der Politik – auch Künstler, Schriftsteller, Musiker, Philosophen, Filmemacher, Sportler u.a. werden auf ein Podest des Ruhmes und der Verehrung emporgehoben –, was ihnen nicht uneingeschränkt zusteht. Manche wollen es auch gar nicht! Jesus von Nazareth z.B. wollte gar nicht als Retter, Wunderheiler oder als König öffentlich gelten. Sein Reich (die Herrschaft Gottes) war „nicht von dieser Welt“.

À propos, Wunderheilung: Man mag fragen, ob z.B. die Heilung Hiskias in Jes 38 oder des Blinden in Joh 9 authentisch oder real sind. Wenn man generell an Wunder glaubt, ist das wohl kein Problem. Ich denke dabei nicht an alltägliche „Wunder“, wenn man z.B. nach scheinbar vergeblichem Suchen etwas wiederfindet, was einem wichtig, aber noch nicht mal unbedingt wertvoll ist. Oder wenn dem eigenen Kind endlich einmal eine „Zwei“ in einer Klassenarbeit gelingt; wenn Menschen es plötzlich schaffen, ihre manchmal unangenehmen Eigenheiten zu überwinden oder punktuell über ihren Schatten springen; wenn man selbst schier Unmögliches leistet, weil das Selbstbewusstsein stieg oder weil einfach die Zeit dazu reif war. Das sind gewissermaßen kleine und große Wunder!

Aber die Bibel und andere Weisheitsbücher muten uns aufgeklärten, modernen Menschen Wunder von dem Kaliber zu, die Hiskia (von tödlicher Krankheit genesen) und der Blinde (wurde sehend) real erlebt haben; so wird es zumindest erzählt. Meist begnügen wir uns in der Bibelauslegung damit, nach dem Sinn solcher Geschichten zu fragen. Kaum, selten wagt sich ein Exeget als Wissenschaftler an diese Wunder heran, weil sie alle uns bekannten Naturgesetze und medizinischen Erfahrungen durchbrechen, unser eingeschränktes Wissen oder unsere Hilflosigkeit offenbaren. Die meisten Menschen in den „hochentwickelten“ Industrieländern vertrauen auf Erkenntnisse und Praxis der Schulmedizin, wie sie an den Universitäten gelehrt wird. Sie hat ein international anerkanntes Renommée; man kennt aber auch ihre Defizite und ihr Versagen in einzelnen Fällen, mitunter gar in größerem Umfang. Die Betroffenen können davon berichten, wenn sie noch leben!

Medizin lebt wie jede Wissenschaft vom eigenen Fortschritt, von ihrer Geschichte; die Entwicklung beweist immer wieder, dass medizinischer Fortschritt möglich ist. Heute haben wir Krankheiten im Griff, die noch vor Jahrhunderten Millionen Menschen in kürzester Zeit dahingerafft haben. Dennoch ist auch eine große, aufrichtige Bescheidenheit angesagt. Man denke nur an dieses relativ neue Virus, das blitzschnell eine Pandemie ausgelöst hat, die soweit ich weiß, fast jedes Land der Erde erfasst hat. Es schränkt unser öffentliches, berufliches und privates Leben enorm ein.

Kommt es nicht einem Wunder gleich, dass vergleichsweise innerhalb kürzester Zeit ein Impfstoff nach dem anderen gegen Covid-19, das Corona-Virus, erfunden worden sind?! Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen arbeiten an Verbesserungen und Erweiterungen, auch zeitlicher Reichweite. Länder, die weltanschaulich, politisch, wirtschaftlich, kulturell und zum Teil religiös unterschiedlich sind, arbeiten international gemeinsam an ihrem eigenen Fortbestand.

Wir können m.E. nicht wissen, wie und warum genau Hiskia oder jener Blinde heil, gesund wurden. Vor allem sollte man Verallgemeinerungen vermeiden; nicht jeder oder sogar nur wenige werden geheilt, weil sie fromm sind und zu Gott beten. Der Blinde wusste gar nicht, wie ihm geschah, bevor es ihm Jesus versuchte zu erklären; seine Umgebung war voller Zweifel. Auch heute noch werden Menschen mitunter gesund, z.B. Krebspatienten, die eine Chemotherapie ablehnen, (aber auch nicht zu einem Heilpraktiker o.ä. gehen), ohne dass die Ärzteschaft mit einer Erklärung aufwarten kann.

Bei tieferem Nachdenken und Beobachten der Natur würden wir viel mehr Phänomene entdecken, als wir es jemals hätten erahnen können. Die treibenden, motivierenden Kräfte für diese Reisen in Welten, die uns noch verschlossen sind, für die wir aber offen sein können und sollten, bedürfen kindlicher Neugier und einer grundehrlichen Bescheidenheit, welche die eigene Begrenztheit, auch des Geistes, des Verstandes und Wissens, anerkennt. Menschen wie Albert Einstein verkörpern diese Eigenschaften, stoßen Türen auf, ohne gewusst zu haben, was sich Wunderbares (!) dahinter verbirgt.

Natürlich können auch persönliches Leid wie Krankheit oder Verlust eines geliebten Menschen etwas Wundersames bedeuten, indem sie eine unerwartete Wendung annehmen. Man zieht sich zurück, wählt die Isolation, möchte nicht mehr unter Menschen sein. Bestenfalls wird man allmählich wieder bereit, dem Beruf, der Arbeit nachzugehen; doch die Kommunikation selbst mit der Familie und mit Freunden beschränkt sich auf das notwendige Mindestmaß. Stellt die Umwelt sich darauf ein, findet der vom Leid Geplagte ganz ungeahnt allmählich wieder einen Zugang zur Gemeinschaft und redet vielleicht auch über sein Geschick.

Wenn gläubige Menschen angesichts einer todbringenden Krankheit zu ihrem „Gott“ beten und ihn um Heilung bitten und glauben, dass „Gott“ die Ursache für ihr tödliches Gebrechen ist sowie davon überzeugt sind, dass ihre „Sünden“ (Zielverfehlungen) der eigentliche Grund sind für die Krankheit – und von diesen Gedanken zeugt der Hiskia-Psalm im Rahmen der Hiskia-Jesaja-Erzählungen –, dann sind wir herausgefordert: Denn wir haben längst erfahren, dass nur wenige Menschen geheilt oder gerettet werden, auch wenn sie als Gläubige beten und ihren „Gott“ um Heilung bitten. Im Grunde gibt es keinen nachvollziehbaren Unterschied, auch nicht bei Sterbenden –, ob ein Mensch fromm ist oder nicht. Gläubige sterben auch nicht zwangsläufig oder automatisch leichter. Wer mit sich, mit der Familie, mit anderen Menschen, womöglich auch noch mit „Gott“ erst noch ins Reine kommen muss, dieser Mensch hat es so oder so nicht leicht.

Einst besuchte ich eine betagte Katholikin am Sterbebett, die wiederholt seufzte ob einer „Sünde“, die sie in der Jugend begangen hatte. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig um Verzeihung bitten. Aus meiner Sicht handelte es sich um eine Lappalie, aber für sie war es eine echte Belastung. „Aus dem Bauch heraus“ (intuitiv) sprach ich langsam und bedacht Worte aus Jesaja 43,1: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ Die Dame memorierte und wiederholte die Trostworte, atmete tief durch und sprach mit einem tiefen Seufzer: „Danke, Herr Pfarrer, danke!“ Ich hatte die Bibel nicht methodisch „eingesetzt“, auch vorher nicht, aber hier war ich sehr froh, weil ich selbst direkt nie diesen Trost hätte spenden können.

Dazu noch eine Geschichte, die auf einer Fortbildung der Gründer der Internationalen Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebenshilfe e.V. (Bingen am Rhein), Dr. Becker (Internist; Katholik), erzählte. Über mehrere Monate hatte er einen sterbenden, erklärten Atheisten begleitet; dieser ließ ihn eines Tages rufen und sagte: Herr Dr. Becker, so oft Sie mich besuchten, haben Sie nie über den oder Ihren Glauben gesprochen, aber heute will ich es tun; lassen Sie mir eine Bibel da! Der Sterbende hat nie mit dem Arzt darüber gesprochen, was er in der Bibel gelesen haben mag. Aber das ist die Wahrheit.

Wenn es angebracht ist, höre ich mich schon einmal sagen: Gläubig oder nicht – einmal müssen wir alle dran glauben! Das ist zunächst zum Schmunzeln, kann uns aber auch nachdenklich stimmen und irgendwann ist niemandem mehr zum Lachen. Hiskia nimmt seine todbringende Krankheit und seine Isolation „aus Gottes Hand“, gibt sich dabei aber nicht auf, findet den Mut zur Klage und hält JHWH seine lebenslang aufrichtige Haltung und seinen gottesfürchtigen Lebenswandel vor. So mutig und selbstbewusst, so ehrlich und dankbar gegenüber seinem „Gott“ ist er, nachdem JHWH ihn geheilt hat. Man behauptet, jeder Mensch sei religiös; ich denke nicht, abgesehen davon, dass es noch nie gelungen ist, Religiosität eindeutig zu definieren. Das ist wohl auch eine theoretische Sache.

Aber wie begegne ich selbst einer tödlichen oder unheilbaren Krankheit? Wie finde ich den Ausgang in eine andere Dimension? Denn ich möchte mir schon wünschen, am Ende nicht nur mit Hilfe der Apparatemedizin „weiterzuleben“. Heutzutage ist die Patientenverfügung eine Hilfe; man sollte sich rechtzeitig informieren. Wie vermutlich viele Menschen habe auch ich Angst vor dem Sterben. Keine Theologie, Philosophie oder Psychologie kann mir diese Angst nehmen.

Die Ungewissheit: Was geschieht mit der Familie, wenn ich „nicht mehr da bin?“ Was kommt danach? Wie werde ich die andere Dimension erleben, falls ich überhaupt noch existiere? Ich habe Fragen, auf die ich keine befriedigenden Antworten erhalte, aber was bleibt, ist Erwartung und Offenheit für das noch Unbekannte. Ich finde es suspekt, wenn ich pausbäckige Gewissheiten des Glaubens zu hören oder zu lesen bekomme. Allerdings gibt es auch authentische, glaubwürdige Geschichten, die das Leben schreibt (auch literarisch) und mich auf ihre Art durchaus ansprechen. Dazu gehören auch der Hiskia-Psalm und Teile des Hiobbuchs.

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

Bonn

E-Mail: bautzprivat@gmx.de

Pfarrer „im Unruhestand“

[1] Raik Heckl: Hiskia (2012), wibilex: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/21346/ Anders datiert Barbara Schmitz: Geschichte Israels (2., aktualisierte Aufl. 2015): König Hiskia (727–698), S. 104ff.

[2] Cf. Zürcher Bibel (2007), z.St. (S. 975); Willem A.M. Beuken: Isaiah II. Vol. 2: Isaiah Chapters 28–39, HCOT (2000), z.St. (S. 378 u. 400f); BHS (3., verb. Aufl., verkl. Ausg. 1967/77), z.St. (S. 733). Luthers „Übersetzung“ von Jes 38,17a: „Siehe, um Trost war mir sehr bange“ lässt sich weder von BHS, noch von LXX, noch von Vulgata ableiten. Diese zwar wohlmeinende Paraphrase ist vielleicht „dem Volk aufs Maul geschaut“, trifft aber nicht den Sinn des Verses.

[3] Lida Leonie Panov: Hiskijas Geschick und Jesajas Beistand. Heilstheologische Verarbeitungen der Jesajaüber-lieferung in den Hiskija-Jesaja-Erzählungen, AThANT 110 (2019): (C. 3.) Die zweite Hiskija-Jesaja-Erzählung, 99–107; (4.) Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Jesajabuch (107–124): (4.5) Der Hiskija-Psalm in Jes 38,9–20, S. 122–123: 123 (A. 365).

[4] Joachim Begrich: Der Psalm des Hiskia. Ein Beitrag zum Verständnis von Jesaja 38,10 – 20), (1926): (II.) Text, Übersetzung, Gesamterklärung, Schlussbemerkungen, 51–68: 59.

[5] Die hebräische Bibel verwendet häufig Verfehlung („…“; Sünde); andere Wörter für „Sünde“, s. Jörn Kiefer: Sünde /Sünder (AT) (2017), wibilex: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31970/

[6] Reettakaisa Sofia Salo: Vasall/ Vasallität (2020), wibilex: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/33975/

[7] Vorübergehend stellt Hiskia Tributzahlungen ein; Siegfried Herrmann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (2., überarb. u. erw. Aufl. 1980): (II.) Die Königreiche Israel und Juda (9.) Juda bis zum Regierungsantritt des Josia, 314–322: 316.

[8] S. Herrmann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (1980), 317.

[9] B. Schmitz: Geschichte Israels (2015), S. 105–106.

[10] Wolfgang Zwickel: Die Welt des Alten und Neuen Testaments. Ein Sach- und Arbeitsbuch (1997): Jerusalem und See Genezareth: Zentren biblischer Geschichte, 92–100: 94–95.

[11] TRE 15 (1986), Art. Hiskia, 398–404 (Siegfried Herrmann): Innenpolitik Hiskias und seine Bautätigkeit, 400–402: 401–402. Bis heute beschäftigt sich die atl. Wissenschaft intensiv mit Hiskia und seiner Zeit.

[12] B. Schmitz: Geschichte Israels (2015), S. 105–106.

[13] W. Zwickel: Die Welt des Alten und Neuen Testaments (1997), 95.

[14] Man sieht eine „Wechselwirkung zwischen der „Rettung Jerusalems und des Königs“; L.L. Panov: Hiskijas Geschick und Jesajas Beistand (2019): (B.) Der Überlieferungsbefund zu Jes 36–39, S. 59–94; (C.) Position und Funktion der Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Jesajabuch und in den Königsbüchern, S. 95–149: (6.) Theologische Konzeptionen im Jesajabuch und in den Königsbüchern (6.3) Die Rettung Jerusalems und des Königs – eine Wechselwirkung, 143–145.

[15] Raik Heckl: Die Errettung des Königs durch seinen Gott. Die literarische Quelle der Gebete Hiskijas im Kontext von 2 Kön 19f (par.) und ihre Rolle bei der Ausformulierung des Monotheismusbekenntnisses, in: Mensch und König. Studien zur Anthropologie des Alten Testaments, hg.v. Angelika Berlejung/ Raik Heckl, HBS 53 (2008), 157–170; L.L. Panov: Hiskijas Geschick und Jesajas Beistand (2019): (B.) Der Überlieferungsbefund zu Jes 36–39, S. 59–94; (C.) Position und Funktion der Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Jesajabuch und in den Königsbüchern, S. 95–149.

[16] TRE 15 (1986), Art. Hiskia, (S. Herrmann): 400.

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