Jesaja 40,1-11

Jesaja 40,1-11

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Advent, 17.
Dezember 2000

Predigt
über Jesaja 40,1-11, verfaßt von Dankwart Arndt


Vorbemerkungen

Liebe Gemeinde!

Kürzlich tauchte in den Medien die Frage auf, ob unser Land
auf dem Weg in eine „Koks“-Gesellschaft sei, auf dem Weg in elende
Abhängigkeiten von Drogen, die Überforderungen erträglich
erscheinen lassen sollen und die bittere Wirklichkeit schönen – auf dem
Weg also in eine besonders heimtückische Art von Gefangenschaft; eine
neben manchen anderen.

Es gibt ja – leider – kaum ein anderes Bild, kaum andere
Vorstellungen, die aktueller wären als „Gefangenschaft“ und
„Gefängnis“. Unsere Welt ist geradezu übersät mit Lagern, in
denen Menschen eingesperrt sind. Einzelne, Familien, Volksgruppen ganze
Völker werden hinter Gittern gehalten, abgeschnitten, abgeschnürt vom
Leben, geduckt, gefoltert, entwürdigt, sich selbst so fremd geworden,
daß sie sich eines Tages selbst nicht wiedererkennen. Eine beklemmende
Landschaft, die sich vor nüchtern beobachtenden Blicken auftut.

Ebenso beklemmend, ebenso düster und bedrückend eine
andere Landschaft, sie freilich nicht offen vor Augen liegend, nicht in jeder
Nachrichtensendung gegenwärtig, eher versteckt: ein weites Feld trauriger
Gefangenschaften: Ketten, deren Klirren unhörbar ist, vor Fenstern Gitter,
die unsichtbar sind. Elende Gefangenschaft, gefesselt zu sein an schlimme
Charakteranlagen, wie mit Fußfesseln gebunden zu sein an böse
Erlebnisse und bittere Erfahrungen und also den Schritt zu neuem Vertrauen
nicht wagen zu können. Elende Gefangenschaft, verbannt zu sein in den
Käfig unstillbarer Wünsche und übermächtiger dunkler
Triebe. Elende Gefangenschaft, gekettet zu sein an Ängste – Angst vor
unheilbarer Krankheit, Angst vor entlarvendem Versagen, Angst vor
Leistungsabfall, Angst vor erfolglosen Erziehungsbemühungen, Angst vor zu
großen Erwartungen und Anforderungen und davor, von ihnen zerrissen zu
werden, Angst sich selbst bis in tiefe Abgründe zu entdecken, Angst nicht
zuletzt vor den mannigfachen globalen Verwerfungen und Schieflagen. Schwer zu
ertragen und bitter, im Exil leben zu müssen, fernab von Quellen des
Lebensmutes und der Lebensfreude, fernab von einem festen tragenden
Lebensgrund, fernab davon, ganz bei sich selbst zu sein, ganz zu Hause,
heimatlich.

Viele und mannigfache Gefangenschaften. Viele und mannigfache
Exile, in die Menschen verbannt sind oder die doch drohen. Woher kommen Hilfe
und Trost? Kann sich – konkret gefragt – eine „Koks“- Gesellschaft alleine, aus
sich heraus, aus eigener Kraft in eine „Trost“- Gemeinschaft wenden?

Die Gemeinde Jesu Christi, die Kirche, hat es zur Zeit mit dem Ihr
aufgetragenen Trost-Amt nicht gerade leicht. Sie steckt in einem Zwiespalt.
Einerseits begegnet sie mild lächelndem Achselzucken, wenn sie – in ihren
eigenen Reihen oder nach außen hin – Trost anbietet; weithin meint man,
„billige Vertröstung“ zu vernehmen, die „hinweg“-trösten, einlullen,
betäuben und ablenken wolle von der harten Wirklichkeit erlittenen
Schmerzes und erfahrenen Unrechts. Andererseits aber beobachtet Gemeinde
intensive Suche nach Trost, beobachtet dabei freilich auch die
Vergeblichkeiten, wenn Geschäftigkeit, Arbeitswut, Flucht in Räusche
trostlose Leere füllen sollen. Gemeinde begegnet freilich auch herzlichem
Dank, wenn Trost gefunden wurde.

Ist also da ein Weg – und wo ist er -, aus der „Koks“-Gesellschaft
in eine -Trost“-Gemeinschaft zu finden, aus Verbannungen in Freiheit, aus
Exilen in die Heimat? In die Situation elender Gefangenschaft, in die Situation
trostlosen Exils sind die Worte des „zweiten Jesaja“, die Worte dieses
Trost-Propheten zum ersten Mal gerufen worden; und seither haben sie unendlich
viele Herzen erreicht und erlöst: „Tröstet, tröstet mein Volk!“
Verkündet, daß seine Knechtschaft ein Ende hat. Babylonische
Gefangenschaft, Gottes Volk Israel war gefangen, verbannt, exiliert, dezimiert.
Es saß In der Verbannung und war verzweifelt an seinem Frondienst. Es war
heil-los verloren, abgeschnitten von seinem Heil; denn der Tempel war
zerstört; dem Gottesdienst, der Feier der Gottes-Gegenwart bei seinem Volk
war der Boden entzogen. Boden-lose Verlorenheit!

In diese trostlose Lage hinein wird dem Volk Gottes ein Trost-Wort
zuge-mutet. Eine Zu-mutung ist es! „Tröstet, tröstet mein Volk,
spricht euer Gott.“ Unglaublich diese Botschaft. Unglaublich nicht nur in den
Ohren der Exilierten; unglaublich auch für den Prediger, der diese
Trostbotschaft verkündigen soll: „Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist
Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Feld. Das Gras
verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herren Odem bläst darein. Ja, Gras
ist das Volk.“ Aus ihm – wenn es einmal verdorrt ist -kann frisches Leben nicht
erwachsen. Was sollen denn auch Worte – selbst Trostworte – in weiter,
heißer, wasserloser Wüste?! Was sollen Versuche der Selbstbefreiung,
wenn eine leere Weite gähnt, die keinen Orientierungspunkt hergibt, die
ohne Halt und Anhalt läßt?! „Was soll ich predigen?“ was helfen
Worte, wenn wir vor einem riesigen, unverrückbaren Berg stehen, und wir
wissen nicht, wie wir ihn überwinden können: schwere Lasten der
Verantwortung für die Nächsten, für Ferne, für das Ganze.
Ratlos stehen wir vor dem Berg, der den Horizont der Zukunft verdunkelt: tiefe
Verwerfungen in der Frage gerechter Verteilung der Güter dieser Erde,
globale gefährliche Schieflage bei dem, was am einfachsten scheint, weil
doch niemand „dran drehen“ kann – beim Wetter, bedrohliche Verwerfungen bei
dem, was man Nahrungsmittelkette nennt, Verwerfungen, wenn es um die Frage
geht, Risiken des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts abzuschätzen.
„Was soll ich predigen?“ Alles Fleisch ist doch wie Gras. Guter Wille und
richtige Teilerkenntnisse drohen unter der Glut von Egoismen zu verwelken;
prachtvoll-bunte Blüten guter Vorschläge und Pläne drohen zu
verdorren unter dem Einfluß von Kurzsichtigkeit und Kurzatmigkeit. „Was
soll ich predigen?“ Sind Worte, über die ich verfüge, nicht wirklich
doch nur haltlose Vertröstung? Ja, sie sind es! Ja, Gras ist das Volk!

Hier aber nimmt nun ein Anderer – der „ganz Andere“ – das Wort:
„Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Sein Wort
tröstet nicht über Bitternis hinweg; es tröstet nicht von oben
herab, es ist nicht „billig vertröstendes“, sondern teures Trostwort. Denn
es kommt aus der Tiefe des Mitleidens, des Miterlebens, des Mitfühlens:
die Schuldige hat „doppelte Strafe empfangen“. Es ist das Wesen wahren Trostes,
daß zunächst nichts beschönigt, nichts verklärt wird.
Wirklicher Trost ist wahr und wahrhaftig! „Redet mit Jerusalem freundlich und
predigt ihr, daß Ihre Knechtschaft ein Ende hat, daß ihre Schuld
vergeben ist.“ Knechtschaft, Verbannung, Gefangenschaft und Schuld, Verfehlung,
Versagen, Sünde: sie gehören zusammen wie Ursache und Wirkung. Exil
ist Schicksal und Schuld. Gebunden zu sein, trostlosen Situationen ausgeliefert
zu sein, abhängig, gefesselt zu sein von versklavenden Mächten – das
alles ist immer auch Folge schuldhafter Verstrickung, immer auch Folge von
Versagen. Gewiß sind die einzelnen Fäden nicht immer zu lösen
aus den Verknotungen von verfehlter Aktion und verfehlter Reaktion; nicht immer
deutlich voneinander zu unterscheiden und zu scheiden sind die einzelnen
Fäden in den Verstrickungen von Reiz und Verletzlichkeit, von Leichtsinn
und schwerem – zu schwerem – Rückschlag. Wahres, wahrhaftiges Trostwort
vertröstet nicht „hinweg-über“, sondern es geht hindurch durch
bittere Erkenntnis und schmerzliche Anerkenntnis von Schuld.

Dann aber wird es auch kräftig und energisch – das Trostwort!
Und es setzt neue Anfänge. Der Prophet wird Ohrenzeuge – wir wissen nicht,
wie, und wir wollen es auch nicht zu erklären versuchen – er wird
jedenfalls Ohrenzeuge, wie der Herr und Heiland dieses Volkes eine Hilfs- und
Rettungsaktion für sein Volk vorbereitet. Der Zug der Exilierten aus der
Verbannung in die Freiheit wird das entscheidende Geschehen einer Zeitepoche
werden, in der eine gewaltige, die antike Welt erschütternde Umschichtung
der machtpolitischen Verhältnisse am Horizont der Geschichte auftaucht.
Ein neuer Herrscher – König Kyrus – und ein neues Volk – die Perser –
werden auf den Plan treten und die Macht bedrohen, die dem Volk Israel die
„Babylonische Gefangenschaft“ hat bereiten müssen. Dem Propheten sind die
Augen geöffnet dafür, hinter dieser in der Weltgeschichte sich
anbahnenden Umschichtung die richtende und aufrichtende Hand Gottes zu
entdecken. Mitten durch die Wüste, die drohend und trennend zwischen dem
Ort der Verbannung und der Heimstatt Jerusalem liegt, wird eine gewaltige
Triumphstraße freigegeben werden und das Landschaftsbild grundlegend
verändern: „Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und
Hügel sollen erniedrigt werden…“ Auf dieser Straße wird das Volk
an die Quelle seines Lebens – zum „neuen“ Tempel mit seinen „schönen“
Gottesdiensten – zurückfinden können.

Wohl ist alles Fleisch wie Gras; aber das Wort Gottes steht und
bleibt bestehen. Deshalb soll diese Predigt laut werden: Schuld ist vergeben,
der Kerker ist aufgebrochen, die Ketten sind gesprengt. Die Zeit der Strafhaft,
die Zeit der Ferne, die Zeit des furchtbaren, in Trostlosigkeit stoßenden
Schweigens Gottes ist abgelaufen. Täler werden aufgefüllt, Hügel
eingeebnet. Der Rettungsweg wird freigegeben.

Will das Volk seinerseits nun auch heraus aus der Verbannung, dann
muß es diesen Weg unter die Füße nehmen: 2000 Kilometer. Trost
empfangen wollen heißt, bereit sein zum Aufbruch, heißt losgehen
„aufs Wort hin“, heißt den noch unbekannten Weg wagen. Trost empfangen
wollen heißt, Bindungen aufgeben, Vorurteile und Urteile verwerfen, auch
wenn sie – obwohl sie drücken – doch auch Halt zu geben scheinen.

In dem längst vergangenen Geschehen damals auf der
Triumphstraße zwischen Babylon und Jerusalem , – in diesem Geschehen ist
vorabgebildet ein anderes, auch unsere Gegenwart noch umfassendes, umgreifendes
Geschehen: in dem Freiheitsweg, den das machtvolle Wort des Herrn damals
geöffnet hat, ist vorabgebildet ein anderer, ein wundersamer, ein schier
unglaublicher Weg. Wenn die Gemeinde des „zweiten“ Bundes, – wenn das Volk, das
in Christus Jesus Gottes Volk geworden ist, – wenn die Gemeinde, die nach
Christus genannt ist, dieses Trostbuch des Jesaja aufschlägt und seine
Verheißung hört, denn preist sie einen Weg, der als Triumphweg nicht
„allem Fleisch“ in die Augen fällt. Sie bewundert und preist den Weg
Gottes in die Niedrigkeit. Sie bekennt: Der Tröster selbst ist ins Exil
gegangen; er selbst hat sich gefangen gegeben; er löst Fesseln, indem er
sie sich selbst anlegen läßt; er zerreißt Ketten, indem er
sich selbst an sie schmieden läßt; er bricht
Gefängnistüren auf, indem er zuvor selbst sich einkerkern
läßt. Gott im Menschen Jesus an der Seite der in Trostlosigkeit
Verbannten. Ein Hirte, der sich vor die Seinen stellt, sie sammelt, sie in sich
birgt und dabei seinen Namen, seine Ehre, Leib und Leben aufs Spiel setzt. Ein
Tröster, der die Ungetrösteten in ihrem Schmerz, in ihrer Tiefe
aufsucht und sie so aus der Tiefe heraus hebt und trägt. Das ist euer
Gott! Sein letzter, sein letztgültiger Triumphweg endet am Kreuz! Uns
zugut! Seine Herrlichkeit hat er – vor den beweisgierigen und garantiegierigen
Augen unvernünftiger Vernunft – verborgen: Herrlichkeit in Niedrigkeit. Er
ist unseren Tod gestorben und hat uns so mit sich selbst versöhnt.

Deshalb können Menschen nun ihrerseits mit sich versöhnt
sein, mit dem, was sie sind; begrenzte, fehlerhafte, sterbliche, schwankende
Geschöpfe, sich selbst – bisweilen erschreckend – fremd,
zusammengeschnürt von Befürchtungen und Sehnsüchten, so
verformt, daß sie oft ausrufen: wir kennen uns selbst nicht wieder!
Warmherzig, unendlich freundlich und geduldig wirbt und lockt der, der allein
wahren Trost bereit hält: „Tröstet, tröstet mein Volk! Redet
freundlich mit ihm.“ Und: „Predige!“ Fürchte dich nicht vor Spott und
Kopfschütteln, nicht vor Mißverständnis und Ablehnung. Steige
auf einen hohen Berg und erhebe deine Stimme! Nimm, das Trostwort
verkündigend, an und auf deine und deiner Hörer widerstreitenden
Gefühle: Angst und Übermut, Stolz und Verzagtheit, wilden Mut und
Müdigkeit; trage und halte sie in dem Kraftbereich der
Verheißungsworte; Berge von Angst werden sie je und je abtragen,
Schluchten des Unverständnisses und des Hasses werden sie je und je
zuschütten können. So und gar nicht anders: durch Sein lebendiges,
gültiges Wort der Vergebung kommt wahrer, kräftiger, verwandelnder
Trost. Und so kommt dann der Tröster ans Ziel: daß Menschen
Getröstete werden, daß sie „bei Troste“ sind.

Das hat wunderbare, heilsame Folgen: wer getröstet ist,
vermag seinerseits zu trösten, die des Trostes bedürfen. Wer in
Ordnung gebracht ist, kann in Ordnung bringen; wer befreit ist, kann Türen
zur Freiheit auftun und zur Freiheit anleiten; wer auf der vom Herrn geebneten
Straße, aus seinen Gefangenschaften herausgeführt wurde, wird selbst
Wege ebnen können; wer verstanden ist, kann verstehen und Gräben des
Unverständnisses zuschütten; wer erhört ist, kann hören,
zu-hören. So werden dann Straßen des Heils gebaut, so Bahnen
geebnet. Straßen und Bahnen, die Menschen nicht auseinanderreißen
und die nicht zerschneiden, was zusammengehört, sondern Straßen
heilsamer Begegnungen und Bahnen, auf denen ein Zueinander und Miteinander
möglich wird. Gott geht ein ins Exil. Er geht ein in scheinbar trostlose.
scheinbar endgültige Verbannungen. Nun brauchen wir sie nicht mehr zu
fürchten; sie können nicht mehr bannen. Sie werden unter dem
segnenden Wort „Tröstet, tröstet mein Volk“ verwandelt. Wir selbst
werden unter diesem Wort erneuert, werden Menschen, deren Knechtschaft aus
lauter Gnade und Barmherzigkeit beendet ist, weil ihnen Schuld vergeben ist.
Wir können zu einer „Trost-Gemeinschaft“ werden, lebendig und brauchbar
für unsere Nächsten und für das Ganze.

Amen

Vorbemerkungen:

1. Exil, Verbannung werden interpretiert als Ur-Situation des
Menschen. Ebenso wie der Stoßseufzer „Um Trost war mir sehr bange“.

2. Die Strukturen und Stufen des Gottes-Trostes im „ersten“ und im
„zweiten“ Bund sind die gleichen: Erkenntnis und Eingeständnis von Schuld;
Befreiung aus Gefangenschaft von außen; Wagnis des Empfangens von Trost.

3. Die Wege, auf denen Trost in Trostlosigkeiten wirksam wird,
sind im „ersten“ und im „zweiten“ Bund verschieden gesehen. Die
Triumphstraße – im „ersten“ – ist verborgen – im „zweiten“ – unter dem
Weg in die Niedrigkeit.

4. Seit Christum natum sind „die vielen“ „mein Volk“; denn Gott
will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der
erlösenden Wahrheit finden.

Pastor i.R. Dr. Dankwart Arndt
Auf dem Breckels 1
24329
Grabin


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