Philipper 4, 4-9

Philipper 4, 4-9

Freuet euch in dem Herrn alle Wege,
und abermals sage ich euch: Freuet euch!
Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!
Der Herr ist nahe!

Sorgt euch um nichts,
sondern in allen Dingen laßt euer Bitten
in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Liebe Gemeinde,

angesichts des Krieges über die Freude predigen? Kann man das
wirklich? Und was bedeutet im 21. Jahrhundert ‚angesichts‘ des
Krieges? Wir sind gezwungen, den Krieg zu glauben, aber wir sehen nur
Staub, Steine, Trümmer, grünliche Blitze vor einem Nachthimmel
und – keinen Menschen, kein einzelnes Schicksal, wir sehen nichts und
hören doch und müssen daran glauben.

Mitten im Krieg über die Freude predigen? Kann man das überhaupt?
Über diesen fröhlichen, erwartungsvollen Text, der sonst am
vierten Advent ausgelegt wird?
Wir sind voller Erwartungen, aber nicht freudestrahlend bewegt von adventlicher
Hoffnung auf den, der Frieden bringt, sondern erfüllt von Vorahnungen
und Vermutungen, Behauptungen und Befürchtungen, und wurden doch
in den letzten Wochen trotz aller Gefaßtheit vom unerwarteten
Grauen überholt.

Soll man überhaupt predigen im Krieg? Wer kann sich anmaßen,
Worte zu haben für das, was nicht zu sehen ist und doch so entsetzliche
Gewißheit? Könnte jemand in Amerika oder Afghanistan oder
an den anderen Orten auf der Welt, wo der plötzliche, gewaltsame
Tod ein Dauergast ist, der die Medien nicht mehr interessiert, könnte
jemand dort Worte von der Freude überhaupt noch hören?

„Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!“ Ist
das nicht entweder zynisch oder zwecklos naiv?
Aber das Reden von der Güte Gottes muß beginnen, damit einmal
Waffen schweigen. Wir können nicht warten, bis die Waffen verstummen,
sonst verstummen sie nie. Christen hoffen gerade deshalb auf Gott, weil
die Welt in den letzten Wochen von allen guten Geistern verlassen scheint.

Gerade jetzt aber, liebe Gemeinde, kommt es darauf an, daß die
Welt nicht von allen guten Geistern verlassen wird. Woher sollte ein
guter Geist kommen, wenn nicht Christen im Gebet und in ihrer weltweiten
Gemeinschaft diesem Geist des Friedens, der höher ist als unsere
Vernunft, eine Zuflucht bieten?

So steht im Philipperbrief ja auch nichts, was gegen den Augenschein
spricht, was angesichts der Spirale von Gewalt Lügen gestraft werden
müßte. Paulus sagt nicht:
Freuet euch auf allen Wegen der Welt,
und abermals sage ich euch: Freuet euch an euren eigenen Wegen.
Eure Qualität laßt kund werden allen Menschen!
Denn die Menschen sind so vernünftig und friedfertig!

… sondern: Der Herr ist nahe. Keine andere Hoffnung kann es derzeit
geben, wenn der Glaube an das Gute im Menschen so sichtbar und grausam
und nachhaltig zerstört wird, dort, wo dieser Glaube noch nicht
längst aufgegeben werden mußte.

Die Hoffnung auf den Herrn, gerade diese Hoffnung haben die Menschen
bitter nötig,
dass jemand etwas anderes sagt, als alle sagen, obwohl sie wenig wissen,
dass jemand etwas anderes hofft, als alle befürchten, denn Angst
lähmt,
dass jemand mehr sieht als die Welt, die die Medien zeigen,
dass jemand noch an etwas anderes überhaupt denkt als an Krieg,
Streit und Tod,

Christen hoffen auf einen Frieden, den noch niemand erlebt hat,
einen Frieden, der nicht nur im Waffenstillstand der Militärmaschinerie
besteht – und wieviel wäre das schon!,
einen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft.

Aber was kann Paulus aus fernen Zeiten zu uns herüber geben an
Wissen von diesem übervernünftigen Frieden?
Paulus lebte – notgedrungen durch viele Feinde seiner Mission – mit
seinen Freunden aus Philippi in einer geistigen Gemeinschaft.
Sie waren nicht nur getrennt durch die Weite des Meeres, die Beschwerlichkeit
des Reisens und die Gefahr der Wege, sondern auch durch Gefängnismauern
und Todesdrohungen. Aber – Gott sei Dank – hatten sie eine Kraft, die
dieses alles überwand: Sie lebten gemeinsam in Gottes Frieden,
höher als die fesselnden Mauern, weiter reichend als die entferntesten
Freunde hofften.

Heute sind Christen und Christinnen eine unübersehbare, weltweite
Gemeinschaft – dieser Grund zur Hoffnung fehlte Paulus noch. Der Brief
an die Philipper darf in seiner heute weltweiten Verbreitung nicht darüber
hinwegtäuschen, daß es sehr wahrscheinlich nur eine kleinere
Hausgemeinde gewesen ist, die sich unauffällig verhielt, die nirgends
‚präsent‘ war oder über Medien etwas kundtun konnte.
Der Frieden, höher als unsere Vernunft, beginnt im kleinen. Unser
globalisiertes Denken läßt es allzuschnell vergessen, daß
uns die Hände zum Guten nicht gebunden sind, es braucht nur zwei
oder drei für den beginnenden, großen Frieden.

Liebe Gemeinde,
Philippi war seine erste Liebe in Europa gewesen … nicht Thessalonich,
– obwohl er auch der Gemeinde dort tiefsinnige Briefe geschrieben hat
-, nicht Athen, wo er in philosophische Debatten verwickelt war, nicht
Olympia, dorthin schaffte er es gar nicht, auch nicht Korinth, obwohl
er so sehr um die Gemeinde rang.

Philippi … eine unscheinbaren Stadt im Norden Griechenlands … genannt
nach Philipp von Mazedonien, dem Vater des großen Alexander …
dort war er so freundlich aufgenommen worden wie nirgends sonst, dort
hatte er die tiefsten Freundschaften geschlossen.

Paulus hat die Gemeinde in Philippi offenbar besonders geschätzt,
und die Menschen dort – um Gottes willen – geliebt … und sie ihn …

In der Apostelgeschichte des Lukas ist von den äußeren Umständen
zu lesen: Wie Paulus in Philippi von einigen Bürgern, vor allem
von Frauen, freundlich empfangen wurde, und doch in Schwierigkeiten
geriet, weil er sich für eine Sklavin einsetzte, die ihren Herren
lukrative Dienste als Medium leistete. Denn:
Wer setzt sich schon für eine Sklavin ein, und riskiert sein eigenes
Ansehen, sein römisches Bürgerrecht?
Wie Paulus damals mit seinem Begleiter ins Gefängnis gebracht wurde,
aber in der gleichen Nacht noch freigelassen, als ein Erdbeben die Stadt
erschütterte; so beschreibt es die Legende.
Offenbar aber hat die Solidarität mit einem rechtlosen, wehrlosen
Menschen, dieses unvermutete, ungeplante Erbarmen eine Erschütterung
bewirkt, die die Menschen in Philippi für Paulus eingenommen hat,
so dass sie davon wie von einem Erdbeben erzählten. Aber das ist
nur die äußere Hülle der Geschichte, die heute fast
vergessen ist.

Daß Paulus den Philippern nahekam, lag wohl doch an dem tiefen
Frieden, von dem sie hörten, ohne betört zu werden, ohne belogen
und betrogen zu sein.
Ein Frieden der höher ist als die Vernunft, also eine andere Quelle
hat als
ein Vertrauen zwischen Menschen, das ein Leben lang Zeit zu wachsen
hatte; die Philipper hatten Paulus nie zuvor gesehen, ehe er nach Europa
kam,
anders als Menschen, die sich von Kindesbeinen an kennen,
anders als Leute, die ein gemeinsames Leid zusammenschweißt, die
mit der Kraft der Verzweiflung sich selbst zu helfen versuchen,
die gegenseitige Zuneigung kam auch nicht aus den Vorzügen einzelner,
aus weltbewegenden oder auch nur -verändernden Taten. Sie haben
wohl gespürt: Der Frieden, den Paulus verkündet, liegt nicht
in menschlichen Händen, auch Paulus hat ihn nicht einfach gebracht
(o nein!), er ist nicht zu machen, er ist zu empfangen.

Nun schreibt Paulus einen Abschiedsbrief an seine Freunde … aus der
Gefangenschaft in Rom, er weiß, dass er nicht mehr zurückkehren
wird in den Norden Griechenlands, nach Philippi, nach menschlichem Ermessen,
… Es sind letzte Worte, und deshalb wiegen sie um so schwerer.

Paulus, ganz erfüllt von diesem größeren Frieden, denkt
weit über sein Ende hinaus, weil er auf Gottes Ewigkeit, sein neuschaffendes
Wort vertraut:
Sorgt euch um nichts,
sondern in allen Dingen laßt euer Bitten
in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Es sind sehr herzliche, ganz persönliche Worte, vor allem aber
der Zukunft zugewandt: Eure Güte, eure Freundlichkeit laßt
auch fürderhin alle Menschen spüren. Laßt viele eure
Freundlichkeit spüren, vertraut dem Frieden, auch wenn ich nicht
mehr bin.

Liebe Gemeinde,
der übergroße Frieden gilt jedem Menschen, nicht nur in Philippi.
Wenn mir das nun ein Mensch sagt: Laß Deine Freundlichkeit andere
spüren … dann frage ich mich immer: Was weiß der andere
denn wirklich von mir? Wie kann man mich freundlich nennen? Ich kenne
doch meine Zerrissenheit, meine Unklarheit, meinen Mißmut. Oder:
Ich bin nicht so ausgeglichen, wie ich vielleicht manchmal wirke, wie
ich vor allem auf die wirke, deren Herz noch viel mehr umgetrieben ist
als meins.
Es gibt dann auch noch die Menschen, bei denen es mir ganz schwerfällt,
einigermaßen freundlich zu bleiben, den Anstand zu wahren, mich
nicht über alles aufzuregen … meine Freundlichkeit ist mir nicht
selbstverständlich, keine zweite Haut, aus der ich nicht herauskönnte.

Ich brauche die Besinnung auf den Frieden Gottes, der höher ist
als meine und aller anderen Leute Vernunft, um an die Hoffnung auf Frieden
zu glauben. Die Friedlosigkeit in meinem Herzen und die unaufhörlichen
Kämpfe und Kriege unter den Völkern der Welt können ja
kein Vertrauen einflößen geschweige denn, den Frieden dauerhaft
bewahren.

Deshalb betreiben wir auch keine Autosuggestion, wenn wir uns den Frieden
Gottes zusprechen, in jedem Gottesdienst, nach jeder Predigt. Sie wäre
viel zu schwach gegen die Friedlosigkeit der Menschheit.
Ich habe es – Gott sei Dank – anders erfahren: In der gemeinsamen Besinnung
auf Gottes Wort, das allen Menschen Frieden und Freiheit verheißt,
erlebe ich ein gegenseitiges Vertrauen, das mich zu-Frieden-stellt.

Ich kann nicht zu-Frieden sein, wenn ich alles habe oder alles kann,
schon gar nicht, wenn ich andere besiegt habe.
Wir werden zu-Frieden, so die für uns in diesen Tagen viel zu neue
Botschaft des Paulus, wenn wir Liebe und Vertrauen nicht umbringen –
gerade weil es überall daran fehlt: an Verständnis und Toleranz,
an Solidarität und die Möglichkeit, das wirklich Gute zu tun.
Denn auch über Afghanistan abgeworfene Nahrungsmittel können
sich in kleine Bomben verwandeln oder auf Tretminen führen. Das
Gutgemeinte ist nur der Anfang des weiten Weges zum Guten.

Auf diesem Weg schenke uns Gott den Mut und die Weisheit, vertrauenerweckende
Worte zu finden, er gebe uns seinen Frieden, der höher ist als
unsere Vernunft, er stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus.

Amen.

 

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

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