Jesaja 43, 1-7

Jesaja 43, 1-7

Gedanken zu Jes 43, 1-7:
Jetzt aber – so spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, der
dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich
ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir.
Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme,
dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst
du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.
Denn ich, der Herr, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein
Retter. Ich gebe Ägypten als Kaufpreis für dich, Kusch und
Seba gebe ich für dich. Weil du in meinen Augen teuer und wetvoll
bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder
und für dein Leben ganze Völker. Fürchte dich nicht,
denn ich bin mit dir.
Vom Osten bringe ich deine Kinder herbei, vom Westen her sammle ich
euch. Ich sage zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halt nicht
zurück! Führe meine Söhne heim aus der Ferne, meine Töchter
vom Ende der Erde! Denn jeden, der nach meinem Namen benannt ist, habe
ich zu meiner Ehre erschaffen, geformt und gemacht.

Dieser Textabschnitt stammt aus dem Trostbuch des Deuterojesaja. Es
ist um 550 v.Chr. entstanden, als sich das Volk Israel schon gut 50
Jahre im Exil in Babylon befand. Diese Erfahrung hat sein Selbstverständnis
grundlegend verändert. Es hat einen Paradigmenwechsel vollzogen,
würde man heute sagen. Was war geschehen? Das babylonische Reich,
zur damaligen Zeit die Großmacht des Vorderen Orients, hatte in
mehreren Wellen den Süden Israels annektiert, die gesamte Ober-
und Mittelschicht deportiert und schließlich 586 auch noch Jerusalem
und den Tempel zerstört. Die Israeliten wurden im Zwischenstromland
angesiedelt, als halbfreie Bürger sozialisiert und in das florierende
Wirtschaftsleben integriert. Sie gelangten zu beachtlichem Wohlstand
und Einfluss, durften im großen Vielvölker- und Religionenreich
auch ihren Glauben frei ausüben.
Trotzdem wollten die meisten zurück, heim ins Gelobte Land und
den Tempel wieder aufbauen. Vermittelt durch die Propheten erkannten
sie, dass das Exil kein politisch verursachtes Schicksal, sondern eine
von Jahwe verhängte Strafe war, weil das Volk sich sein Leben nach
eigenen Vorstellungen eingerichtet hatte, statt den Geboten Jahwes zu
folgen. Sie zogen daraus drei Schlussfolgerungen, die zu einem einschneidenden
Wandel im religiösen Verständnis führten:

  • Erstens: Jahwe ist nicht nur ein Stammesgott, dessen Einfluss mit
    der Zerstörung seines Tempels verschwinden würde. Nein,
    er ist Herr der ganzen Welt und alle anderen Götter sind ihm
    unterlegen, sind Nichtse neben ihm. Aus einem Nationalkult wird eine
    umfassende, an ethischen Normen orientierte Religion.
  • Zweitens: Jahwe ist nicht ein ferner und fremder Gott, den man durch
    Opfer gnädig stimmen müsste. Er ist seinem Volk nah, weil
    er es liebt, und das ganz persönlich. Er wird sein Volk durch
    den „Gottesknecht“ zur Freiheit führen (Das erste von
    vier „Liedern“ über den leidenden Gottesknecht bei
    Deuterojesaja steht unmittelbar vor unserem Text). So entsteht im
    Exil die Hoffnung auf einen Messias.
  • Drittens: Das Volk dient Jahwe daher nicht am besten durch Opfer,
    sondern indem es das Gesetz befolgt. Im Exil entstehen die ersten
    Synagogen, Versammlungsräume, in denen die Angelegenheiten der
    Gemeinschaft besprochen, das Wort Gottes gelesen und sein Gesetz studiert
    werden. Aus einem Opferkult wird eine Buchreligion.

Diese drei Punkte – universales Gottesbild, Messiashoffnung und Orientierung
am Wort Gottes – sollten auch nach dem Exil, das nach drei Generationen
539 zu Ende ging, das Judentum entscheidend prägen und später
im Christentum eine neuerlich Wende erfahren.

Alle drei Momente spiegelt unser Text wider. Was hat er uns Heutigen
zu sagen? Gibt es für uns dem Exil analoge Erfahrungen? Ich möchte
drei ganz verschiedene nennen, für unterschiedliche Personengruppen
unserer Gesellschaft mit diametral verschiedenen Welterfahrungen.

Die erste aktuelle Exilserfahrung machen die Gemeinden in der Diaspora
der Neuen Länder ebenso wie viele traditionale Katholiken. Sie
leben in einer durch und durch säkularen und gottfreien Welt, wo
die Alltagsgeschäfte, die Wirtschaft und das allgemeine Wohlergehen
im Zentrum stehen und Gottes Gesetze völlig ignoriert werden, bis
zur kompletten Unkenntnis. Religiöse Riten und pseudoreligiöse
Ersatzreligionen gibt es viele, alle religiösen Bedürfnisse
scheinen befriedigt, niemand wird am christlichen Glauben gehindert;
aber nur noch sehr wenige interessiert er. Angesichts dieser Erfahrung
ist die Sehnsucht groß, die Zeit zurückdrehen zu können,
heimzukehren in das Gelobte Land allgemein vollzogener Volkskirchlichkeit.
„Wir müssen uns wieder an die Gebote Gottes halten“,
sagen sie. „Und wir müssen den Menschen verkünden, dass
der Messias auch für ihre Sünden gestorben ist. Umkehr tut
Not!“ Wer sein Christsein auf diese Weise versteht, hat zwei zentrale
Momente unseres Textes verinnerlicht: das Leben nach dem Gesetz und
den Sühnetod des Gottesknechtes. Das dritte Motiv wird hingegen
ausgeblendet: Gott ist Herr dieser Welt (und nicht der Teufel). Von
daher lautet die Frohbotschaft des Jesaja aus unserem Text: „Fürchte
dich nicht; denn ich bin bei Dir!“

Eine zweite, andere Exilserfahrung machen heute jene, die erfolgreich
im modernen Leben stehen, aber von seinen Sachzwängen aufgefressen
werden. Väter sehen ihre Kinder höchstens am Wochenende, der
Arbeitsstress wird zum alltäglichen Normalfall. Frauen gehen in
der Dreifachbelastung unter, die ihnen das Powerfrau-Image zumutet.
Der moderne Erfolgsmensch wird in seinem Wohlstand nicht froh, er fühlt
sich vom wahren Leben abgeschnitten. Er befolgt die Gesetze, die ihm
die Arbeits- und Konsumgesellschaft diktiert, unterwirft sich dem gnadenlosen
Diktat einer spätmodernen Religion, deren Gott das Geld ist. Er
verlangt jedes Opfer und er will geliebt werden. Der Trost der Religion
hat maximal am Sonntag seinen Platz. Für ChristInnen, die solche
Exilserfahrungen machen, bezeugt unser Text einen Gott, der mich ganz
persönlich liebt, mich bei Namen kennt und beim Namen ruft, weil
er mich für ein gutes Leben bestimmt hat. Er verlangt keine Opfer,
sondern bringt sich selbst dar, geschenkt und ohne Leistungsanforderungen.
Wer immer sich in diese Gotteserfahrung vertieft – und viele ChristInnen
tun das, im alternativen wie im Bewegungssektor – der macht eine seltsam
befreiende Erfahrung: Die Sachzwänge des modernen Lebens sind wie
eine Gefängniszelle, in der der Schlüssel innen steckt. Dreh
den Schlüssel im Schloss, indem du dein Leben an Christus und seinen
Regeln für ein gutes Leben ausrichtest. Dann stoss die Tür
auf und tritt ins Freie; niemand wird dich hindern können. Und
Gott wird bei dir sein.

Eine dritte Exilserfahrung schließlich machen jene, die unsere
gesamte Kultur von einer industrialisierten und globalisierten Wirtschaft
und Technik überrannt sehen. Es sind die Globalisierungsgegner
und die Ökobewegten, die dieses Wochenende wieder doppelt aufschreien:
beim G8-Gipfel in Genua und beim Weltklimagipfel in Bonn. An beiden
Orten wird überdeutlich, dass die Bewahrung der Schöpfung
nach Gottes Bild, dass ein gedeihliches Leben in einer intakten Natur
für die heutigen Armen der Erde und kommende Generationen zwar
gern für politische Sonntagsreden herhalten darf, in der politischen
Realität aber der unmittelbare Profit des weltweiten Kasinokapitalismus
alles ist. Wissenschaftlich seriöse Alternativen sind längst
bekannt: „Negawatt statt Megawatt“ (Einsparungen beim Strom
durch technischen Fortschritt), kluges Mobilitätsmanagement statt
blinde Automobilisierung (für Kostenwahrheit im Verkehr), die „Tobin-Steuer“
auf Spekulationsgewinne (0,1% würden genügen, den Welthunger
zu beseitigen), Gesundheitsvorsorge statt Reparaturmedizin (incl. der
Stammzellenforschung), Lebens- statt Genussmittel (für ökologischen
Landbau statt Agroindustrie und Food-Design) usw. All diese Konzepte
kommen nicht oder nur halbherzig zum Zug aus zwei Gründen: erstens
wird keine neue Technologie serienreif gemacht, solang man mit der alten
noch verdienen kann – trotz allgemeinem Schaden; zweitens werden alle
Bereiche zurückgedrängt, die Leben als Gottesgeschenk sichtbar
machen (Gesundheit, Lebensfreude, frisches Wasser, ertragreiche Natur
usw.), um die Menschen von Industrieprodukten abhängig zu machen,
an denen das Großkapital unverhältnismäßig verdienen
kann. Wer solche Exilserfahrungen heute macht, sucht die Gesetze des
Schöpfers in den Regeln der Natur, von der wir ein Teil sind, um
sich in sie einzufügen. Sie/er hofft nach Kräften, dass die
Erlösungsmacht und Leidensfähigkeit unseres Gottes alles zum
Guten wenden wird. Unser Text bringt diesen Menschen neu in Erinnerung,
dass Gott uns ganz persönlich geschaffen hat, kennt und liebt.
Und dass diese Liebe schon immer und immer neu Berge versetzen kann,
weil sie Vertrauen schafft und Möglichkeitsräume eröffnet.

Wir heutigen Menschen haben ganz verschiedene Exile. Das Trostbuch
des Jesaja hat allen etwas zu sagen.

Univ.-Doz. Dr.habil. Maria Widl
Färbermühlg. 13/3/21
A-1230 Wien
Mail: maria.widl@univie.ac.at

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