Jesaja 5,1-7

Jesaja 5,1-7

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Sonntag der
Passionszeit, Reminiszere

19.3.2000
Jesaja 5,1-7


Tom Kleffmann


Die Predigt wird – in veränderter Gestalt – am
Sonntag Reminiszere in zwei Dörfern der südöstlichen
Umgebung Göttingens gehalten. Die Gemeinden entstammen zum einen einem
handwerklichen, weniger landwirtschaftlichem Milieu, zum anderen gibt es viele,
auch akademisch gebildete Pendler und Pensionäre aus der
Universitätsstadt. In einem der Gottesdienste findet eine Erwachsenentaufe
statt.

Liebe Gemeinde!

„Wo ist Gott? Wo ist sein Reich? In dem jedes Ding von seinem
Schöpfer kündet, jedes Staubkorn, jeder Sonnenstrahl, jeder Atemzug.
Wo die Schönheit des Landes nicht mehr nur traurig macht – sondern
den Sinn des Lebens spiegelt. Wo ist sein Reich, wo er die unbezweifelbare
Wahrheit ist, die alles erfüllt? Wo der Geist seines Daseins den Schatten
der Angst aus den Herzen nimmt, wo neues, jubelndes, freies Leben ist? Wo ist
sein Reich, wo all dies, wo seine Liebe auch zwischen den Menschen Sinn und
Gerechtigkeit ist?

Das Land und seine ererbte Sprache werden verachtet. Wer kann auf
die Predigt des Landes hören? Stolz wie kleine Götter sonnen sich die
Mächtigen in ihrer Macht. Die Kumpanei der Mächtigen stellt sich
über die Gerechtigkeit. Offen wird verbreitet, daß nur der eigene
Spaß zählt und dumm ist, wer die Gemeinschaft nicht betrügt. In
der Arbeitswelt zählt nicht Gerechtigkeit, sondern der Gewinn der
Schlaueren und Jüngeren. Ein Treuer verliert seine Arbeitsstelle, ein
Rücksichtsloser triumphiert. Ein Irrenhaus, welches kein Mensch mehr
beherrscht: die polierten Götzen, die Geldtürme wachsen in den
Himmel, der laute Markt und sein blindes Gesetz reißen alle Zäune
ein. Zugleich wird innen, in den Häusern der Halt schwächer. Eheleute
verzweifeln aneinander, weil sie sich, wenn der schöne Rausch der
Leidenschaft vergangen ist, der Sinn nicht sein können. Alte schauen in
den Spiegel und fragen sich, für welche Lügen sie ihr Leben
verschwendet haben.

Wer kennt die Richtung? Wenn niemand die Richtung kennt, geht der
Weg ins Leere.

Kennen wir die Richtung? Wir wissen jedenfalls: Der Kampf ist alt
– zwischen Macht und Wahrheit, zwischen Sinnlosigkeit und Sinn, zwischen
Angst und Freiheit.

Vor 2700 Jahren lebte Jesaja. Er war Prophet. Der Prophet
muß reden. Er leidet mit dem Volk und für das Volk an der
Ungerechtigkeit und Blindheit. Er widerspricht dem Volk, seinem allzu
selbstverständlichen Leben. Er hat eine Offenbarung; durch Schrecken und
Todesangst hindurch hat ihn der heilige Gott berufen, zu reden. Der Prophet
muß den Schleier zerreissen. Er redet im Namen Gottes. Er will, daß
der Wahnsinn ein Ende hat. An seiner Rede entscheiden sich Leben und Tod. Er
redet im Gottesdienst, auf dem Markt, in der Versammlung. Jesaja redet zum Volk
im Ganzen. Er sagt: Du, Volk, bist abtrünnig. Dein Leben ist ein Irrtum.
Das Land steht voller glänzender Götzen. Den Armen wird nicht
Gerechtigkeit verschafft. Deine Fürsten sind Diebesgesellen und nehmen
gern Geschenke an (1,23) – und du, Volk, hast es nicht besser verdient.
Und wenn du sagst, du kennst den wahren Weg nicht mehr, deinen Gott – dann
schau zuerst in den Spiegel, in das leere Gesicht deiner Ziele, in die Fratze
deiner geheimsten Angst, schau in das schwarze Auge des Alls und sieh, wie
lächerlich es ist, was du anbetest: deine Wagen, dein Luxus, deine kleinen
Fluchten, deine halben Leidenschaften, deine Jugend, deine Wirtschaftsmacht.
Schau hin – und höre!, statt dich zu belügen.

So spricht der Prophet im Namen Gottes. Und dann singt er ein
Lied, pflanzt ein Bild in die, die Ohren haben, dies zu hören:

[Lesung Jesaja 5,1-7]

Ein Weinberg auf einer fetten Höhe. Ich lebte eine Weile in
Tübingen, da gibt es Weinberge. Es sind noch die älteren, kleineren,
nicht für Industriewein. Ein friedlich umzäunter Garten, den die
warme Nachmittagssonne bescheint. Der Boden hält Wasser zum wachsen genug.
Es weht ein leichter Wind, und wenn er innehält, dann duftet es
würzig zwischen den Blättern. Man hat einen guten, weiten Blick vom
Weinberg; die anderen Berge grüßen grün von gegenüber. Er
will auch gepflegt sein, die Erde umgegraben und gelockert, die Rebstöcke
im Frühjahr beschnitten und zur Sonne gelenkt. Aber langsam wächst
und reift die Frucht, und der Weingärtner freut sich daran. Der Weinberg
ist ein Bild des Lebens.

Das Leben ist uns geschenkt. Gott läßt uns hier leben,
in diesem lichten Garten, auf unserer Erde. Er ist um uns und pflegt uns. Und
er wartet. Er wartet, daß wir dastehen und gut gewachsen und reif und
gesund sind – und: ihn erkennen. Den erkennen, der uns leben
läßt, weil wir seine Kinder sein sollen. Denn er läßt
nicht nur unseren Leib in diesem Garten wachsen, seit Urzeiten, sondern sorgte
und sorgt für unsere lebendige Mitte, für das sehende Herz, für
die Seele, das Selbst, und redete zu uns Worte, die das Leben bedeuten, weil
sie uns den Sinn sagen, seine Liebe in Ewigkeit. Ja das eben wäre
die Frucht, das volle, reife, erfüllte Leben: Wenn die Zeit reif ist die
Augen aufschlagen und ihn erkennen. Im Dasein seine Liebe hören und sehen;
und diese Fülle, diese Freiheit teilen, sagen, singen, jubeln, lieben,
beten, schweigen.

Das wäre es gewesen. Gott ist da. Gott wartet. Er hat alles
getan. – – Und der Weinberg brachte schlechte Trauben. „Warum hat
er denn schlechte Trauben gebracht?“ Warum sind sie faul und bitter?
Warum. Warum müssen Menschen am Leben verzweifeln? Warum durchziehen
Menschen den Garten mit Mauern, um für sich Schätze zu
sammeln? Warum sind Menschen selber wie die Götter ihrer leeren Welt, in
der sie herrschen und schaffen, und sei es nur im Traum? Warum sind die
Süchte mächtig, die den Menschen immer schneller und immer schneller
um sich selber kreisen lassen? Fast alles, was unser Leben ausmacht, ist zur
Sucht mißbraucht. Warum ist unsere Liebe so klein? Warum sehen wir Gott
nicht oder selten oder im Entsetzen, und warum scheint sein Wort so vieldeutig?
Wer sucht Gott?

Jesaja sagt nicht warum. Nur das weiß Jesaja: Der
Weingärtner, der unser Leben pflanzt, hat alles getan. Wir sind in diese
Menschenwelt hineingeboren und sie ist unser Erbe. Aber das Verkehrte hat
keinen Grund, denn es schafft seine Lüge selbst. Gott, der der Grund von
allem ist, ist nicht der Grund des Bösen, der Lüge, der Angst, der
Verzweiflung. Dies hat keinen Grund. Es hat seinen Grund in sich selbst. Wie
ist das möglich? Ich will sagen, was ich dazu denke.

Gott läßt uns leben, damit wir ihn erkennen: in aller
Schönheit seine Liebe, mit jedem lebendigen Wort seinen Sinn. Gott
läßt uns leben, damit wir mit jedem Atemzug und Handschlag und Blick
untereinander seine Liebe wiederspiegeln. Aber dazu mußte er uns zu
Freien werden lassen. Wir sind sein Gegenüber. Wir stehen
selbst in seiner Welt. Nicht in dumpfem, tierischen Traum, nicht nur
Marionetten eines göttlichen Schauspiels, sondern: Wir selbst, aufrecht
und besonnen und frei, sollen Gott gegenüber stehen. Das ist die selbst
fast göttliche Würde des Menschen. Nach seinem Bilde die Welt
durchschauen und durchmessen bis zum Horizont, und in ihrem Spiegel Gott
erkennen, so daß er sein Wort an uns richtet.

Aber – in der Freiheit liegt die Entscheidung. Hier liegt die
Versuchung, die die Welt verkehrt. Denn diese Freiheit bedeutet in einem
Augenblick: tödliche Angst – und göttliche Lust.
Angst: Denn wer selbst und frei lebt, muß selbst sterben. Wer frei
und selbstbewußt dasteht, der weiß zugleich um seinen Tod. Lust:
Denn wer selbst und frei lebt, kann sein Leben darin finden, selbst der Gott
und Herrscher seiner Welt zu sein und in jubelnder Kraft seine Welt zu erobern.
Beides zusammen: Des Freien tödliche Angst und göttliche Lust, das
ist der Punkt, an dem sich die Welt verkehrt.

Wenn ich, im Augenblick des Erwachsenseins, den einsamsten
Gedanken des Todes, in dem sich mein ganzes Leben zusammenkrümmt, nur
verleugne, statt mich an den wahren Gott zu wenden, der dem Tod gegenüber
steht – statt ihm das Leben anzuvertrauen. Wenn ich überhaupt die
Grenze meines Lebens verleugne und dies, daß es ein Streben zu einer
Heimat ist, die ich ihm nicht sein kann. Und wenn ich nun zugleich in
der Lust meiner Freiheit, in dem herrlichen Gefühl unserer
menschlichen Macht, der Versuchung nachgebe, selbst der Gott meiner Welt zu
sein, nur für mich allein mein Leben einzurichten und zu planen, meine
Ziele zu setzen und für sie zu kämpfen – – statt auch noch die Lust
meiner Freiheit Gott zu danken, weil ich weiß, daß meine Arbeit und
Taten nur als Teil von Gottes Liebe Leben und Sinn sind.

So mag es sein: Die Verleugnung tödlicher Angst und imselben
Augenblick die Versuchung göttlicher Lust haben die Welt verkehrt –
vom Garten Gottes in einen kranken Traum. Der Kreis des Volkes, welches von
Gott lebt, ist zerbrochen, bis auf einen Rest. Nicht Gottes Liebe vereint die
Starken und Schwachen, die Alten und Jungen, sondern die gemeinsamen
Götzen und Lebenslügen halten zusammen, die Arbeit am babylonischen
Turm des Geldes, des Marktes, des technischen Fortschritts, die gemeinsame
Verleugnung des Todes, der heiligen Grenze.

Was hat nun der wahre Herr mit der verkehrten Welt zu schaffen?
Was ist der Ewige für die verkehrte Zeit? Was ist mit den Satten, den
Sicheren, die meinen, keinen Gott zu brauchen? Was ist mit den
Ohnmächtigen, den Schwermütigen, mit denen, die nicht wach werden?

Erlösung kommt durch Gericht und Gerechtigkeit, sagt der
Prophet (1,27). Der Tag des Herrn kommt. Der Herr steht da zum Gericht
(3,13). Der noch schützende Zaun eures Lebens wird weggerissen. Eine
Lebenswüste wird alles ersticken, denn sie ist eure Wahrheit. Die Angst
wird tausendfach wiederkehren. Das Licht wird tödlich sein und die Sonne
den Garten verbrennen. Was sich für schön und stark und mächtig
hält, muß in den Spiegel seiner Häßlichkeit sehen.
„An jenem Tag wird jederman wegwerfen seine silbernen und goldenen
Götzen, die er sich hatte machen lassen, um sie anzubeten, zu den
Maulwürfen und Fledermäusen, damit er sich verkriechen kann in die
Felsspalten und Steinklüfte vor dem Schrecken des Herrn und vor seiner
herrlichen Majestät, wenn er sich aufmachen wird, zu schrecken die
Erde.
“(2,20f.) Gottes Gerechtigkeit bringt die Wahrheit des blinden
und ungerechten Lebens an den Tag – durch Tod und Schmerz und Schrecken
und Zerstörung. So prophezeite Jesaja seinem zerrissenen Land – bevor
die Assyrer den nördlichen Staat Israels vernichteten und seine Herren
verschleppten.

Tod und Verzweiflung, Krieg und Zerstörung gibt es auch
heute. Ein Narr, wer glaubt, Krieg und Zerstörung habe mit ihm nichts zu
tun. Aber können wir wirklich denken, daß hier bisweilen die
Gerechtigkeit Gottes die Klinge führt, die Wahrheit des gerechten Herrn
der Geschichte? Daß vielleicht er es ist, der die großen
Mächte der Welt zu seinem Werk benutzt? – Vor 55 Jahren endete der
2.Weltkrieg mit der schrecklichen Zerstörung Deutschlands, mit seiner
Zerstückelung, mit millionenfachem Tod, mit langer Fremdherrschaft. Wir
haben uns bis heute nicht davon erholt. Und nicht wenige haben es damals so
empfunden: Die Strafe Gottes für den Hochmut, die Herrn der Welt sein zu
wollen, die Kriegsgötter über Leben und Tod.

Doch ich habe Zweifel daran, daß die Gerechtigkeit Gottes so
weltlich siegt, daß sie sich einfach der größeren Zahl der
Kanonen und Bataillione bedient. Warum habe ich Zweifel? Woher weiß ich
überhaupt, wo Gott handelt? Ich weiß es nur in dem Geist, in dem ich
seiner Offenbarung für mich glaube. Wir sind getauft auf den Namen des
Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Zwischen uns und dem Propheten
liegt etwas Neues – daß Gott sich zeigt im Leben, Sterben und
Auferstehen Jesu. Und deshalb, nicht weil wir klüger sind, denken
wir von Gott auch anders als der Prophet des Alten Testamentes. Wenn wir auf
Christus sehen, ist es entschieden: Gott tritt nicht als bluttriefender
Rächer auf. Das ist nicht seine Gerechtigkeit. Sondern er ist da als der
Vater, der uns die Erde gibt, auf der wir wachsen und leben. Er ist die
herrliche, geheime Tiefe der Welt, wenn der Abend kommt und eine einzelne Amsel
den Klang ewigen Lebens trifft. Und er ist gekommen, in dem Menschen,
der die Verlorenen versöhnt und erlöst von dem Bösen. Und er ist
da in dem Geist, in dem wir seiner Liebe glauben, in dem wir seine Liebe
üben.

Der Schrei des Propheten, seine entsetzliche Gewißheit vom
Tag des Herrn – das bleibt Wahrheit, aber es ist nun eine andere Wahrheit.
Es ist wahr, daß Erlösung nur durch Gericht und Gerechtigkeit kommt,
daß an jenem Tag jederman seine silbernen und goldenen Götzen
wegwerfen wird, die er sich hatte machen lassen, um sie anzubeten, daß er
sich verkriechen will in die Felsspalten und Steinklüfte vor dem Schrecken
des Herrn.
Es ist wahr, aber anders. Es ist wahr, weil das wahre, wache,
volle, gemeinsame und ewige Leben eben nur durch die Wahrheit kommen kann. Und
die Wahrheit, das ist die Vernichtung der Götzen, das Bild des Todes als
Kehrseite des Lebens ohne Gott, der völlige Schrecken vor der Andersheit
des Einzigen, wenn dein Ich mit seiner Angst in einem Punkt im eisigen Weltall
zusammengefaßt ist. Die gemeinsame, verborgene, bestgehüteste
Wahrheit aller täglichen Scheinwelt; die Lüge eines Volkes, welches
seine Bestimmung verfehlt. Ohne daß die Lüge zerbricht, gibt es kein
Leben. Gottes Liebe erreicht dich nicht, wenn du nicht du selber bist, wenn du
nicht zu deiner Wahrheit stehst, und die ist wie ein Todesschmerz. Das ist die
Wahrheit des Gerichts: Die tödliche Angst, die wir verdrängten,
muß wieder offenbar werden, die schreckliche Kehrseite der
göttlichen Lust, mit der wir wie Götter die Herrscher unserer Welt
waren und unsere Schätze sammelten, ohne einen Gott über uns. Als
falsche Götter, als die Traumbildner und Lügner unseres Lebens
müssen wir sterben. Das ist unsere Taufe, das Untertauchen, um neu geboren
zu werden. Das ist es, was wir in jedem wachen Moment wiederholen müssen.
Deswegen ist das Kreuz das Zeichen des Lebens, welches Gottes Ewigkeit
berührt. Daß Gott selbst im Augenblick der Wahrheit bedingungslos
bei uns ist. Daß er selbst den Tod des Sünders gestorben ist.
Daß wir immer seine Kinder sind, die er liebt. Daß er den Schmerz
kennt und in ihm bei uns ist, den Tod, die Angst, die Ohnmacht.

In dieser Gewißheit beginnt der Tag des Herrn und die
Morgenröte neuen Lebens. Wenn du wieder den Weinberg betrachtest und den
zärtlichen Wind und die Sonne genießt; wenn du ihm deine neue,
selbst geschenkte Liebe schenkst, und in einem Augenblick weißt: Du hast
die Nacht im Rücken.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. (Amen.)“

Pastor Dr. Tom Kleffmann
Platz der Göttinger Sieben 2

37073 Göttingen
Tel. 0551 / 397117
email: tkleffm@gwdg.de


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