Jesaja 55:6-12a

Jesaja 55:6-12a

Sexagesimae, 11.02.2007

Predigt zu Jesaja 55:6-12a, verfasst von Heinz Janssen


„Predigen will ich’s, schreiben will ich’s, aber zwingen und dringen will ich niemanden.“ Martin Luther

Menschenwort und Gotteswort

( 6 Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist.
7 Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.

8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR,
9 sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.)

10 Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen,
11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

12 Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.
( 12b Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.
13 Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.)

Liebe Gemeinde!

Menschenwort

Wir kennen die leeren Worte, das Wortgeklingel, die Leerformeln und die Worthülsen – sie sind ohne Inhalt, nichtsagend, richten nichts aus und bleiben ohne Wirkung. Dabei sind Worte das Kostbarste, was wir haben. Wir gut tun mir die Worte eines Menschen, der mich in einer schwierigen Lebenssituation wahrnimmt und mir Mut machen, mich aufrichten will. Was können Worte bewirken wie „Ich denke an Dich“, „Du darfst mich jederzeit anrufen“, „Ich habe immer Zeit für Dich“. Solche Worte schaffen Beziehung, sie geben Halt und lassen mich spüren, dass ich nicht allein und verlassen bin.

Worte dieser guten Art verhallen nicht einfach oder gehen ins Leere, sondern wecken in mir so etwas wie neue Kräfte und Lebendigkeit, und sie helfen mir, mich dem Leben wieder ganz neu zuzuwenden, gespannt auf das, was auf mich zukommt, gestärkt, um neue Aufgaben und Herausforderungen zu bestehen.

Mit Worten verständigen wir uns und sprechen uns aus, mit Worten gestalten wir unsere Beziehungen und bestimmen die Atmosphäre, schaffen ein heilsames oder zerstörerisches Klima. Ein Segen, wenn gute Worte aus unserem Mund kommen.

Gotteswort

Damit nähern wir uns dem Geheimnis des Wortes Gottes, an das uns der Prophet heranführen möchte. Wir ahnen die tiefe Bedeutung, wenn es am Anfang der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt: „Und Gott sprach…“ Und ähnlich beginnt das Johannesevangelium: „Im Anfang war das Wort…“ Das Wort Gottes ist voller Wirkkraft, bändigt das Chaos, gestaltet, schafft Gutes, hilft weiter. Gottes Wort ist aufgeschrieben in der Bibel, auch Menschenwort ist aufgeschrieben.

Gleich einem Prolog seiner Botschaft verkündigt der Prophet die Beständigkeit des Wortes Gottes, von der er in der Stunde seiner Berufung gehört hat: „Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich (Jesaja 40,8). Und gleich einem Epilog mündet seine Botschaft in die Worte, die heute unser Predigttext sind und uns in einem Gleichnis die Wirkung und Zuverlässigkeit vor Augen stellen:

10 Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen,
11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.
Wie anschaulich der Prophet hier vom Wort Gottes redet. Es ist kräftig und wirksam wie der Regen und Schnee, die so wichtig für das Wachsen und Gedeihen der Früchte unserer Erde sind. Über zweieinhalbtausend Jahre sind inzwischen vergangen, seit diese Botschaft mutlosen Menschen überbracht wurde. Sie galt der damaligen israelitisch-jüdischen Gemeinde im babylonischen Exil. Das Leben in der Gefangenschaft fern von der Heimat war für die Deportierten traurig und belastend. Das Vertrauen auf Gott, mit dem sie immer Hoffnung auf Befreiung und Heimkehr verbanden, war geschwunden, Resignation bestimmte ihr Lebensgefühl. Das Wort Gottes, das ihnen bisher so wichtig war, in dem sie Orientierung, Halt und Trost suchten, erreichte nicht mehr ihr Herz. Es hatte, so empfanden sie, keine Wirkung mehr. Als befreiendes Wort, das sie in der Hoffnung, bald aus der Gefangenschaft heimzukehren, stärken sollte, konnten sie es nicht mehr hören, es machte sie eher wehmütig. Kennen wir dieses Gefühl nicht auch? Dass wir das Wort Gottes zwar hören, aber es nicht annehmen können, dass die Botschaft von der Nähe Gottes, von seinen guten Gedanken, Wegen und von seinem Frieden wie dogmatische Leerformeln klingen?

Dem Propheten, der mit seinem Volk in Gefangenschaft war und im Namen Gottes predigte, waren solche Empfindungen bestimmt nicht fremd, ebensowenig wie Zeiten innerer Leere und Hoffnungslosigkeit, die einen Menschen an den Rand der Resignation und Verzweiflung bringen können. Vieles spricht dafür, dass er sich seinem Volk im Glauben nicht überlegen wusste, auch nicht in den „Gedanken“, die sich auf die Planung eines gelingenden Lebens und weiterführenden (Lebens-)Weges ausrichten; vielmehr war er seinem Volk in der Sehnsucht nach dem befreienden und wirkungskräftigen Gotteswort zutiefst verbunden. Sollte das Wort Gottes auf einmal nichts mehr gelten oder hat Gott sogar aufgehört, zu und mit seinem Volk zu sprechen? Fiel Gottes Wort, wie es in Jesu Gleichnis vom Sämann, der heutigen Lesung, heißt (Lukas 8,4-8), auf den Weg, wo es schutzlos war, auf den Fels, wo es keine Feuchtigkeit hatte, oder unter die Dornen, die es erstickten? Haben wir zu wenig geglaubt, Gott vertraut, zu wenig gebetet, mit ihm das Gespräch gesucht?

Evangelium – bedingungslos und heilsam

Die Erfahrung mit eigenen Zweifeln und deren Überwindung (im Hören auf das Wort Gottes) können mit dazu beigetragen haben, dass der Prophet dem Volk nicht mit Vorwürfen gegenübertritt, keine Schuld aufweist und keinerlei Forderungen stellt. Darum wird er gerne als der „Evangelist des Alten/Ersten Testaments“ bezeichnet. Seine Botschaft ist, wie es der Vergleich des Wortes Gottes mit Regen und Schnee zum Ausdruck bringt, bedingungslos voller Trost und Zuspruch; so steht es in den beiden Versen, die unserem Predigttext vorangehen:

8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR,
9 sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.

Gottes Gedanken entziehen sich uns, sie erweisen sich meist erst im Rückblick als heilvoll. Wo wir Menschen mit unseren Lebensplanungen an eine Grenze stoßen und unsere Wege in einer Sackgasse enden, ist Gott auf dem Plan, öffnet Gott Wege, die weiterführen und gut für uns sind. Worte eines früheren Propheten, Jeremias, klingen hier an: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht Gott: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung (Jeremia 29,11). Menschen, die keine Perspektive mehr haben, bekommen eine neue Blickrichtung, das Vertrauen in Gottes Möglichkeiten wird geweckt und gestärkt. Wo nach unserer Einschätzung nichts mehr geht und möglich ist, setzt Gottes Wirken oft heilvoll ein – „bei Gott sind alle Dinge möglich“, sagt Jesus (Matthäus 19,26). Gott steht zum Wort seiner Verheißungen, die darauf zielen, dass unser Leben Frucht bringt in Glaube, Liebe und Hoffnung und wir das Wachstum solcher Früchte achtsam fördern.

Ermutigung zum Aufbruch

Die Trostworte, mit denen der Prophet als Bote Gottes sein Volk in der scheinbar hoffnungslosen Situation der Gefangenschaft aufrichten sollte, waren ihm nicht fertig und wohlformuliert vorgegeben. Es waren die Worte der Propheten vor ihm, die in den Gottesdiensten vorgelesen wurden und ihn inspirierten, und es war der priesterliche Zuspruch, der ihn schon oft ermutigte und ihm eine neue Sicht gab – bis die Zeit kam, dass er sich von Gott gerufen wusste, seinem Volk anzukündigen, was es so sehnlich erhoffte: das Ende der Gefangenschaft und die Heimkehr:

12 Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.

Worin sehen wir uns heute gefangen, und wonach sehnen wir uns? Was kann heute unsere Gedanken anregen und Zuspruch und Hilfe für unseren Lebensweg sein?

(Zeit zur stillen Besinnung)

„Sucht Gott, ruft ihn an“, ermutigt der Prophet auch uns heute. Bleiben wir im Gespräch mit Gott, im persönlichen und gemeinsamen Gebet. Und bleiben wir im Gespräch über Gott. Tauschen wir uns über unsere Lebens- und Glaubenserfahrungen aus. Hüten wir uns vor frommem Schein. Nehmen wir einander vor Gott und unter seinem Zuspruch wahr. Lassen wir es uns zurufen, dass auch wir uns auf Gottes Wort verlassen dürfen und Gott uns im Frieden geleitet. Der Wochenspruch legt es uns ans Herz: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht“ (Hebräer 3,15).

Amen.


Lieder: Auf und machet die Herzen weit (454)
Herr, dein Wort, die edle Gabe (EG 198)
Dein Wort, o Herr, lass allweg sein (EG 196,1+5+6)
Befiehl du deine Wege (EG 361)
Komm, Herr, segne uns (EG 170)


Nachwort: Exegetische Hinweise zur Predigtperikope

Jes 55,6-13 steht am Schluss der seit B. Duhm „Deuterojesaja“, dem „Evangelisten des Alten/Ersten Testaments“, zugewiesenen Texte Jes 40-55. Die pointierte Rede vom Wort Gottes (V.10f.) erinnert an den Prolog Jes 40,1-11 (bes. V.6-8), sodass Jes 55,6-11 als Epilog bezeichnet werden kann. 

Die Abgrenzung unserer Predigtperikope (Jes 55,[6-9]10-12a) spiegelt die umstrittene Frage der literarischen Einheitlichkeit von Jes 55,6-13. P. Volz z. B. nimmt V.8f. mit V.6f. zusammen, die er als Predigt bzw. Predigthema auffasst, wobei einzelne Gemeindeglieder, nicht das Gesamtvolk, die Adressaten seien. In V.6f.8f. wolle der Prophet sagen, dass es „im Leben eines Volkes wie eines einzelnen Stunden“ gebe, „in denen Gott ganz nahe herzutritt, in besonderen Schicksalen, im Ruf des Gewissens…Solche Stunden sollen doch ja ergriffen werden“ (S. 144). Das Wort von den Gedanken und Wegen in V.8f. beweise nach P. Volz „ganz zeitlos und ganz grundsätzlich die unerbittliche Notwendigkeit der Umkehr als Voraussetzung der Gottesgemeinschaft“ (S. 145), und das Wort in V.10f. versteht P. Volz als Rede JHWHs an den Propheten, nicht als öffentliche Rede (S. 147).

Die wahrscheinlich redaktionelle Einheit Jes 55,6-13 beginnt mit einer Aufforderung, JHWH zu suchen, nach ihm zu fragen (dirschu), ihn anzurufen (qira’uhu) und die Chance nicht zu verpassen (vgl. den Wochenspruch zu diesem Sonntag Sexagesimae: Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, Hebräer 3,15). V.7 (möglicherweise von V.8 „Gedanken/Wege“ inspirierter Zusatz) scheint V.6 zu unterstreichen, indem er den Frevler (rascha`) und Übeltäter (´isch
´awän
) eindringlich zum Verlassen seines Weges und seiner Gedanken und zur Hinwendung zu JHWH hin aufruft.

V.8-9 und V.10-11 stehen im Zeichen der Begründung der innerhalb Jes 40-55 polyphonen pophetischen Verheißungen des neuen Exodus, der Befreiung der Judäer aus der babylonischen Gefangenschaft (bes. 48,20-55,13). V.8-9 („Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken…“) stellen „entgegen den zweifelnden Fragen Israels“ (C. Westermann, S. 230) die unbegrenzten Möglichkeiten Gottes den menschlichen begrenzten Möglichkeiten gegenüber (vgl. das Jesuswort „bei Gott sind alle Dinge möglich“, Mt 19,26); das hebräische Wort machschebot, das Martin Luther mit „Gedanken“ übersetzt, bedeutet eigentlich das Vorhaben, die Pläne. V.10-11 betonen angesichts einer resignativen Haltung der Gefangenen, weil scheinbar nicht eintrifft, was der Prophet im Namen Gottes angekündigt hatte, die Wirk- und Durchsetzungskraft des Wortes Gottes.

Die Beschränkung auf V.10-12a trifft sicherlich die thematische Mitte von V.6-13: Das Wort (dabar) Gottes ist wirksam und verlässlich und wird sich als solches erweisen; der angekündigte Auszug der Judäer aus der babylonischen Gefangenschaft steht bevor, sie werden im Frieden in ihre judäische Heimat geleitet werden. Zur Veranschaulichung der Wirksamkeit und Verlässlichkeit des Wortes Gottes dient der Vergleich mit dem Regen und Schnee, die „vom Himmel fallen“ und ihre Bestimmung nicht verfehlen, sondern auf der Erde Frucht und Gedeihen wirken.

Warum unsere Perikope die Verse 12b-13 weglässt, ist wenig einsichtig, umschreiben sie doch hyperbolisch (V.12b-13a) die Freude des Auszugs, in welche die Pflanzen einstimmen (V.12b) und sich in prächtige fruchtbare Gewächse verwandeln (V13a). Der Auszug aus der Gefangenschaft und die Heimkehr sollen „in Richtung auf/für JHWH, seinen Namen, ein ewiges nicht ausrottbares Zeichen geschehen“ (V.13b) – Gottes „Ehre ist das letzte Ziel alles Geschehenden, wie zu seinem Lob alles Geschaffene da ist“ (C. Westermann, S. 235).

Wir wissen nicht, was dem Propheten Herz und Mund für seine Botschaft öffnete, die ihn mit seinem Volk aus der Gefangenschaft, auch aus den den menschlichen Gedanken und Wegen herausholen und das Vertrauen in die Wirkkraft und Zuverlässigkeit des Wortes Gottes neu stärken sollte. Gewiss stand am Anfang die Berufung zum Propheten, die aber als inneres Geschehen ein Geheimnis, Geheimnis des Glaubens, bleibt. Alles, was wir aus der Bibel von seiner Berufung wissen, ist die Aufforderung „Predige!“, seine Frage „Was soll ich predigen?“ und die Antwort, die auch als Zusammenfassung seiner Botschaft am Ende seiner Predigttätigkeit stehen könnte: „Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“ (Jesaja 40,8).


Literatur: B. Duhm, Das Buch Jesaja, HK 3.1, 4.Aufl., Göttingen 1922
(= 5.Aufl.. Göttingen 1968), S. 413-418. – P. Volz, Jesaja II, KAT, IX, Leipzig 1932, S. 137-149. – C. Westermann, Das Buch Jesaja, ATD 19, 2.Aufl., Göttingen 1970, S. 225-235.


Heinz Janssen
Providenz-Kirche Heidelberg Altstadt/City
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