Jesaja 6,1-8(9-13)

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Jesaja 6,1-8(9-13)

Dreifaches Erleben Gottes | Trinitatis | 04.06.2023 | Jesaja 6,1-8(9-13)[i] | Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

42 Jahre ist es nun her: Damals hatte ich im Prozess des Zweiten Examens in meiner Landeskirche, damals der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, meine Prüfungspredigt zu erarbeiten und zu halten – zum Festtag „Trinitatis“ / „Dreieinigkeit“ über Jesaja 6,1-13! Natürlich kann ich die damalige Predigt nicht wiederholen, waren doch damals die aktuellen Bezüge ganz andere als diejenigen, die sich heute aufdrängen. Aber eines ist gleich: der alte Bibeltext, der in seinem Kern auf ein Erlebnis des historischen Jesaja im Jahr 734 vor Christus zurückgeht, aber von den Überlieferern weiter ergänzt worden war. Schauen wir zuerst auf den Bibeltext, im Wesentlichen in der Übersetzung, die ich mir damals erarbeitet hatte:

„(1) Im Todesjahr des Königs Usija[ii] [= „Meine Stärke ist JHWH / der Herr“] sah ich den Herrn[iii] auf einem hohen Thron sitzen, und seine Gewandsäume[iv] füllten den Tempel. (2) Seraphen standen über ihm, sechs Flügel, sechs Flügel[v] hatte jeder. Mit zweien bedeckte er sein Gesicht, mit zweien bedeckte er seine Füße[vi] und mit zweien flog er. (3) Und einer rief zum anderen:

»Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth / der Herr Zebaoth.

Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit.«[vii]

(4) Und es schwankten die Zapfen der Schwellen von der Stimme des Rufers, und das Haus / der Tempel war voll Rauch. (5) Da sagte ich:

„Weh mir, denn ich werde vernichtet;

denn ein Mensch von unreinen Lippen bin ich,

und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen lebe ich;

denn den König[viii], JHWH Zebaoth / den Herrn Zebaoth, haben meine Augen gesehen!“

(6) Und es flog zu mir einer der Seraphen, und in seiner Hand war ein Glühstein – mit einer Zange genommen vom Altar. (7) Und er berührte meinen Mund und sprach:

„Siehe, dieser hat deine Lippen berührt,

und gewichen ist deine Schuld, und deine Sünde ist gesühnt“.

(8) Und ich hörte die Stimme des Herrn[ix], der sagte:

»Wen soll ich schicken, und wer geht für uns?«

Da antwortete ich: »Hier bin ich, schicke mich!«

(9) Und er sagte: »Geh und rede zu diesem Volk!

Sie sollen hören und nicht verstehen;

sie sollen sehen und nichts erkennen.

(10) Mache fühllos das Herz dieses Volkes

und seine Ohren schwer und seine Augen verklebt,

dass es nicht sieht mit seinen Augen

und mit seinen Ohren nicht hört

und mit[x] seinem Herzen nicht versteht,

dass es umkehre und es geheilt werde.[xi]«

(11) Ich fragte: »Bis wann, Herr?«

Und er antwortete: »Bis verwüstet sind die Städte, ohne Bewohner,

und die Häuser ohne Menschen,

und das Land als Öde geblieben ist.

(12) Und JHWH / der Herr die Menschen weit entfernt hat,

und groß geworden ist die Verlassenheit inmitten des Landes.

(13) Und wenn noch ein Zehntel in ihr ist, soll es wiederum zur Wüste werden,

wie die Eiche und die Terebinthe, von denen beim Fällen ein Wurzelstock bleibt.

Ein heiliger Same ist sein Wurzelstock.«“

Gewiss über Jahrhunderte wurde an diesem Text gearbeitet. Die alttestamentliche Wissenschaft hält den letzten Satz in Vers 13 für so sehr als hinzugefügt, dass der Herausgeber des Jesaja-Buches in der Biblia Hebraica Stuttgartensia, D. Winton Thomas, einfach empfiehlt, ihn zu streichen.[xii] Aber müsste nicht gerade hier das Schwergewicht liegen?

Ich kann mir vorstellen, dass unsere jüdischen Freunde gerade auf diesen Satz das Gewicht legen: Nach den Verbrechen der Scho’ah, des Holocaust, war und ist es für unsere jüdischen Freunde wichtig, einen Beitrag dabei zu leisten, dass die Gemeinschaft wieder wächst, wieder zunimmt, wieder Zukunft hat. Wenn ich mich recht erinnere, war ich einmal in meinem Leben am 18. April, dem Jom hasch-Scho’ah, dem Tag des Holocaust, in Israel. Nie vergesse ich das Heulen der Sirenen und den Stillstand jeden Verkehrs und das Stille-Stehen aller über die Dauer von zwei Minuten! Schon einmal hatte ich einen Auszug aus dem Vortrag des Generalstaatsanwalts des Staates Colorado in den USA, Philip J. Weiser, zum 7. April 2021 in einer Meditation zitieren können.[xiii] Staatsanwalt Weiser hatte damals seine Mutter in Erinnerung gerufen, die wenige Tage nach ihrer Geburt im Konzentrationslager in Leipzig-Schönefeld, einem Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, befreit werden konnte:

„Der Holocaust-Erinnerungstag stellt ein bedeutsames Gedächtnis für meine Familie dar. Das deshalb, weil meine Mutter am Freitag, dem 13. April 1945, geboren worden war – in einem Konzentrationslager der Nazis. Sie war wenige Tage später zusammen mit meinen Großeltern durch die amerikanischen Truppen befreit worden – und dadurch zu einer der jüngsten Überlebenden des Holocaust gemacht worden. In meiner Familie prägte der Holocaust meine Erziehung, fanden doch meine Großeltern und meine Mutter Zuflucht in den Vereinigten Staaten von Amerika.“[xiv]

Von daher könnten wir die eigentliche Aussage dieser Vision vorsichtig befragen: Ist sie für uns überhaupt hilfreich? – Gott gesehen wie einen Großkönig des 8. Jahrhunderts vor Christus auf einem Thron?! Wie der damals herrschende König über das Reich Assur: Tiglat-Pileser III.?! Umgeben von einem Hofstaat dienstbarer Geister?! Ein scheinbares Erdbeben unter dem Tempel in Jerusalem verursachend?! Mit dem Auftrag, die Menschen damals in die Irre zu führen?! Mit der Zerstörung jedes Lebens und der Verwandlung des Landes in eine Wüste?!

Was sollen wir mit diesen Zukunftsbildern anfangen? Aber: Sind das denn Zukunftsbilder? Geschieht das nicht in vielen Landstrichen unserer Erde schon heute? Werden nicht auch wir langsam Opfer der Entwicklungen der Klimakrise: Überschwemmungen! Trockenheit und Wassermangel! Hitzeperioden! Wie ich diese Fakten nebeneinanderschreibe, wird mir erneut bewusst, wie hochgefährlich unsere Zeit ist.

Ein Unterschied zu damals ist aber gravierend: Wir reden von Folgen unserer menschlichen Eingriffe in die Natur. Konnten sich dies die Denker Israels und Judas, auch Jesaja, so vorstellen? Ihm werden diese Veränderungen als Taten Gottes offenbar. Als Taten Gottes, der damit auf menschliches Fehlverhalten reagiert, es als Sünde aufdeckt. Ganz eindrücklich ist mir die Formulierung in Vers 5b:

„… denn ein Mensch von unreinen Lippen bin ich,

und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen lebe ich;

denn den König, JHWH Zebaoth / den Herrn Zebaoth, haben meine Augen gesehen!“

Aber auch an anderen Stellen im Alten Testament gibt es Aussagen, die die Spannung zwischen den Folgen menschlichen Fehlverhaltens und den Wirkungen des Zorns Gottes durchhalten – wie in Hosea 4,1b-3: „Ja, einen Prozess führt JHWH / der Herr mit den Bewohnern des Landes,

denn keine Standfestigkeit und keine Güte und keine Gotteserkenntnis ist im Land.

[Vielmehr] brechen Meineid und Lüge und Mord und Diebstahl und Ehebruch im Land[xv] ein,

d.h. Blutschuld reiht sich an Blutschuld.

Deshalb trocknet die Erde aus

und verschmachten alle, die auf ihr wohnen,

selbst die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels sogar die Fische des Meeres

werden hinweggerafft“.[xvi]

Darin liegt doch eine Lösung: Wahrhaftigkeit, Mut im Benennen der Fehler, Bereitschaft zur Änderung des Lebens! Das kann nur bei jeder einzelnen Person, jeder einzelnen Familie, im engen Freundeskreis beginnen! Werden wir bereit zur Umkehr auf den Weg des Lebens! Dazu rufe ich uns auf.

Ich sehe also zuerst eine wichtige Einsicht: Die Ankündigungen, die an die antike Gemeinschaft der Judäer gerichtet worden waren, bleiben für uns ganz fern. Dann sehe ich, wie unsere jüdischen Freunde heute Auftrag und Lebenshoffnung für ihre eigene Gemeinschaft entnehmen, denn sie gestalten mit, dass der „heilige Same“ zu einem „Wurzelstock“, ja: zu einem beeindruckenden Baum gedeiht. Und für uns Christinnen und Christen hilft unser Glaube an die „Dreieinigkeit Gottes“, an die „Trinität“, dass wir das Handeln Gottes auch für uns begreifen können:

  • Wir erkennen den einen Gott als den großen Gegenüber, der uns geschaffen hat und uns auf die Folgen unserer Handlungen hinweist.
  • Wir erkennen den einen Gott als Jesus Christus, der den Menschen seiner Zeit großartige Auswege gewiesen und unter unseren menschlichen Handlungen gelitten hatte, aber zu ewigem Leben bestätigt wurde, sodass er jeder Generation zeitgleich zur Seite steht!
  • Wir erkennen den einen Gott als Heiligen Geist, der uns heute befähigt, neu anzufangen und Zukunft zu wagen.

Amen

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“


Liedvorschläge:

EG 139: „Gelobet sei der Herr, mein Gott, mein Licht, mein Leben…“

EG 165: „Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten…“


Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de


[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, dann Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, dann Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, von 1998 bis 2016 Dienst als Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes (des evangelisch-lutherischen Diasporawerks) in Erlangen, seit April 2016 im Ruhestand.]


[i] Sehr merkwürdig, dass empfohlen wird, vielleicht den Text nur bis V. 8 zu beachten. Zwischen den VV. 8 und 9 besteht aber ein immenser Zusammenhang! Erst ab V. 9 wird die besondere Herausforderung wirklich deutlich! Ich vermute, dass die Eingrenzung auf die VV. 1-8 etwas damit zu tun hat, dass die Auswahl von Jes 6 für das Trinitatisfest ursprünglich wegen des dreimaligen «Qadoš» / „Heilig“ erfolgte.

[ii] Die Datierung dieser Vision ist „als »offizielles« Jahresdatum gemeint, dem wie auf Vertragsdokumenten auch eine gewisse Funktion der Beglaubigung zukommt“ (E. Jenni: Jesajas Berufung in der neueren Forschung, ThZ 15, 1959, 321-339, Zitat: 329). Die Datierung führt also in das Jahr 734 v.Chr.

[iii] Hier steht wirklich „Herr“, hebräisch: «’Adonaj»!

[iv] Hier ist nicht von Schleppen die Rede – gegen die „BasisBibel“ von 2021 –, sondern vom unteren Rand des Obergewands – so schon die Revision der Luther-Bibel von 1903.

[v] Die Wiederholung unterstreicht die Tatsache der sechs Flügel (O. Keel: Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4, SBS 84/85, Stuttgart 1977, S. 112 und Anm. 219 und 220).

[vi] Im Hebräischen steht der Begriff für „Füße / Beine“. Das ist wohl ein Euphemismus. Ich habe gelernt, dass die Geschlechtsteile gemeint seien.

[vii] Im allgemeinen Verständnis dominiert die Übersetzung der Septuaginta: „Voll ist die ganze Erde seiner Herrlichkeit“.

[viii] Hier steht wirklich „der König“, hebräisch: «Ham-Mäläch».

[ix] Hier steht wieder «’Adonaj».

[x] Vgl. die antiken Textzeugen, z.B. die Jesaja-Rolle in Qumran.

[xi] Diese Aussage wird sehr verschieden verstanden: Einmal wird die Wirkung des „dass es nicht“ bis hierher gezogen: „und (sie) sich nicht bekehren und genesen“ (Lutherbibel, revidiert 2017). Oder die beiden letzten Hinweise werden als Anfang einer positiven Aussage verstanden: „umkehren und Genesung würde ihm!“ (Bücher der Kündung, Verdeutschung von Martin Buber und Franz Rosenzweig, Stuttgart 1992).

[xii] Ausgewirkt hat sich hier auch, dass bei der Übersetzung ins Griechische, bei der Erarbeitung der Septuaginta, die Worte „Wurzelstock, ein heiliger Same“ vielleicht übersehen worden waren, sie stehen jedenfalls nicht in der Septuaginta (vgl. Septuaginta Deutsch, Erläuterungen und Kommentare II, Psalmen bis Daniel, Stuttgart 2011, S. 2520).

[xiii] Vgl. meine Meditation zum Text Jesaja 54,7-10 zum Sonntag Lätare, 19.03.2023, für die Predigtwerkstatt des Lutherkonvents der Evangelischen Kirche im Rheinland.

[xiv] Hierbei handelt es sich um meine Übersetzung aus dem Englischen / Amerikanischen.

[xv] Vgl. hierzu die Übersetzung der Septuaginta. Sie hat zusätzlich den Begriff „auf das Land“.

[xvi] Hierzu verweise ich auf meinen Aufsatz: „Gottesgericht oder Selbstzerstörung? Wie ist ein verbindliches Zeugnis ökumenischer Theologie angesichts der ökologischen Herausforderung zu begründen? Eine Reflexion an Hand von Hosea 4,1-3“ in: Veritas et communicatio. Ökumenische Theologie auf der Suche nach einem verbindlichen Zeugnis, FS Ulrich Kühn, hg. von Heiko Franke, Thomas Krobath, Matthias Petzoldt und Wolfgang Pfüller, Göttingen 1992, S. 321-331.

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