Johannes 10, 11-16 (27-30)

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Johannes 10, 11-16 (27-30)

Wir befinden uns in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten. Zwischen Auferstehung
und Himmelfahrt. Die Zeit, wo uns die Auferstehung unter die Haut gehen
soll. Uns lehren soll, die Welt um uns mit den Augen des Auferstandenen
zu sehen, die Welt mit den Händen des Auferstandenen zu spüren
und zu fühlen. Wir sollen mit der Welt um uns mit den Worten des
Auferstandenen reden. Deshalb ist die Zeit nach Ostern voll von Texten,
die von der Formgebundenheit der Menschen an Christus sprechen. Eines
dieser starken Bilder ist das Bild vom Verhältnis zwischen den
Schafen und ihrem Hirten.

Bevor das Bild ankommt, erklingen die Worte: „Ich bin“. Als
ein Echo aus den alten Worten an Moses am brennenden Dornenbusch. Ich
bin der, der ich bin. Einfach und rätselhaft zugleich. So wie das
Gottesverhältnis. Dann kommt das Bild des Hirten. Der gute Hirte,
der so stark in unserem Bewußtsein steht, daß er fast zu
einem Archetypen geworden ist. Mit der Doppelheit, die einem Archetypen
eigen ist.

Viel verdeckte Macht ist als eine Hirtenfunktion ausgeübt worden.
Das Ausnutzen der Schwächen anderer, Mißbrauch eigener Güte
haben falsche Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Wir haben
es gesehen und sehen es zwischen Liebenden, zwischen Freunden, privat
und öffentlich, auch in der Kirche. Wenn wir das Entscheidende übersehen,
daß Christus der Hirte ist. Nicht wir. Dadurch sind wir davon befreit,
Hirten zu sein – zunächst. Weder mein eigener Drang, andere zu erlösen,
noch deren Bedürfnis nach Nähe und Fürsorge können
mich in die Position des Hirten bringen. Christus ist der gute Hirte.
Er ist es für mich und für den anderen. In bezug auf den anderen
und in bezug auf mich selbst kommt Christus zuerst. Nicht ich bin Hirte
für den anderen – Christus ist Hirte für ihn – und auch für
mich.

Was bedeutet es nun, daß Christus Hirte ist? Wir sehen die Gestalt
des wahren Hirten am besten auf dem Hintergrund seines Gegensatzes, dem
Mietling.

Nun wird der heutige Mietling sich selbst niemals so nennen. Er gibt
sich selbst ganz, meint er von sich selbst. Aber er will etwas dafür.
Denn jemand – die Schafe oder deren Besitzer – sind ihm etwas schuldig.
Kriegt er kein Geld, das ist vielleicht zu primitiv, zumindest braucht
er dann Anerkennung, Aufmerksamkeit, Dankbarkeit, Liebe – von den andern.
Er leitet die Schafe, indem er sie in ihrer Schwäche und Abhängigkeit
festhält – um so deutlicher kann seine Fürsorge dann zum Vorschein
kommen. Er glaubt, daß er etwas zu verlieren hat, und weiß nicht,
daß er bereits das verloren hat, was zu verlieren war – denn das
kann man nicht kaufen oder verkaufen. Er hat sein Leben verloren, als
er zu Ostern Jesus mit zum Tode verurteilte. Da ging das alte Leben zugrunde
– das Leben, das er kontrollieren konnte. Seitdem kam Auferstehung in
das Leben, es gehört nicht mehr dem Menschen, es gehört jetzt
Gott, und man kann es nicht verlangen oder um es feilschen. Der, der
Mietling ist, nennt sich oft Hirte, aber er wird erst entlarvt, wenn
die Gefahr kommt, wenn die Wölfe kommen. Denn er will selbst nicht
verlieren. Er will gerne da sein, aber nicht verlieren. Er kapselt sich
ein – in Abwehr und Schutz – wenn der Wolf kommt.

Der wahre Hirte kommt vom Tode. Dahin hat ihn sein Hirtenauftrag geführt.
Er bekommt nichts dafür. Gott nahm ihm das Leben und ließ es
sein Leben sein. Der wahre Hirte hat seinen Auftrag nicht von den Schafen,
sondern von dem Herrn, der Herr ist über ihn und die Schafe, dem
Herrn der Welt. Der Schöpfer und Herr der Welt hat ihm die Schafe
gegeben und ihm die Vollmacht erteilt, sie zu hüten und zu sammeln.
Der Hirte kennt Gott und Gott kennt ihn. Darin hat er seinen Ursprung.
Sein Leben hängt nicht an der Anerkennung durch die Schafe oder
dem Mangel derselben. Weil er Gott kennt, hütet er seine Herde nicht
allein. Er läßt uns Gott sehen und Gott wiedererkennen in
der Herde, in der wir leben. Denn Jesus kann man nicht mehr sehen, ohne
zugleich Gott mit zu sehen. Durch seine Todesverachtung hat Jesus den
Herrn der Welt selbst zum Hüter der zufälligen Schafsherde
gemacht, in der du und ich leben. So wie er auch Gott in andere Schafsherden
gebracht hat, die wir nicht kennen.

Er hat den Tod heimatlos gemacht, so daß er nicht mehr Gott und
Menschen trennen kann, die Schafe nicht mehr von ihrem Besitzer scheiden
kann.

Wo ist es dann möglich zu sehen, daß Gott selbst Hirte geworden
ist? Das sehen wir an seinem Merkmal. Die Schafsherde, in der du und
ich leben, wird nicht mehr von einem Hirtenhund bewacht, einer soliden
Umzäunung oder einem Stab. All das ist durch ein Merkmal ersetzt.

Ein Brandmal. Das Siegeszeichen des kämpfenden Gottes. Das Zeichen
für meine Person bedeutet, daß ich das schwarze Loch meiner
Unsicherheit nicht mehr mit dem Lob und der Anerkennung anderer zu füllen
brauche – mit dem Lechzen nach der Aufmerksamkeit anderer oder dem Warten
auf Rückzahlung der Dankesschuld. Denn mir ist ein Merkmal eingeprägt,
das mir sagt: Du bist erwählt. Niemand kann mir mehr geben, als
ich schon empfangen habe.

Vielleicht ist das für uns am schwersten zu schlucken – daß ich
vom Herrn der Welt erkannt und gesehen bin. Und je mehr ich fortgebe,
desto mehr empfange ich. Desto deutlicher tritt das Merkmal hervor. Genug,
um mir durchs ganze Leben zu folgen. Denn wir können das Merkmal
selbst nicht sehen, an dem Gott uns erkennt. Niemand kann sich selbst
sehen.

Dennoch ist es möglich, das Merkmal als einen Leitstern zu benutzen
und ihm zu folgen. Wenn es in unsere Herzen eingeschrieben ist – wie
dies geschah, als Jesus den Tod überwand – dann können wir
es als einen Stempel tragen, durch den man die Schafe auseinanderhalten
kann.

Mit diesem Merkmal an sich zu leben bedeutet, daß sich das alltägliche
Grasen verändert. Zuvor erhielten die stärksten Schafe das
beste Futter – für sich selbst. Die Schwachen mußten entweder
zugrunde gehen oder sich der Leitung des Hirten anvertrauen. Jetzt kann
selbst das schwächste Schaf in der Herde großherzig sein und
Platz machen für das Schaf, das neben ihm grast. Und für mich
als eines der Schafe der Herde wird wichtig, die anderen zu kennen. Kann
ich das Merkmal Gottes an mir selbst nicht sehen, so kann ich das Merkmal
der anderen sehen. Und der Umwelt erzählen, was ich sehe.

Durch die Gegenseitigkeit können die Schafe nun füreinander
da sein. Ja, ohne diese Erzählung und den Austausch der verschiedenen
Merkmale Gottes hören das Leben und das Grasen auf. Und das war
ja nicht der Sinn der Übung.

Der Sinn, sagt Jesus, ist der, daß die verstreuten Schafherden,
die von der Existenz der jeweils anderen Herde nichts wissen, in einer
großen Herde versammelt werden, die alle Unterschiede in sich enthält.
Weil zwei und zwei mehr ist als vier. Weil dort, wo die Unterschiede
in demselben Bild zusammengehalten werden und zusammensein können,
dort sind Leben und Energie. Dort können das Böse und die Macht
der Zerstörung nicht genug Nahrung und Sauerstoff erhalten, denn
der Sauerstoff ist dort, wo das Leben strömt.

Diese zerstreute Herde soll nach Gottes Willen in seiner Ewigkeit vereint
werden. Amen.

 

Pfarrer Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 – 39 18 30 39
E-Mail: bia@km.dk

 

 

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