Johannes 15

Johannes 15

I

Vor einigen Jahren erschien ein Buch über Bäume in Dänemark. Über Sagen und Aberglauben, der sich mit heiligen Bäumen überall in Dänemark verbindet. Es gibt noch lebende frische Bäume, aber auch verdorrte Baumstämme und knorrige Baumstumpfen, von denen die Menschen der Gegend erzählen können. Erzählungen von Leben und Tod, Krankheit und Heilung. So gibt es einen Baum, den man am Besten anläßlich der Empfängnis besucht. Es gibt einen Baum in Südseeland – die „Lappeneiche“ – der gegen Krankheiten jeder Art schützt. Da steht ein Dornenbaum an einem Hohlweg zur Warnung vor den Verfluchung der Gegend durch die Adelsfrau. Da liegt eine Esche in einem See zur Erinnerung an die verbotene Liebe, die in Tod und Unglück endete. Ein anderer Liebesbaum mit eingeritzten Herzen erzählt von Glück und Segen bei der Liebe. Jeder Ort hat seinen Baum. Jede Zeit ihren Baum. Nicht ohne Grund sind unsere wichtigsten Erfahrungen mit dem Baum verbunden. Der Baum schafft Erzählung und Mythos.

Ich glaube, daß wir alle unter den heiligen Baum wollen. Wo ich auch war, immer war da ein Baum in der Mitte. Auf dem Hofe meiner Eltern stand ein Baum, der Baum, der auf allen Höfen des Dorfes stand. Wenn mein Großvater meinen Bruder und mich zu den Sommerferien holte, führen wir immer durch einen Wald, wo wir zu einem großen Baum fuhren, um zu sehen, ob wir ihn umringen konnten, indem wir einander in die Hand nahmen. War der Baum dicker geworden? Oder hatten wir längere Arme bekommen …

Als sich im Lesesaal der Universität Aarhus saß, konnten wir Studenten, wenn wir den Blick vom Buche hoben, auf das Relief sehen am Hauptgebäude der Universität, das den Baum er Erkenntnis darstellte. Alle Wissenschaften der Universität verzweigten sich wie Äste an einem Stamm.

Vor der Kirche stand ein Baum. Unter den wurden die Kinder getragen, ehe sie mit dem Wasser des Lebens getauft wurden. Und der Sarg mit dem Verstorbenen wurde unter dem Baum abgestellt, ehe er auf den Friedhof getragen wurde.

Der Baum hat mich begleitet. Der Baum ist Teil meiner Landschaft. Er steht an jedem Ort in der Mitte und hält alles zusammen: die Universität, die Familie, die Generationen, das Dorf, die Gemeinschaft. Der Baum vermittelt ein Gefühl, daß die Dinge zusammenhängen, organisch zusammenhängen. Wenn man sich geborgen fühlt und wenn keine Geborgenheit da ist. Der Baum segnet – deshalb wollen wir unter ihn.

Wie es in Grundtvigs berühmten Morgenlied heißt:

Die Stunden laß hier zu Gottes Ehr‘
wie Bächlein durch Wiesen rinnen,
bis fröhlich sie unterm Lindengrün
den heimischen Lauf beginnen.

Die Stunde, der Tag, das Jahr hängen zusammen. Da ist Kontinuität, und Zusammenhang.

Aber dann ist da auch der andere Baum, von dem wir auch singen, der Baum des Lebens. Der Baum, der aus dem Stumpf erwächst, dem angeschnittenen Stumpf. Hier ist keine Kontinuität und kein Zusammenhang. Die Zeit ist zerbrochen, die Tage wurden fragmentarisch. Jahre ohne roten Faden. Und doch: Der Lebensbaum wächst aus der Wurzel des Kreuzes.

Es beginnt mit einem Baum. Es geht weiter mit einem Baum. Und es endet mit einem Baum.

II

Am Anfang waren zwei Bäume. Sie standen im Garten des Paradieses. In der Mitte. Der heiligen Mitte. Anziehend und abstoßend zugleich, verlockend und erschreckend. Es waren Bäume des Segens. Und von dem einen wurde gegessen, und die Bäume verwandelten sich aus Bäumen des Lebens und des Segens in Bäume des Todes und der Verdammnis. Darum gibt es nun den Baum wie alle mythologischen Bäume überall in Dänemark in zwei Gestalten. Es gibt den Baum des Segens und des Fluchs. Den Baum der Pest und der Heilung, der Liebe wie auch des Unglücks und Todes. Und den Liebesbaum für Glück und Segen.

Als sich Gott Moses zu erkennen gab im Dornenbusch in der Wüste, identifizierte er sich mit den Worten: Ich bin. Und auf die Frage des Moses, ob er nicht mehr sagen könnte, fügte Gott hinzu: Ich bin, der ich bin. Der brennende Dornenbusch. Er enthielt das verzehrende Feuer und die anziehende Wärme und das Licht.

So war es am Anfang mit dem Baum. Der Baum, der gefährlich ist und abschreckend. Der Baum, der lockt und fasziniert.

III

Aber in der Mitte der Zeit pflanzte Gott einen anderen Baum. Den Christusbaum. Einen ganz anderen Baum als den Busch mit dem faszinierenden und dennoch abschreckenden Namen: Ich bin. Ein Weinstock ist der Christusbaum. Und hiermit macht der Evangelist Johannes das neue Christusbild geltend. Gott ist nicht mehr mit dem brennenden Dornenbusch zu vergleichen – als ein verzehrendes Feuer. Sondern vielmehr mit einem Baum, der im Garten des Paradieses stand vor der Verdammnis, dem Baum des Lebens mit ewiger Frucht.

Ich bin der wahre Weinstock, sagt Jesus von sich selbst zu seinen Jüngern. Er spricht davon, daß er der Stamm ist, sie sind die Zweige. Von der Erde durch die Wurzeln strömt der Saft in den Stamm. Und vom Stamm in die Zweige. Der Zweig kann die Säfte nicht selbst der Erde entnehmen. Sie müssen durch den Stamm. In der organischen Verbundenheit zwischen der Erde, dem Stamm und den Zweigen, wo alles strömt, liegt eine Schleuse. Und wenn die Energie, die Kräfte aus der Erde, nicht durch diese Schleuse gelangen, dann geschieht keine Verwandlung. Nur durch den Stamm wird das Wasser in nährende Stoffe verwandelt. Wir sind die Zweige, die Leben und Kraft durch den Stamm erhalten. Die Säfte aus dem Stamm gehen in den Zweig und halten ihn am Leben. Christus kann unsere Kräfte und Energien in Leben und Glück verwandeln. Christentum ist Stoffwechsel. Stoffwechsel zwischen etwas anderem und uns.

IV

Als wir getauft wurden, wurden wir als Zweige in einen Stamm eingepflanzt. Und aus diesem Stamm erhalten wir Kraft und Nährung. Wir wurden eingepflanzt in eine Menschlichkeit, ohne die Leben kein Ziel und keinen Zweck hat. Wir können vielleicht nicht immer den Sinn in unserem Leben erspähen. Aber der Baum bleibt stehen als ein Zeichen für die Heiligkeit und den Segen des Lebens.

Wenn wir zum Abendmahl gehen, werden wir daran erinnert, daß Leben Stoffwechsel ist. Wir erhalten Nahrung für unseren Weg und unser Tun. Abendmahl ist Wegzehrung, die uns auf der Reise stärken kann. Abendmahl ist die Frucht vom Baum des Lebens. Wir nehmen den Wein in unserem Körper auf und werden gestärkt. Gemeinsam mit den anderen Abendmahlsgästen. Man kann sich einsam trinken, aber man kann sich auch in eine Gemeinschaft trinken.

Christentum ist Stoffwechsel. Eingehen in eine Gemeinschaft mit Christus und seinen Mitmenschen. Ich empfange und gebe, ich empfange und gebe weiter. Leben ist Kreislauf, Verbundenheit, Austausch.

Wir wollen unter den heiligen Baum. Damit wir die Heiligkeit Gottes spüren. Um gesegnet zu werden. Amen.

Pfarrer Jørgen Demant
Hjortekærsvej 74
DK-45 88 40 Lyngby
Tel.: ++ 45 – 45 88 40 75
email: j.demant@wanadoo.dk

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