Johannes 19,30

Johannes 19,30

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Worte vom
Kreuz
Predigtreihe für die Passionszeit 2000
Karfreitag

21.4.2000
Johannes 19,30

Wolfgang
Huber / Rolf Wischnath


ES IST VOLLBRACHT!

Predigt zu Karfreitag 2000
über
Johannes 19, 30

[Die Predigt geht davon aus, dass als Evangelium
die Kreuzigungsgeschichte nach Johannes 19, 16b – 30 verlesen wird.]

„Danach, als Jesus wusste, dass schon
alles vollbracht war, spricht er …… : Es ist vollbracht! und neigte das
Haupt und verschied.“ (Johannes 19, 30)

I

,,Es ist vollbracht“ – mit diesem Wort endet die
irdische Geschichte Jesu. Ein einziges Wort ist es im griechischen Urtext des
Neuen Testamentes. Man könnte es auch übersetzen mit:
„Vollendet!“ Oder: „Am Ziel!“ Oder: „Fertig! –
Fix und fertig!“ Doch was ist vollbracht? Was ist vollendet? Wer ist am
Ziel? Was ist fertig? Wer ist fix und fertig?

Offenkundig ist: Am Ziel ist der Plan derer, die
Jesus beseitigen wollten. Sie haben ihn erledigt, die feigen Verräter. Ihn
haben sie fix und fertig gemacht, die Intriganten. Sie haben ihn umgebracht,
die Mörder. Ihr Mord ist vollbracht. Die hinterhältige List ist zum
Ziel gekommen. Aus und vorbei ist es mit dem, den sie nicht ertragen konnten.

Und doch sagt das eine Wort des Erfolgs keiner von
den Häschern und Mördern. Er sagt es selber: der, der
umgebracht wird. Abgebrochen ist sein Weg. Nach menschlichem Maß ist er
am Ende. Doch auf geheimnisvolle Weise kommt sein Weg zugleich ans Ziel. Was
wie tiefste Niederlage erscheint, ist in Wahrheit die Vollendung. Wie beides
zusammenhängt, Niederlage und Sieg, Tod und Vollendung, Ende und Anfang
ist das Thema der Darstellung von Leiden und Tod Jesu, die das
Johannesevangelium gibt.

Zuerst und vor allem gilt, was jeder sehen kann:
Jesu Tod ist eine Niederlage. Er hängt am Kreuz auf Golgatha. Wirklich und
nicht zum Schein. Selbst muss er sein Kreuz dorthin tragen. Er leidet unter der
Last des Kreuzes. Und doch ist auch das Andere zu sehen: Er hat die Kraft, das
Kreuz selbst zu tragen. In allem Widersinn hat sein Weg zum Hinrichtungsort
darum dennoch etwas Ermutigendes. Er nimmt selbst die Last des Kreuzes auf
sich; dass er das kann, hat schon viele aufgerichtet. Auch sie nahmen ihr Kreuz
auf sich und folgten ihm nach. Noch im Leiden aufrecht zu gehen, dazu hat Jesus
schon vielen die Kraft gegeben. Er verklärt das Leiden nicht; sondern er
hilft, sich ihm nicht zu unterwerfen. Auch das ist vollbracht: Das Leiden hat
nicht das letzte Wort.

Ganz gegen ihren Willen müssen auch die das
anerkennen, die ihm übel wollen. In drei Sprachen bestätigen sie es
auf der Kreuzesinschrift. Der da hingerichtet wird, ist wirklich ein König
– ein König nicht nur der Juden, sondern der ganzen Welt. Gegen sein
eigenes Wollen wird Pilatus zum Zeugen der neuen Herrschaft, die in Jesus ihren
Anfang nimmt. Es ist die Herrschaft der Liebe. Auch das ist vollbracht: Die
Liebe hält dem Tod stand.

Gedankenlos sitzen die Soldaten dabei.
Eigensüchtig schauen sie nur nach ihrem eigenen Vorteil. Dass sie die
Kleider Jesu untereinander aufteilen, setzt die Erniedrigung und Schmach nur
fort. Aber auch darin erfüllt sich die Schrift: ,,Sie haben meine Kleider
unter sich geteilt und über mein Gewand das Los geworfen.“ Auch noch die
Gedankenlosen und Eigensüchtigen werden zu Zeugen dessen, was sich hier
vollzieht: Gottes Barmherzigkeit, die das, was sie in Fülle hat, teilt,
wird in der Welt anschaulich. Auch das ist vollbracht: Die Barmherzigkeit
überwindet den Eigennutz.

Der Tod bricht sich Bahn, menschlich verstanden
ist er der Abbruch aller Beziehungen. Denn aus der Perspektive, die uns als
Menschen zugänglich ist, bedeutet der Tod vollständige
Beziehungslosigkeit. Aber noch im Sterben stiftet Jesus neue Beziehungen. Eine
neue Gemeinschaft entsteht. Jesu Mutter und sein Jünger stehen nicht nur
nebeneinander unter dem Kreuz; sie stehen nun füreinander ein. Dies ist
ein Tod, der nicht Beziehungslosigkeit zurücklässt, sondern
Beziehungen schafft. Auch das ist vollbracht: Der Tod hat nicht länger die
Kraft, alle Beziehungen zu zerstören.

,,Mich dürstet!“ In diesen zwei vorletzten
Worten wird alles Leiden, wird die ganze Erniedrigung und alle Qual dieser
Hinrichtung noch einmal zusammengefasst. Der Schöpfer lebendigen Wassers
sehnt sich nach einem Getränk. Aber auch darin erfüllt sich der Wille
Gottes. Und deshalb kann er sagen: „Es ist vollbracht.“ Sein Weg ist
am Ziel. Was die Menschen als Erniedrigung geplant hatten, wird zur
Erhöhung. Das, womit sie ihn quälen wollten, wird zum Ursprung der
Liebe. Das Ende, das sie ihm bereiten wollten, wird ein neuer Anfang: Es ist
vollbracht.

II

Deshalb, liebe Gemeinde, hat der Karfreitag
für uns eine so herausgehobene Bedeutung. Der Karfreitag
vergegenwärtigt den Kreuzestod Jesu. Er verherrlicht nicht das Leiden, wie
manche Kritiker des christlichen Glaubens meinen. Sondern er verbürgt die
Gegenwart der göttlichen Liebe in der Welt, ja den Sieg der Liebe Gottes
über die Gemeinheit der Menschen:

Vollbracht ist, was im Anfang des
Johannesevangeliums beschrieben wird: „Das Wort ward Fleisch und wohnte
unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des
eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Vollbracht ist, was
an anderer Stelle des Johannesevangeliums so beschrieben wird: „Also hat
Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an
ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Vollbracht
ist die Tat der Versöhnung. Vollbracht ist, was der Täufer Johannes
sieht und sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das hinwegnimmt die
Sünde der Welt.“ Vollbracht ist der Sieg der Liebe Gottes über
die Sünde der Welt. Gott lässt aus dem Bösen Gutes entstehen.

In Dietrich Bonhoeffers Glaubensbekenntnis, in
seinen Sätzen über das Walten Gottes in der Geschichte, die er an der
Wende zum Jahr 1943 aufschrieb, findet sich auch der Satz: „1ch glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann
und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen
lassen.“ Deshalb feiern wir den Karfreitag, um uns den Tod Jesu zum Besten
dienen zu lassen. Zum Besten dienen lassen wir usn den Tod Jesu, indem wir
hören und wahrnehmen, glauben und gelten lassen ,,Es ist vollbracht“

Diese Worte tauchen das grausame Geschehen auf
Golgatha in einen eigentümlich hellen Schein. Sie nehmen ihm die
Zweideutigkeit. Die Menschen gedachten, es böse zu machen. Aber es soll
uns zum Guten dienen. An uns ist es, das Leiden und Sterben Jesu als Geschenk
der Versöhnung nun wahrzunehmen und gelten zu lassen. Wohlgemerkt, wir
müssen das Kreuz Jesu Christi nicht erst zur Geltung bringen. Nicht wir
sind es, von denen die Wahrheit des Kreuzes abhängt, die für seine
Wahrheit einstehen. Niemand von uns muss diesen Tod noch einmal sterben. An uns
ist es allenfalls, die Wahrheit des Kreuzes wahrzunehmen und zu glauben,
Zeichen dafür zu setzen, dass wir Jesu letztes Wort gehört haben und
ihm nun entsprechen wollen: Es ist vollbracht!

III

Wie kann das geschehen?

Achten wir noch einmal auf die
Kreuzigungsgeschichte nach Johannes: Dem äußeren Anschein nach
vollzieht sich auf dem Hügel Golgatha die äußerste
Gottlosigkeit. Er, der Gottes Nähe verbürgt, wird
hinausgestoßen. Aber Gott selbst nimmt das in Jesus auf sich. Er selbst
überwindet die Gottlosigkeit, die wir gegen ihn aufbieten. Keine Schuld
und kein Versagen kann sich jetzt zwischen uns und Gott stellen. Das wird am
Kreuz sichtbar. Es durchkreuzt all die Mauern, die wir gegen Gott aufrichten.
Es durchkreuzt unsere Selbstsucht. Wir werden hineingenommen in Gottes Liebe.
Unsere Angst vor dem Tod verliert ihre Schrecken. Leiden und Tod sind nicht
aufgehoben, aber sie sind von Gott umschlossen. Denn einer hat für uns im
Tod gesagt: ,,Es ist vollbracht“.

Dieses Geschehen glauben und gelten lassen,
würde heißen, keinen Menschen mehr als einen Gottlosen zu betrachten
und abzuschreiben. Entscheidend ist nicht, ob einer glaubt oder nicht glaubt,
entscheidend ist nicht, ob einer die Wahrheit des Kreuzes wahrnimmt oder nicht
– entscheidend für das Menschsein ist: Niemand kann für sich
aufheben und durchstreichen, dass der Gekreuzigte auch für ihn gestorben
ist; auch meine und deine Gottlosigkeit ist hineingenommen in die Liebe des
Vaters zum Sünder. „Es ist vollbracht.“ Das heißt: jeder
Mensch ist einer, für den Christus gestorben ist – auch für dich
und mich.

Wer das gelten lässt, wird zum Beispiel
keinem Menschen den christlichen Glauben aufnötigen oder gar aufzwingen
wollen. Wir können und dürfen, wir sollen und müssen den Glauben
an den Gekreuzigten unseren Mitmenschen bezeugen in der Freiheit der
Geretteten. Die Sünde kann uns nicht mehr trennen von der Liebe Gottes. So
werden auch wir keinen unserer Mitmenschen so behandeln, als sei er von der
Liebe Gottes getrennt. Christen, die das glauben und wissen, halten daran fest,
dass alle Menschen als unverwechselbare Kinder Gottes geachtet werden, weil der
Gekreuzigte auch für sie sein Leben gegeben hat. Kein Mensch ist darum mit
seinen Taten oder Untaten, mit seiner Leistung oder seinen Fehlleistungen, mit
seinem Glauben oder Unglauben gleichzusetzen. Das ist der Kern aller
Menschlichkeit, für die wir Christen auch in Politik und Gesellschaft
einstehen.

Um der Liebe willen geschieht das, was am Kreuz
geschieht. „Es ist vollbracht“, sagt der Gekreuzigte. Ob das viele
gehört haben? Dass er es laut geschrieen hat, schreibt der Evangelist
Johannes nicht. Leise kommt die Liebe auf uns zu und bittet um
Einverständnis. Sie verändert die Welt anders, als es durch die
lauten Taten geschieht. Ein fremder Ton kommt in unsere Welt, in der sich so
viel verändert, aber so wenig vollendet. Ein Echo findet dieser Ton dort,
wo wir der Selbstsucht nicht das letzte Wort lassen, sondern uns für
andere Menschen öffnen, zu ihnen Beziehungen suchen, an ihrem Leiden
teilnehmen und mit ihnen neue Wege gehen. Das geschieht meist nicht durch
spektakuläre, öffentlichkeitswirksame Taten; sondern es geschieht in
unauffälligem, alltäglichein Handeln: in der Barmherzigkeit der
Liebe, in der Zuneigung derer, die teilhaben an der Zuneigung des Gekreuzigten.

Zu solchem Handeln ermutigt das Kreuz. Denn es ist
das Zeichen göttlicher Liebe in dieser Welt. „Es ist
vollbracht!“ So ist das Kreuz unübertroffenes und
unüberbietbares Zeichen leidender Solidarität, stellvertretenden
Sterbens. Christen halten sich an das Kreuz, das Zeichen göttlicher Liebe
in unserer Welt. Nun ist es uns anvertraut. Nicht müssen wir das Kreuz in
Geltung setzen, aber an uns liegt es, ob das Kreuz auch in unserer Zeit einen
Ort behält und wahrgenommen wird. An uns liegt es, ob das Kreuz in die
Kirchen eingesperrt wird oder ob es auch in der Öffentlichkeit zu erkennen
ist. Oft ist es nur schwer zu erkennen in einer Welt, in der scheinbar nur noch
die Selbstsucht herrscht und vielen allein der Markt noch als Gott gilt. Wo das
geschieht, verkommt das Kreuz leicht zur bloßen Dekoration. Man kann
Kreuze ja auch aus Gold schmieden. Aber dass es nur noch als Schmuckstück
verwendet wird und ausschließlich zur Dekoration dient, können wir
als Christen nicht zulassen. Dafür, dass es solchen Missbrauch
durchkreuzt, müssen wir selbst eintreten. Dass Liebe und Solidarität
eine Chance behalten, hängt auch an uns. Die Kälte in der
Gesellschaft, aber auch das Zerbrechen von Beziehungen unter Menschen, die uns
nahe sind, kann uns nicht gleichgültig lassen. Unser Mitleiden, unsere
Beteiligung, unsere Einmischung bleiben nötig, im Kleinen wie im
Großen. Und weil gilt „Es ist vollbracht!“, gibt es keine
aussichtslosen Fälle und Verhältnisse. Der Glaube an den Gekreuzigten
ist Grund unbedingter Zuversicht – in allen Fällen. –

IV

„Es ist vollbracht!“ Das letzte Wort des
gekreuzigten Jesus bekommt seinen tiefsten Sinn, wenn wir es verbinden mit dem
Wort Johannes des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt
die Sünde der Welt.“. Auf dem Kreuzigungbild des Isenheimer Altars
malt Mathis der Maler, Matthias Grünewald, den Täufer Johannes mit
einem übergroßen Zeigefinger, mit dem er unter dem Kreuz stehend auf
den sterbenden Jesus zeigt und zu Füßen spielt ein Lamm, dessen Blut
in einen Kelch rinnt. So verbildlicht der große Maler das Geheimnis des
letzten Wortes Jesu. So – will er sagen und zeigen –, so wird die
Sünde der Welt hinweggenommen. Wirklich? Ist die Sünde der Welt
„hinweggenommen“? Darf man auch davon sagen: „Es ist
vollbracht!“? Martin Luther hat es gewagt, dieses letzte und tiefste
Geheimnis des Kreuzes auch in Worte zu fassen:

„Ich finde, dass jener Sünder –
nämlich der gekreuzigte Jesus Christus – die Sünden aller
Menschen auf sich nimmt, und weiter sonst sehe ich keine Sünde,
außer bei ihm. Nachdem dies geschehen ist, ist die ganze Welt gereinigt
und erlöst von allen Sünden, also auch befreit vom Tod und allen
Übeln. Deshalb sind die Sünden in Wahrheit nicht dort, wo sie gesehen
und gefühlt werden. Denn nach der Theologie des Kreuzes ist keine
Sünde, kein Tod, kein Fluch mehr in der Welt, sondern in Christus, der das
Lamm Gottes ist, das die Sünden der Welt trägt. Dagegen sind nach der
Weltweisheit und nach dem, was unsere Augen sehen, Sünde, Tod etc.
nirgendwo als in der Welt, im Fleisch, in den Sündern ….. Die wahre
Theologie aber lehrt, dass keine Sünde mehr in der Welt ist, weil
Christus, auf den der Vater die Sünden der ganzen Welt geworfen hat, sie
an seinem Leibe überwunden, zerstört und getötet hat.“

Gott schenke uns, dass wir das glauben können
– trotz allem, was aus unseren Erfahrungen, vor unseren Augen und Ohren
dagegenspricht und -schreit. Und Gott schenke uns und der Welt die Schau dieser
Wahrheit des Kreuzes, wenn der Gekreuzigte wiederkommt in seiner Herrlichkeit
– zur Erlösung der Welt – und alle es dann noch einmal
hören werden, vernehmlich und unüberhörbar: Es ist vollbracht!.
Amen.

Verfasser:

Bischof Dr. Wolfgang Huber, Georgenkirchstr.
69-70, 10249 Berlin (Telefon 030 24344294)

Generalsuperintendent Dr. Rolf Wischnath,
Seminarstraße 38, 03044 Cottbus (Tel. 0355 – 23369)

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